Die Tat war im Internet angekündigt: Im Schulmassaker von Emsdetten im Jahr 2006 schoss der 18-jährige Sebastian B. auf Lehrer, Mitschüler und Hausmeister. Dann richtete er die Waffe gegen sich selbst. Als später eine Liste des Schülers gefunden wurde mit möglichen Zielpersonen, entfachte sich eine Diskussion, ob die Tat hätte verhindert werden können.
"Denn es sind eben oftmals nicht diese konkreten Androhungen wie: 'Ich laufe morgen Amok' oder 'Ich bringe Euch alle um'. Sondern es sind oftmals auch gerade diese so langsam vor sich hinwabernden Situationen, wo ein Jugendlicher auf seine Befindlichkeiten hinweist, ohne aber direkt zu sagen, was ihn eigentlich beschäftigt. Sondern man bekommt es mit. Beispielsweise bekommt eine Lehrerin einen Aufsatz eines Schülers. Und in diesem Aufsatz beschreibt er genau die Tötung seiner Lehrer, nacheinander. In einem Aufsatz. Das sollte natürlich jeden Lehrer und jede Lehrerin stutzig machen, denn es ist sicherlich nicht normal, dass ein Schüler solche Gewaltfantasie zum Ausdruck bringt"," sagt Herbert Scheithauer, Psychologe an der Freien Universität Berlin. Vor fünf Jahren ist der Juniorprofessor darauf aufmerksam geworden, dass junge Täter in den USA ihre Amokläufe an den Schulen häufig vorher ankündigten. "Leaking" wird das Phänomen dort seit 1999 genannt – von dem englischen to leak: Etwas durchsickern lassen, leckschlagen.
""Und es erwuchs deshalb bei uns der Gedanke, ob man nicht bei diesen Leaking-Phänomenen ansetzen könnte, um eine Früherkennung solcher Taten durchzuführen. Und wir hatten die Idee, die in Deutschland geschehenen Fälle uns ein wenig näher anzuschauen."
In den vergangenen zehn Jahren haben zehn Schüler und Schülerinnen in Deutschland Lehrer und Mitschüler erschossen – oder dies versucht. "School Shooting" nennen Scheithauer und seine Mitarbeiter diese spezielle Form "schwerer zielgerichteter Schulgewalt". Den gängigen Begriff des "Amoklaufs" halten sie für irreführend. Geschehen die Taten doch nur selten aus dem Affekt heraus. Sie werden geplant – oder reifen als Idee manchmal sogar über Jahre hinweg.
Bislang hat die Forschung über Schulmassaker hauptsächlich in den USA stattgefunden. Die Wissenschaftler dort werteten allerdings nur Medienberichte und einzelne Fälle aus. Anders am "Arbeitsbereich Angewandte Entwicklungspsychologie" der Freien Universität. Hier hat Scheithauer mit seinen Kollegen seit dem Start des "Berliner Leaking Projekts" im Jahr 2004 viel Papier gewälzt: die Gerichtsakten der in Deutschland geschehenen Amokläufe ebenso wie die Ermittlungsakten angekündigter Taten und die Gewaltmeldebögen der Berliner Schulen.
Auch den ganz normalen Schulalltag beleuchten die Experten. Acht über Berlin verstreute Schulen nahmen an der FU-Studie teil. Hunderte von Lehrern informierten sich über Leaking und gaben Auskunft über entsprechende Vorkommnisse an ihren Schulen. Rebecca Bondü ist als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Projekt beteiligt:
"In unseren verschiedenen Erhebungsschritten haben wir durchaus, wir wir es ja auch vorher angenommen hatten, eine ganze Bandbreite von Leakings beobachten können. Das sind einmal die direkten Leakings, also zum Beispiel wirklich verbale Äußerungen gegenüber Freunden, wir haben aber teilweise auch Statements, die auf Internetseiten eingestellt werden. Wir finden Sprüche auf der Klowand, wir finden aber auch Zeichnungen teilweise."
Neben der direkten Ankündigung von Tötungsabsichten gibt es die indirekten Leakings: etwa wenn ein Schüler sich demonstrativ für Waffen interessiert, Tarnkleidung trägt oder Zeitungsausschnitte über vergangene Amoktaten sammelt.
Der Leaker ist, so die Ergebnisse der Wissenschaftler, meist männlich, gehört den mittleren bis höheren Jahrgangsstufen an und findet sich an Schulen mit verschiedenen sozioökonomischen Hintergründen. Wie häufig Schüler Gewalt androhen oder als Fantasie ausleben, wertet Scheithauer derzeit noch aus:
"Wir haben aber festgestellt, dass es relativ selten zu solchen Vorkommnissen kommt, zu Leaking-Phänomenen kommt, und dass diese Leaking-Phänome durchaus zum Anlass genommen werden können, jetzt nicht gleich zu behaupten, es handelt sich um einen vielleicht gefährlichen Schüler, aber zumindest zu sagen, dass es vielleicht nicht normal ist, wenn ein Schüler Gewaltfantasien hat, und vielleicht hier den nächsten Schritt einzuleiten und mit dem Schüler intensiver zu arbeiten."
