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Rechtsstaat addio?

Die Gefängnisse platzen aus allen Nähten, die Gerichte brauchen selbst für Bagatellprozesse Jahre. Italiens Justizapparat ist völlig überlastet und im europäischen Vergleich ausgesprochen langsam. Das ärgert die Bürger, viel schlimmer noch, es erschüttert das Vertrauen in den Rechtstaat. Es besteht Reformbedarf, doch was Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi unter "Justizreform" versteht, geißeln viele als Eingriff in die Unabhängigkeit der Dritten Gewalt im Staat.

Mit Reportagen von Kirstin Hausen, Redakteur am Mikrofon: Norbert Weber |
    Ein Staatsanwalt über die negativen Auswirkungen der italienischen Justizreform:

    "Die Prozessdauer hat sich noch verlängert, Recht gesprochen wird immer später und oft auch gar nicht mehr, weil die Straftat dann verjährt ist. Dass die Verjährungsfristen verkürzt wurden, während die Prozesse in Italien immer länger dauern, zeigt doch, dass man im Grunde das Gegenteil von dem erreichen will, was nötig wäre.""

    Und ein Gerichtsreporter über die Profiteure der Justizreform.

    "Bei Prozessen gegen Politiker führen die Anwälte tausend Hindernisse an. Solche Prozesse dauern unendlich lang, besonders wenn der Angeklagte auch noch Ministerpräsident von Italien ist."

    Gesichter Europas: Rechtsstaat addio? - Berlusconi und die italienische Justiz. Mit Reportagen von Kirstin Hausen. Am Mikrofon begrüßt Sie Norbert Weber.

    "Er besitzt keine Ethik, keine moralischen Prinzipien. Er verkörpert die neue faschistische Macht, die regressiv ist, ungebildet und ohne historische Kenntnisse. In diesem Land sind humane und zivile Werte verloren gegangen. Das Land ist das Opfer dessen, was Carlo Levi den ewigen italienischen Faschismus nannte."

    Dies schrieb der 1933 in Sizilien geborene und heute in Mailand lebende italienische Schriftsteller Vincenzo Consolo im Januar 2002 in der Tageszeitung "La Repubblica" über den italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi.

    Seitdem der Medienunternehmer und reichste Mann Italiens Anfang der 90er Jahre die politische Bühne betrat, sind die Italiener tief gespalten. Für die einen ist er ein Krimineller, für die anderen ein Opfer der Justiz. Rund ein halbes Dutzend Prozesse hat es gegen ihn schon gegeben, unter anderem wegen Bestechung, wegen Betrugs, Steuerhinterziehung und illegaler Parteispenden. Und obwohl er meistens nicht freigesprochen wurde, schaffte es Berlusconi immer wieder strafrechtlich unbeschadet aus diesen Prozessen hervorzugehen, indem er die Prozesse verzögerte, die Verjährungsfristen verkürzte und Gesetze zu seinen Gunsten änderte.

    Recht und Gerechtigkeit - das ist nicht immer ein- und dasselbe. Manchmal sind es sogar zwei ganz verschiedene Dinge. Wie in jedem Rechtssystem geht es auch im italienischen darum, anhand von Paragrafen und Gesetzesbestimmungen Recht zu sprechen. Erlittenes Unrecht soll wieder gutgemacht und der soziale Frieden wieder hergestellt werden. Im Idealfall klappt das.

    Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Rechtssicherheit. Die Bürger müssen darauf vertrauen können, dass sie bei erlittenem Unrecht vor Gericht ziehen und Gerechtigkeit einfordern können. Unabhängige Richter werden den Fall dann prüfen und - so die Hoffnung - eine gerechte Entscheidung fällen. Was aber, wenn diese Entscheidung Jahre auf sich warten lässt? Wenn das Vertrauen der Bürger in die Justiz verloren geht und die Drohung mit einer juristischen Klage an Wirkung verliert?


    Die langsamen Mühlen der italienischen Justiz - Eine Blumenhändlerin und die Gerechtigkeit
    Sechs rote Rosen, vier blassgelbe und etwas Schleierkraut, fertig ist der Strauß für den Herrn mit Hut. Er wird ihn nach der Arbeit seiner Frau mitbringen. Sorgfältig wickelt Cristina Nava die Blumen in Zellophanpapier.

    Ein Meter mal ein Meter ist er groß, der Blumenstand an der Straßenkreuzung Viale Piave/Corso Buones Aires in Mailand. Eigentlich ist es gar kein Stand, sondern ein Häuschen: mit Dach, Fenstern und einer Tür. Bloß: Es pfeift überall der Wind durch.

    "Ich habe nicht genug Geld, um den Schaden auf meine Rechnung zu reparieren,"

    sagt Cristina Nava, die Blumenhändlerin. Die schlanke, dunkelhaarige Frau zeigt auf die zersplitterten Scheiben, den eingedrückten Stützpfeiler und das Loch in der Außenwand. Ein Schaden von 18.000 Euro. Ein Auto war direkt in das Häuschen gerast. Zum Glück standen sie und ihr Mann da gerade abseits und waren mit dem Ausladen neuer Waren beschäftigt.

    "Das Standgerüst hat gehalten, alles andere haben wir notdürftig geklebt."

    Ein Blick in die rechte Ecke, wo der Stützpfeiler mit braunem Klebeband umwickelt ist. Sehr behelfsmäßig. So als sei der Unfall gestern passiert. Dabei liegt er Jahre zurück. Aber der Prozess gegen den Autofahrer läuft noch. Anfang 2009 soll das Urteil gesprochen werden. Erst dann wird das Ehepaar Nava einen rechtlichen Anspruch auf Schadenersatz haben.

    " Ich weiß wirklich nicht, warum man das nicht in kürzerer Zeit regeln konnte, fast fünf Jahre geht das jetzt schon. Alle, die unseren Stand sehen und denen wir unsere Geschichte erzählen, können es nicht glauben, dass wir nach all den Jahren noch keinen Cent bekommen haben."

    Cristina Nava schützt sich mit Wollmütze und Daunenjacke vor der Kälte.

    Die Füße stecken in Winterstiefeln. Handschuhe trägt sie keine, damit kann sie keine anständigen Schleifen binden, sagt sie, und Schleifen müssen sein. Rote Schleifen sind es jetzt in der Vorweihnachtszeit. Die 48-Jährige zupft an den Tannenzweigen der Gestecke. 25 Euro kosten sie pro Stück. Dafür bekommt man auch schon einen Blumenstrauß, der etwas her macht.

    "Wir haben wunderschöne Buketts, die wir selbst zusammenstellen. Diese Sträuße kann sich jeder leisten und sie sehen hübsch aus."

    Cristinas Blick wandert stolz über die verschiedenen Rosen, die Nelken und Hyazinthen. Ihre dunkelbraunen Augen leuchten. Sie liebt ihre Arbeit.

    "Wenn ich daran denke, dass es ja auch noch schlimmer hätte kommen können! Wenn der ganze Stand weggerissen worden wäre, dann wären wir pleitegegangen. Und die Arbeit der letzten Jahre wäre für die Katz gewesen. Wir sprechen hier über eine wirtschaftliche Grundlage, die wir uns mühevoll aufgebaut haben und es kann doch nicht angehen, dass wir die verlieren, weil jemand anders einen Fehler gemacht hat."

    Die Schuldfrage war schnell geklärt, dank der Zeugen, die beschrieben, wie der Autofahrer die Kontrolle über seinen Wagen verlor und gegen das Blumenhäuschen prallte. Aber der Verteidiger des Angeklagten brachte mit seinen Einwürfen den Prozess immer wieder ins Stocken. Cristina Nava wischt sich mit dem Handrücken über dass Gesicht. Ihre freundlich blickenden Augen werden hart.

    "Von Politik verstehe ich nichts, aber eines muss ich sagen: Politiker, tut endlich etwas, um die Prozesse abzukürzen. Sie dauern einfach viel zu lange!"



    "Den Mitschuldigen
    ihre Mitschuld
    predigen
    so
    dass sie überzeugt sind
    ist schwer

    denn sie haben immer
    die einleuchtendsten Beweise
    für ihre völlige
    oder
    (denn sie wollen
    nicht selbstgerecht sein)

    so gut wie völlige Unschuld
    Sie kennen sich
    weil sie in alles
    genauestens eingeweiht sind
    auch viel besser aus
    als zum Beispiel der Fremde
    der sich herausnimmt
    zu ihnen
    von Mitschuld zu sprechen

    Um wirklich
    so überzeugend
    wie sie
    seine Unschuld
    beweisen zu können
    muss einer schon
    mitschuldig sein"

    Drei Verfahren waren noch anhängig, als Silvio Berlusconi im April dieses Jahres erneut an die Macht gewählt wurde. Die Staatsanwaltschaft in Mailand warf ihm vor, die Transaktionen von Filmrechten über diverse Tarnfirmen in Steuerparadiesen abgewickelt zu haben. Dabei habe der mitangeklagte britische Anwalt David Mills für das Berlusconi-Unternehmen Mediaset auf den Virgin Islands ein Netz von Gesellschaften aufgebaut. Ziel der komplizierten Off-Shore-Struktur sei laut Anklage die Schaffung von schwarzen Kassen gewesen. Und noch schlimmer: Um diese zweifelhafte Konstruktion zu schützen, habe Berlusconi auch nicht vor Anstiftung zum Meineid zurückgeschreckt.

    David Mills soll von ihm 600.000 Dollar bekommen haben im Tausch für Falschaussagen in einem zurückliegenden Prozess. Die Ermittlungen dauerten mehrere Jahre. Der Prozess gegen Mills und Berlusconi wurde mittlerweile ausgesetzt, weil ein weiteres maßgeschneidertes Gesetz zum Schutz des Regierungschefs vom Parlament verabschiedet wurde.

    Es garantiert den Trägern der vier höchsten Staatsämter - Staatspräsident, Ministerpräsident, Präsident der Abgeordnetenkammer und Präsident des Senates - Immunität. Eine umfassende Immunität, die auch nicht durch das Parlament aufgehoben werden kann. Hinter vorgehaltener Hand heißt das Gesetz "Salva-Premier", also Gesetz zur Rettung des Ministerpräsidenten.

    So schreibt es auch Gianni Barbacetto, ein unabhängiger Journalist aus Mailand, in seinen Artikeln. Er hat die Prozesse gegen Berlusconi über Jahre verfolgt und sich im Gegensatz zu vielen anderen Journalisten von der Medienmacht Berlusconis nicht einschüchtern lassen. Unverdrossen publiziert Barbacetto all das, was Berlusconi am liebsten aus den Medien verbannen würde. Für die Italiener, die in Berlusconi den Kriminellen sehen, sind die Enthüllungsbücher von Gianni Barbacetto eine wichtige Informationsquelle.


    Berlusconis Kampf gegen die italienische Justiz - Ein Gerichtsreporter macht dem Regierungschef das Leben schwer
    Zehn Uhr, Strafgericht Mailand, Aula 8, Dritter Stock, Abteilung Strafrecht. Schmutzig-graue Betonwände, Neonröhrenlicht, rechts und links zwei Käfige für die Angeklagten. Sie sind leer. Ebenso die Zuschauerbänke im hinteren Teil des Gerichtssaales. Dabei ist der Prozess, der hier stattfindet, öffentlich und einer der spannendsten, die Italien derzeit zu bieten hat. Es geht um die Entführung des Mailänder Imams Abu Omar durch Angehörige des US-Geheimdienstes CIA im Jahr 2003. Omar wurde verdächtigt, in Kontakt mit islamischen Terroristen zu stehen, er wurde zehn Monate in Ägypten festgehalten, nach eigenen Angaben gefoltert.

    Im Zeugenstand: der Europa-Abgeordnete Claudio Fava, Vorsitzender einer Untersuchungskommission zu den illegalen Praktiken. Er beantwortet die Fragen des Staatsanwalts, der gegen den ehemaligen Chef des italienischen Auslandsgeheimdienstes Anklage erhoben hat. Am Kopfende des Saals sitzt etwas erhöht hinter einem wuchtigen Holzpult der Richter. Er steht unter enormem politischen Druck, denn die Angelegenheit, über die er zu urteilen hat, wurde zum Staatsgeheimnis erklärt, die italienische Regierung will diesen Prozess unbeendet lassen.

    Der Zeuge sagt aus, dass die italienische Regierung zu keiner Kooperation mit der EU-Kommission bereit war. Ganz hinten im Raum wandert ein Stift eilig über Papier. Es ist der vierte Bogen, den Gianni Barbacetto heute Morgen mit seiner flüssigen Handschrift füllt. Der Gerichtsreporter ist der einzige anwesende Journalist. Das Thema ist heikel, vielen Kollegen zu heikel. Gianni Barbacetto kann es dagegen gar nicht heikel genug sein. Der 48-Jährige ist spezialisiert auf brisante Gerichtsverfahren, schreibt über korrupte Politiker, Mafiageschäfte und immer wieder über den Regierungschef Silvio Berlusconi und seine Probleme mit der Justiz.

    "Silvio Berlusconi ist zwei Mal zu seinem Prozess erschienen, um spontan eine Aussage zu machen. Er hat keine Fragen der Staatsanwaltschaft beantwortet, sondern einen langen Monolog gehalten."

    Die dichten Augenbrauen des Journalisten zucken nach oben, seine schlanke Hand fährt ärgerlich durch das dunkle Haar. Mit dem Stift deutet er auf die Schrift an der Wand, genau über dem Kopf des Richters. "La legge é uguale per tutti", vor dem Gesetz sind alle gleich, steht dort in bronzefarbenen Lettern zu lesen. Gianni Barbacetto schneidet eine Grimasse.

    "Alle, bis auf vier. Wobei es ja eigentlich nur um einen geht, denn von den vieren braucht nur einer dieses Gesetz."

    Silvio Berlusconi. Gianni Barbacetto war einer der ersten Journalisten, die kritische Nachforschungen über den Bauunternehmer und aufstrebenden Medienmogul aus Mailand anstellten, damals in den Achtziger Jahren. Als Berlusconi 1994 die politische Bühne betrat, war er für Barbacetto schon ein alter Bekannter.

    "Ich habe Anfang der Neunziger Jahre begonnen, mich für Justizgeschichten zu interessieren, das war kurz vor den großen Mailänder Schmiergeldskandalen. Ganz typisch sind die langen Wartezeiten, stundenlang verbringen wir Gerichtsreporter hier mit Nichtstun. Die wirklich interessanten Dinge passieren dann meist in wenigen Minuten während des Prozesses. Oder wir laufen den halben Tag einem Staatsanwalt hinterher, um dann doch nichts von ihm zu erfahren, so läuft das in den meisten Fällen."

    Unterdessen hat der Staatsanwalt die Befragung des Zeugen abgeschlossen. Der Verteidiger erhält das Wort. Hastig erhebt sich ein junger Mann mit geröteten Wangen. Er klopft imaginäre Staubkörnchen von der schwarzen Dienstrobe. Gianni Barbacetto gähnt, streckt sich und geht hinaus auf den Flur.

    Dort begrüßt er eine junge Anwältin aus Rom, die auf den Prozessbeginn in der Aula nebenan wartet. Warten gehört zum Job.

    "Die Verhandlungen sind für eine bestimmte Uhrzeit angesetzt. Du kommst also pünktlich hierher und erfährst dann, dass die Verhandlung erst später stattfindet oder gar nicht, weil irgend jemand fehlt, der Verteidiger zum Beispiel. Bei Prozessen gegen Politiker kommt das andauernd vor, weil die Anwälte tausend Hindernisse anführen, etwa die parlamentarischen Pflichten eines Abgeordneten, der unter Anklage steht. Solche Prozesse dauern unendlich lang, besonders wenn der Angeklagte auch noch Ministerpräsident von Italien ist. Dann wird es fast unmöglich, ihn zu prozessieren, selbst ohne ein Immunitätsgesetz, dass ihn vor Strafverfolgung schützt, was auch immer er tut."

    Ein Grinsen, ein Händeschütteln, dann macht sich der Journalist auf die Suche nach einem Kaffee.

    "Dieses Gebäude ist ein Labyrinth, fast so als sollte sich der Bürger hier drin verirren. Erbaut wurde es während des Faschismus und das sieht man. Die Höhe der Wände, dieser monumentale Touch, sehr rhetorisch! Viel Raum kann gar nicht genutzt werden, diese großen Innenhöfe und endlos langen Korridore. Aber es gibt auch einen positiven Aspekt: Der Justiz wird eine gewisse Würde verliehen, das finde ich gut an dieser Architektur."

    In der Bar im Erdgeschoss herrscht Hochbetrieb. Es ist fast Mittag. Die Tramezzini, Weißbrotdreiecke mit Thunfisch und Mayonnaise, sind bereits aus. Nicht nur sie.

    "Hier mangelt es doch an allem: an Personal von der Sekretärin bis zum Assistenten, an Fotokopierern, an einem gescheiten Computersystem. Vor kurzem wurden die Staatsanwälte und Richter angewiesen, ihre elektronischen Unterlagen jeden Abend auf einem privaten USB-Stick zu speichern, weil kein Geld da ist, um Computer, die kaputt gehen, zu reparieren."

    Gianni Barbacetto isst ein Stück Pizza, aufgewärmt in der Mikrowelle, trinkt einen Espresso und überfliegt seine Notizen. Dann geht er zurück in den dritten Stock.

    Die Wangen des jungen Verteidigers sind noch röter geworden. Er schwitzt. Der Staatsanwalt, ein stattlicher Mann mit weißem Haarschopf und dunkel blitzenden Augen, hat Einspruch erhoben gegen seinen Fragenkatalog.

    Der Richter macht eine beschwichtigende Geste, die Gemüter beruhigen sich. Gianni Barbacetto greift zum Stift.

    "Zu einem Schuldspruch wird es in diesem Prozess wahrscheinlich gar nicht kommen, weil das Verfahren vorher eingestellt wird, schließlich geht es um ein Staatsgeheimnis."

    Trotzdem notiert sich der Journalist akribisch die Details. Solange der Prozess läuft, wird er berichten. Ob es der Regierung Berlusconi passt oder nicht.


    Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, lautet ein Sprichwort. Das trifft im Allgemeinen sicherlich zu, in Italien im Besonderen, denn die italienischen Gerichte sind mehr überlastet als anderswo. Prozesse ziehen sich deshalb meist über Jahre hin und enden in circa 300.000 Fällen pro Jahr mit einem Schuldspruch, der aber keine Strafe nach sich zieht. Warum?

    Weil die Straftat inzwischen verjährt ist. Die Verjährung von bestimmten Delikten, Mord und andere schwerwiegende Straftaten ausgeschlossen, hat in alle europäischen Strafgesetzbücher Eingang gefunden. Sie erleichtert den kriminaltechnischen Alltag, weil keine Ermittlungsverfahren begonnen werden müssen, die so gut wie aussichtslos sind, weil es nach Jahren und Jahrzehnten keine Spuren des Verbrechens mehr gibt. Doch im Gegensatz zu Ländern wie etwa Deutschland und Frankreich, wo die Verjährungsfristen bei schwebenden Verfahren ausgesetzt werden, gelten sie in Italien auch nach Prozessbeginn weiter. Das heißt: Die Zeit läuft für den Angeklagten. Gleichzeitig hat die Regierung Berlusconi die Verjährungsfristen herabgesetzt. Wer sich einen guten Anwalt leisten kann, der sämtliche formalen Möglichkeiten ausnutzt, um den Prozess über die Verjährungsfrist zu bringen, verlässt den Gerichtssaal zwar schuldig, aber frei. Wer dagegen kein Geld für einen teuren Star-Verteidiger hat und wer wegen eines Deliktes angeklagt ist, das wenig Aufklärungsarbeit erfordert, wird schneller verurteilt.

    Wer also sitzt in den italienischen Gefängnissen ein? Zum großen Teil sind es Kleinkriminelle. Die Delikte Diebstahl, Drogenverkauf, Raub mit leichter bis mittelschwerer Körperverletzung und Straftaten, die mit illegaler Einwanderung verknüpft sind, produzieren ein Meer von Häftlingen. Häftlinge, für die eigentlich gar kein Platz da ist, denn die italienischen Gefängnisse sind hoffnungslos überbelegt. Mit mehr als 1200 Insassen ist Mailand-Òpera der größte Knast Europas. Eine abgeschlossene, kleine Stadt mit ihren eigenen Gesetzen. Und mit einer Gemüsefarm, die seit einem Jahr den Insassen Arbeit gibt.


    Kein Platz für Hoffnung - Eine Projektleiterin im Mailänder Gefängnis Opera
    Neun Uhr morgens im Gefängnis Opera bei Mailand. Es ist grau und kalt. Eine Gruppe Männer in Gummistiefeln jäten ein Gemüsebeet vor dem Block 41. Hier sitzen die Schwerverbrecher, darunter Mafiabosse wie Toto Rina, der mehr als 1000 Morde in Auftrag gab. Sie sitzen in Isolationshaft, vor einigen Zellenfenstern ist dunkler Stoff gespannt. Man kann weder hinein- noch hinaus gucken. Die Männer, die hier jäten, sind dagegen fast schon kleine Fische. Ivan, 1 Meter 90 groß, ein Kraftpaket mit tätowierten Armen und wasserblauen Augen, hat einen Raubüberfall begangen und dafür vier Jahre bekommen. Er hält inne als ein dunkelblauer Polizeiwagen vorfährt.

    Aus dem Wagen klettert eine kleine, energische Frau, eskortiert von zwei Gefängniswärtern. Emilia Patruno, Ärztin und ehrenamtliche Projektleiterin im Hochsicherheitsgefängnis Opera. Im Arm hält sie ein grünes Stoffmonster.

    "Sieht doch aus wie Du", sagt Emilia verschmitzt und wirft Ivan das Stoffmonster zu. Er grinst und wiegt es wie ein Baby in seinen Armen.

    Dann führt Ivan Emilia in das neu eingerichtete Treibhaus. Links Fenchel, rechts Chilipflanzen. Weiter hinten Salat, Kohl und Radieschen. Männer mit grünen Gärtnerschürzen zupfen verwelkte Blätter von den Stängeln, kontrollieren die Wasserzufuhr. Nicola, 44 Jahre alt und seit einem Jahr inhaftiert, zeigt stolz auf eine Reihe Setzlinge.

    "Das ist kein Zeitvertreib, das ist echte Arbeit und wir sind mit dem Herzen dabei. Mit der Zeit sind wir ein gut eingespieltes Team geworden. Manchmal gibt es auch Streit, aber den lösen wir innerhalb von Minuten. Am Anfang kannten wir uns untereinander nicht, aber durch die gemeinsame Arbeit haben wir viel übereinander gelernt, inzwischen reicht schon ein Blick und der andere versteht."

    Emilia Patruno inspiziert die Pflanzen und blickt den Männern anerkennend ins Gesicht.

    "Ich engagiere mich seit vielen Jahren ehrenamtlich für Gefangene. Es ist sehr bewegend, zu erleben, dass man die Menschen ändern kann und dass die Projekte, die ich mir ausdenke und die ich realisiere, etwas bringen."

    Nach dem Treibhaus geht es in den Stall. Die Inhaftierten haben ihn selbst gebaut: ein weißer, niedriger Verschlag mit Käfigen. 800 Wachteln piepsen hier um die Wette.

    "Hier haben sie ihr Futter, hier trinken sie", sagt Ivan und nimmt eine braun gefiederte Wachtel vorsichtig in die Hand.

    "Wir pflegen und verarzten sie auch, wenn sie sich gegenseitig verletzen" erzählt Dragomir Petrovic, 53 Jahre alt, geboren in Belgrad. Aufgeregt läuft er um die Käfige herum, schüttet Futter nach und beobachtet aus den Augenwinkeln Emilia Petruno und den Gefängnisdirektor, der gekommen ist, um sich die "Al Cappone-Farm" wie Emilia das Projekt getauft hat, persönlich anzusehen.

    Für das Putzen der Käfige ist Saimir zuständig, ein junger Albaner. Fast die Hälfte der Häftlinge in Opera sind Ausländer. In anderen Gefängnissen sind es sogar bis zu 80 Prozent. Giacinto Siciliano, der Direktor von Opera, zeigt auf den Hochsicherheitstrakt wenige Meter entfernt.

    "Die Organisierte Kriminalität ist hausgemacht, also in den Händen von Italienern. Im Vergleich zu ihr sind die ausländischen Kleinkriminellen nichts weiter als Handlanger. Und die füllen in der Mehrheit unsere Gefängnisse. Die meisten Inhaftierten sitzen wegen Straftaten ein, die gar nicht zwingend ins Gefängnis führen würden, wenn es genug Strukturen draußen gäbe, die sich um diese Straftäter kümmern könnten. Nur haben wir in Italien leider nicht die entsprechenden Strukturen. Deshalb landen sie im Gefängnis."

    Das Thema macht Emilia Patruno wütend. Die Regierung tut zu wenig für die Resozialisierung von Straftätern, meint sie.

    "In diese Richtung gibt es keinerlei Bestreben. Im Gegenteil - es sollen neue Gefängnisse gebaut werden. Ich glaube, je mehr Gefängnisse wir haben, desto mehr Inhaftierte bekommen wir. Es wäre besser, den Straftaten vorzubeugen als die Straftäter wegzusperren. Aber unsere Gesellschaft ist kurzsichtig und will diejenigen, die sich etwas haben zu schulden kommen lassen, eigentlich gar nicht in ihre Mitte zurückholen, sondern los werden."

    Giacinto Siciliano nickt leicht und wendet sich zum Gehen.

    Er will Emilia heute noch andere Arbeitsbereiche zeigen und gibt den Polizisten ein Zeichen, sie zu begleiten. Niemand kann sich hier im Gefängnis frei bewegen, jeder wird auf Schritt und Tritt bewacht.

    "Diese langen Korridore sind so merkwürdig still. Es ist eine unnatürliche Stille, nicht so wie die Stille am Meer, wenn man auf die Wellen blickt, die auf den Strand zurollen. Es ist eine Stille, wie im Raubtierkäfig im Zoo. Eine Stille, die für mein Empfinden etwas Gewalttätiges in sich trägt."

    Gewalt ist ein Problem, in Opera so wie in anderen Gefängnissen Italiens. Die permanente Überbelegung verstärkt die Konflikte und Spannungen noch. Die Möglichkeit zu arbeiten, ist eine Möglichkeit, Dampf abzulassen.

    "Wir haben in unserer Verfassung einen Artikel, den Artikel 27, der besagt, dass eine Gefängnisstrafe nicht dem humanitären Empfinden widersprechen darf. Jemanden einsperren und ihn sich selbst überlassen, verstößt zweifellos gegen dieses Prinzip. Ich sage immer, dass ich mit meiner ehrenamtlichen Arbeit hier nur erfülle, was die Verfassung uns vorschreibt."



    " Ich weiß nicht erinnere mich nicht im Fernsehen im Radio am Funkgerät oder per Fax
    oder in irgendeiner Zeitung habe ich den Gehetzten den Umstellten
    fliehen gesehen gehört und den Verletzten Gemarterten
    nachts in der Allee, mit dem Atem, der zu Boden stürzt
    ICH WEISS NICHT KANN ICH IHN NOCH FREUND NOCH BRUDER
    NENNEN, wenn
    hineinversetzt in diesen Zirkus abgelegter Worte
    ich Anspruch habe auf die Krankenkasse des Herzens, auf die Anpassung der
    Pension
    für das Denken, oder bin auch ich ein Arbeiter, vorübergehend entlassen in
    Erwartung besserer Zeiten
    DENN IN MEINEM ALTER FINDE ICH, WENN MAN MICH
    RAUSSCHMEISST, KEINE ARBEIT MEHR.
    Rausschmeißt aus der Wohnstatt der diskreten Musen, der lauwarmen
    Musen,
    nirgends finde ich Heimat als im Alfa-Kino
    am Abend, wo sie den Herzog-Film zeigen, der irre ist.
    DOCH UM ZUR ANFÄNGLICHEN BETRACHTUNG ZURÜCKZUKEHREN:
    wenn ich mir etwas vorstelle, so denke ich in Wirklichkeit
    an eine Reise. Aufbrechen, nicht sterben.
    Das gilt als Indiz eines unruhigen Geistes, altersbedingt.
    Ich komme nach Italien, wo:
    in den Fünfziger-Jahren die Mafia gegen den Staat
    in den Sechziger Jahren die Mafia im Staat
    in den Neunziger Jahren die Mafia der Staat ist.
    Tüchtig wer, zu dieser Jahreszeit, einen Sitzplatz im Café ergattert."

    Die italienische Justiz hat einen großen Feind: die Mafia. Das Organisierte Verbrechen, das sich zeitgleich mit der Staatsgründung Italiens 1861 entwickelte, war schon immer eng verbandelt mit der herrschenden politischen Klasse des Landes. Die Justiz sollte zwar blutige Mafiafehden und Morde, die die Bevölkerung beunruhigten, aufklären, aber brisante Verbindungen zwischen Mafia, Wirtschaft und Politik sollten nicht ans Licht gebracht werden. Doch dann traten zwei Richter und Staatsanwälte auf den Plan, die sich nicht um dieses ungeschriebene Gebot kümmerten: Giovanni Falcone und Paolo Borsellino. Sie revolutionierten den Kampf der Justiz gegen die Mafia, indem sie nicht nur Blutspuren untersuchten, sondern auch die Spuren des Geldes.

    Sie analysierten die finanziellen Transaktionen von "Cosa nostra”. Ihre mutige Arbeit bezahlten sie mit ihrem Leben: Falcone und Borsellino wurden 1992 im Abstand von drei Monaten ermordet. Die Ermittlungen, die sie kurz vor ihrem Tod leiteten, betrafen auch einen Unternehmer in Norditalien namens Silvio Berlusconi.

    Sie konnten nach den Morden an den Richtern nicht weiter geführt werden, weil die Festplatten ihrer Computer im Justizpalast von Palermo von Unbekannten gelöscht wurden und persönliche Aufzeichnungen verschwanden. Und es gibt noch mehr Verbindungen zwischen Silvio Berlusconi und der Mafia. So hatte der jetzige Ministerpräsident Italiens über viele Jahre einen hoch bezahlten Stallknecht, den er extra aus Sizilien hatte kommen lassen und der in seiner Villa wohnte. Dieser merkwürdige Angestellte wurde später wegen Drogenhandels und Mafiamitgliedschaft zu einer langen Freiheitsstrafe verurteilt. Und noch ein weiterer Bekannter, sogar ein sehr enger Vertrauter Berlusconis, wurde wegen Unterstützung der Mafia verurteilt. Marcello dell`Utri. Laut Richterschrift war Dell`utri, Cosa Nostras Botschafter in Mailand und Rom. Er sollte Politiker und Unternehmer für die Zusammenarbeit mit der Mafia gewinnen.

    Ob er Erfolg hatte? Mafia-Kronzeugen haben ausgesagt, dass die Stimmen der Cosa Nostra bei den Wahlen 1994 an "Forza Italia" gingen. Tatsache ist auch, dass die Regierung Berlusconi der Mafia verschiedene Geschenke machte. Das Zeugenschutzprogramm wurde heruntergefahren, die Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaften im Ausland erschwert, Schwarzgeld kann, anonym und gegen eine geringe Steuer, nach Italien zurückgeführt werden.

    Die Richter und Staatsanwälte haben heute weniger Instrumente gegen das Organisierte Verbrechen in der Hand. Nach einer Studie des italienischen Handelsverbandes machen die Mafia-Organisationen Italiens gemeinsam einen Jahresumsatz von 130 Milliarden Euro. Sie sind damit Italiens größtes Wirtschaftsunternehmen. Und für die Justiz nach wie vor der größte Feind.


    "Man will uns die Krallen stutzen" - Ein Mafiafahnder in Palermo
    Wie am Flughafen muss man seine Sachen auf ein schwarzes Band legen und durch eine Sicherheitskontrolle gehen.

    Hinter dem Eingangscheck öffnet sich eine große Halle: grau die Wände, kahl und ziemlich schmutzig.

    Mit dem Fahrstuhl geht es in den zweiten Stock, zur Spezialeinheit "Divisione distrettuale antimafia", den Mafiafahndern.

    Auf dem Gang streiten zwei Frauen über ein Dossier, das geschrieben werden muss, sie gehören zum Sekretariat. Jeder Staatsanwalt hat seine persönliche Sekretärin, allerdings sitzen sie zu zweit oder zu dritt in einem Büro. Im letzten Zimmer auf dem Gang hat die Sekretärin des Staatsanwaltes Antonio Ingroia ihren Schreibtisch. Sie ist Ende 30, hat dunkle Locken und kluge Augen. Seit zehn Jahren arbeitet sie im Justizpalast von Palermo.

    "Ich bin mit dem Herzen dabei, das hier ist nicht irgendein Job, man muss daran glauben. Dieses Gebäude ist so oft im Fernsehen zu sehen, meistens bei schlechten Nachrichten, das ist nicht einfach, aber draußen ist es auch nicht besser, jede Straßenecke weckt bei mir traurige Erinnerungen, und trotzdem müssen wir weitermachen."

    Ein freundliches Lächeln, dann nimmt sie einen Stapel Akten und geht ins Nebenzimmer.

    Hier arbeitet ein Staatsanwalt wie es nicht mehr viele gibt seit den Morden an Falcone und Borsellino. Antonio Ingroia hat unter Borsellino gelernt. Der schlanke Endvierziger half mit, den größten Mafiaprozess in der italienischen Geschichte anzustrengen und hunderte Mafiosi hinter Gitter zu bringen. Und er vertrat die Anklage gegen Marcello dell`Utri, Berlusconis rechten Arm und Mitbegründer der Partei "Forza Italia".

    Aufgrund der Beweise, die Ingroia vorlegte, verurteilte das Gericht in Palermo Marcello dell`Utri zu neun Jahren Haft wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, sprich der Mafia. Im Gefängnis sitzt der illustre Politiker aber nicht, seine Anwälte haben gegen den Schuldspruch Berufung eingelegt.

    "Dazu äußere ich mich nicht."

    Antonio Ingroia hebt abwehrend die Hände. Der Staatsanwalt trägt einen dunkelgrauen Anzug mit passendem Hemd. Schwarze Schuhe, schwarze Strümpfe. Einzig die hellblaue Krawatte sticht hervor. Seine braunen Augen funkeln belustigt.

    "Natürlich habe ich vollstes Vertrauen in die Justiz."

    Ein ironisches Lächeln. Antonio Ingroia ist Sizilianer durch und durch. Sein teilweise sarkastischer Humor ähnelt dem von Paolo Borsellino, seinem Vorbild und Lehrmeister.

    "Ich bin seit 1987 Staatsanwalt. Als ich anfing, war in Italien gerade eine große Medienkampagne im Gange, die die Richter und Staatsanwälte, die gegen die Mafia ermittelten, angriff und ihnen vorwarf, sich zu Sheriffs der Justiz aufzuschwingen und ihren Beruf zu benutzen, um Politik zu machen. Im Vergleich zu damals hat sich also nichts geändert. 20 Jahre später sind wir Richter wieder unter Beschuss."

    Antonio Ingroia kommt langsam hinter seinem Schreibtisch hervor und setzt sich in einen abgewetzten Ledersessel rechts neben der Tür. Er lehnt sich zurück und faltet die Hände.

    "Wie es uns dabei geht? Wir fühlen uns behindert und umzingelt. Unsere Feinde sitzen - so absurd es auch klingt - innerhalb der Institutionen. Das ist ein heikles Thema, aber wir finden zum Beispiel, dass die geplante Trennung der beruflichen Laufbahn von Richtern und Staatsanwälten, wie es sie in vielen anderen Ländern gibt, in Italien sehr gefährlich wäre. Die Staatsanwälte würden dann nämlich näher bei der Polizei stehen als bei der Justiz und die Polizei untersteht der Regierung. Das Risiko ist, dass auch die Staatsanwälte unter politische Kontrolle gerate, weil sie dann nämlich dem Justizministerium unterstellt würden. Wir sind dagegen, weil wir davon überzeugt sind, dass der Reformbedarf ganz woanders besteht."

    Antonio Ingroia holt Luft und drückt sich noch weiter in den Sessel.

    "Nehmen wir zum Beispiel das Abhören von Telefongesprächen. Dem Gesetzgeber liegt der Schutz der Privatsphäre von Verdächtigen so sehr am Herzen, dass er die Liste der Straftaten, bei denen wir künftig noch abhören können, drastisch reduzieren will. Wenn es so weiter geht, dürfen wir künftig nicht einmal mehr bei Entführungen, Schutzgelderpressungen, Zwang zur Prostitution, Brandanschlägen, betrügerischem Bankrott und Korruption die Telefone der Verdächtigen anzapfen. Noch dazu die finanziellen Kürzungen! Mit wenig Geld kann man nur wenig ermitteln. Uns fehlt das Geld, um Überstunden zu bezahlen, um unsere Autos zu tanken."

    Im Türrahmen erscheint ein dunkler Wuschelkopf mit Brille. Ein jüngerer Kollege, der sich Rat holen will in einem schwierigen Fall. Antonio Ingroia ist sofort im Bilde und gibt Tipps. Zögern ist nicht seine Sache, denn zögern hätte ihn schon einige Male das Leben kosten können. Der Staatsanwalt war bereits Zielscheibe von Attentatsversuchen, er wird rund um die Uhr von Leibwächtern bewacht.

    Freundlich, aber bestimmt bugsiert Ingroia seinen Kollegen hinaus. Ein Blick auf die Uhr, ein leiser Seufzer. Zeit hat der Staatsanwalt eigentlich immer zu wenig. Geld auch.
    "Immer weniger Geld heißt immer weniger Festnahmen, auch wenn wir in den vergangenen Monaten große Erfolge verbucht haben. Wir haben einige der einflussreichsten Mafia-Bosse aufspüren können, aber es gibt immer noch genug, die frei herumlaufen. Messina Denaro Matteo zum Beispiel. Er könnte der oberste Boss von Cosa Nostra werden. Um ihn zu schnappen braucht es einen enormen Aufwand, aber es wäre möglich. Unsere Polizei tut, was sie kann, obwohl sie kaum Geld hat, aber wir können uns nicht immer nur auf den selbstlosen Einsatz einiger weniger verlassen, die dabei ihr Leben aufs Spiel setzen. Der Staat müsste hier mehr tun, aber momentan ist der Kampf gegen die Mafia keine Priorität."

    Ärgerlich wippt Antonio Ingroia mit dem Fuß.

    "All das, was unter dem Namen Reform in den vergangenen Jahren eingeführt wurde, hat genau das Gegenteil bewirkt. Die Prozessdauer hat sich noch verlängert, Recht gesprochen wird immer später und oft auch gar nicht mehr, weil die Straftat dann verjährt ist. Dass die Verjährungsfristen verkürzt wurden, während die Prozesse in Italien immer länger dauern, zeigt doch, dass man im Grunde das Gegenteil von dem erreichen will, was nötig wäre."





    Ein Rechtssystem ist eine komplizierte Sache. Es setzt sich zusammen aus den Bereichen Straf-, Zivil- und Verfassungsrecht. Silvio Berlusconis persönliches Interesse galt und gilt vor allem Änderungen im Strafrecht. Gleichzeitig setzte er aber auch Reformen im Zivilrecht durch. So wurden das Gesellschaftsrecht, das bei der Gründung neuer Firmen zentral ist, an die europäischen, insbesondere die deutschen Normen angeglichen. Und das findet beim italienischen Mittelstand durchaus Anklang. Das Zivilrecht regelt nämlich Ansprüche unter Privaten und hat großen Einfluss auf das Funktionieren und Prosperieren der Wirtschaft eines Landes.

    Die lange Dauer von Prozessen ist immer ein Problem, denn Unternehmen können dadurch in den Konkurs getrieben werden, nämlich, wenn sie beispielsweise Leistungen erbringen oder Waren herausgeben, für die der vertraglich festgelegte Gegenwert ausbleibt. Dann können sie selbst ihren finanziellen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen und in eine Spirale geraten, die in der Insolvenz endet. Ohne eigenes Verschulden wohlgemerkt. Und wenn dann auch noch allgemein bekannt ist, dass es Jahre dauert, bis ein säumiger Zahler per Gerichtsentscheid zur Zahlung gezwungen wird, leidet die Zahlungsmoral zusätzlich.

    Der Rechtsbeistand ist für Firmen deshalb sehr wichtig, ein guter Anwalt bares Geld wert. Aber was ist in Italien ein guter Anwalt? Gefragt sind in Mailand, Turin oder Rom andere Qualitäten als in Berlin und München.


    Italiener haben ein anderes Rechtsempfinden - Ein deutscher Anwalt und das italienische Recht
    Ein Mailänder Bürgerhaus in zentraler Lage. Altbau, renoviert, vornehm, aber nicht protzig.

    Schweres Eingangsportal, goldenes Klingelschild, ein Mann in Anzug und Krawatte. Er verschwindet durch das Tor in den Innenhof.

    Ein Gruß in Richtung Hausmeisterin, dann steht der Mann im monumentalen Treppenhaus und wartet auf den Aufzug.

    "Das gefällt mir, das verbindet man ja auch mit Italien, den Stil!"

    Er trägt einen dezenten Mantel und dunkle Schuhe. Er heißt Dr. Jürgen Reiß, ist 42 Jahre alt, deutscher Anwalt und italienischer Avvocato.

    "So, jetzt sind wir auch schon da, hier geht's direkt ins Büro."

    Der Raum ist hell mit honigfarbenem Parkettboden, modernem Schreibtisch und einem Drehstuhl in Kobaltblau. An der Wand hängt moderne Kunst.
    "Gute Kombination, die den Deutschen oft zusagt und die Mann in rein italienischen Kanzleien relativ selten findet und zwar eine schlichte, moderne Einrichtung in schön renoviertem Altbau. Unsere Klienten sind meist deutsche Firmen, die in Italien was aufkaufen, was gerade sehr en vogue ist. Entweder kaufen die was, was ganz neu strukturiert wird, mit einem ganz neuen Management versehen, oder man will so eine kleine Repräsentanz aufbauen, ein Vertriebsnetz aufbauen in Italien, wo man Produkte, die man in Deutschland oder wo auch produzieren lässt, vertreibt."

    Die Kanzlei läuft gut. Jürgen Reiß ist auch noch in Frankfurt, Karlsruhe, Zürich und Bologna tätig. Er berät Firmen in rechtlichen Angelegenheiten und vertritt sie auch vor Gericht.

    "Und wenn man sieht, dass über neunzig Prozent der Prozesse mit Vergleich beendet werden, dann sieht man, wo die Tendenz ist in Italien. Und das entspricht auch der Mentalität. Man will hier nicht Recht haben, man will ein pragmatisches Ergebnis haben - und das ist gar nicht so weit weg von Gerechtigkeit nach meinem Dafürhalten."

    Die Italiener haben ein anderes Rechtsempfinden und deshalb auch ein anderes Rechtssystem - so die These von Anwalt Jürgen Reiß.

    "Die Italiener haben weniger Gesetze, was eine gewisse Unsicherheit bedeuten kann, aus deutscher Sicht zumindest, da ist viel mehr geregelt. In Italien wird viel mehr ausgehandelt. Das liegt auch daran, dass die Prozesse viel länger sind, aber das muss nicht schlechter sein, das gibt den Parteien viel mehr Möglichkeiten, während des Prozesses zu einem Vergleich zu kommen. In Deutschland ist es so: Man braucht einen Anwalt, der die Gesetzeslücke findet, in Italien braucht man einen Anwalt, der sehr gut verhandeln kann. Und das ist eben auch genau mein Beruf, dass ich versuche, das deutschen Firmen zu erklären."

    Der Anwalt lächelt. Er scheint ein geduldiger Mensch zu sein. Einer, der lieber vermittelt als entzweit. Die Reformen der Berlusconi-Regierung findet er gar nicht so schlecht.

    "Ich will mal ganz wertneutral sagen: Die gesamten Änderungen sind alle unter Berlusconi entstanden und ich meine jetzt nicht die Verkürzung der Verjährungsfristen für Bilanzfälschung, das meine ich nicht. Ich meine die Zivilrechtsreform, mit der er eigentlich gar nichts zu tun hat. Aber als Unternehmer hat er gesehen, dass die Prozesse in der Tat zu lange dauern. Deshalb gab es ja auch eine Reform des italienischen Zivilprozessrechtes, um diese langen Entscheidungswege zu verkürzen. Insbesondere darin, dass man beim ersten Schriftsatz schon den gesamten Sachverhalt aus Sicht des Klägers vorbringen muss mit den Beweismitteln entsprechend. Und das war vorher nicht so. Diese ganze Salamitaktik, das man mit den Jahren immer noch wieder einen Einwurf bringt, das fällt jetzt weg."

    Allerdings nur im Zivilrecht. Im Strafrecht geht es de facto genau in die andere Richtung. Jürgen Reiß spielt mit seinem Kugelschreiber.

    "Gut, wir wollen ja jetzt nicht politisieren diesbezüglich, da gibt es natürlich klare Anspielungen. Die Prozesse im Strafrecht dauern recht lang, gerade bei den sogenannten Nadelstreifendelikten wie Untreue, Betrug und Bestechung. Aber auch da ist man bestrebt, das etwas abzukürzen. Aber da gibt es noch keine entsprechenden Reformen. Nur Vorschläge. Aber die zählen erst, wenn sie umgesetzt sind."



    Sie hörten Gesichter Europas: Rechtsstaat addio? - Berlusconi und die italienische Justiz. Die Reportagen waren von Kirstin Hausen, die Musik suchte Babette Michel aus. Sprecher der Lyrik war Hans Gerd Kilbinger. Für Ihr Interesse dankt, auch im Namen von Ton und Technik, Norbert Weber. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!