Die meisten Leakings beobachteten Scheithauer und Bondü im Frühling und Herbst. Auch Schulmassaker finden – wie depressive Entwicklungen und Suizidversuche - gehäuft zu diesen Jahreszeiten statt und regen andere Schüler zur Nachahmung an, so die Erklärung der Psychologen.
Ein Auslöser für Leaking können familiäre Probleme sein, etwa die Scheidung der Eltern. Bei späteren Tätern stellten die FU-Wissenschaftler Zeichen sozialer Isolation fest. Sie konsumierten häufig Gewaltvideos und kamen leicht an die Waffen ihrer Väter heran. Eine gravierende negative Lebenserfahrung wie ein Schulverweis lässt die Situation kippen.
Im internationalen Vergleich fand Rebecca Bondü wichtige Unterschiede:
"Mal als konkrete Beispiele finden wir in Deutschland, dass zu einem ganz, ganz großen Teil Lehrer zu den Opfern dieser Taten zählen, was natürlich drauf hindeutet, dass im Vorfeld dieser Tat ganz andere Dynamiken einfach geherrscht haben und dass auch eine ganz andere Tatmotivation zugrunde liegt. Wir sehen in Deutschland auch im Vergleich zu anderen Ländern, dass sich die Täter relativ häufig am Ende der Tat umgebracht haben oder es zumindest versucht haben. Es ist zum Beispiel auch noch so, dass in Deutschland sehr viele ehemalige Schüler zu Tätern werden, was sich auch von der internationalen Situation deutlich unterscheidet. Was ja auch etwas darüber aussagt, wie lange da bestimmte negative Gefühle gegenüber der Schule aufrecht erhalten werden."
Diese Informationen sollen nun an den Lehrer gebracht werden. Im Pilotprojekt "NETWASS" - Networks against School Shootings – will Herbert Scheithauer die Beteiligten in Berlin, Brandenburg und Baden-Württemberg wachrütteln. Was ist Leaking? Wann liegt tatsächlich eine Gefahr vor? Und wann handelt es sich nur um eine pubertäre Gewaltfantasie? Scheithauer über NETWASS:
"Dahinter steckt die Idee, dass wir glauben, dass sehr viele Informationen schlichtweg versickern, dadurch, dass unterschiedliche Beteiligte im Prozess davon zwar gewahr werden, aber auch mit ihren Verunsicherungen, Unklarheiten, Fehlbewertungen vielleicht dieser Informationen einfach nicht den nächsten wichtigen Schritt machen, nämlich aufeinander zu oder in Richtung Polizeimeldung und einer weiteren Bearbeitung beispielsweise eines Falls oder im Umgang mit dem Schüler."
Ziel des neuen Projekts ist eine wirksame Vernetzung von Lehrern, Schülern und Eltern einerseits mit der Polizei und den Schulpsychologen andererseits. So könnten über ein Leaking-Telefon auffällige Vorkommnisse gemeldet werden. Über das Meldesystem ließe sich zurück verfolgen, ob jemand schon zu Schulzeiten auffällig wurde.
Amokläufe sind selten. Dennoch ist die weitere Erforschung ihrer Vorzeichen wichtig, ist Herbert Scheithauer überzeugt:
"Schulen sind insbesondere nach den verheerenden School Shootings, die in Deutschland geschehen sind, extrem verunsichert, sowohl die Lehrer als auch die Schüler im Umgang mit dem Phänomen, was zu tun ist. Und diese Verunsicherung, die an jeder der in Deutschland existierenden Schule herrscht im Umgang damit, führt dazu, dass der Bedarf sehr groß ist und dass das BMBF ein sehr großes Interesse hat, ein Sicherheitsgefühl und ein Sicherheitsverständnis an den Schulen wieder zu verstärken über Handlungskompetenzen, die geschärft werden sollen."
"Denn es sind eben oftmals nicht diese konkreten Androhungen wie: 'Ich laufe morgen Amok' oder 'Ich bringe Euch alle um'. Sondern es sind oftmals auch gerade diese so langsam vor sich hinwabernden Situationen, wo ein Jugendlicher auf seine Befindlichkeiten hinweist, ohne aber direkt zu sagen, was ihn eigentlich beschäftigt. Sondern man bekommt es mit. Beispielsweise bekommt eine Lehrerin einen Aufsatz eines Schülers. Und in diesem Aufsatz beschreibt er genau die Tötung seiner Lehrer, nacheinander. In einem Aufsatz. Das sollte natürlich jeden Lehrer und jede Lehrerin stutzig machen, denn es ist sicherlich nicht normal, dass ein Schüler solche Gewaltfantasie zum Ausdruck bringt"," sagt Herbert Scheithauer, Psychologe an der Freien Universität Berlin. Vor fünf Jahren ist der Juniorprofessor darauf aufmerksam geworden, dass junge Täter in den USA ihre Amokläufe an den Schulen häufig vorher ankündigten. "Leaking" wird das Phänomen dort seit 1999 genannt – von dem englischen to leak: Etwas durchsickern lassen, leckschlagen.
""Und es erwuchs deshalb bei uns der Gedanke, ob man nicht bei diesen Leaking-Phänomenen ansetzen könnte, um eine Früherkennung solcher Taten durchzuführen. Und wir hatten die Idee, die in Deutschland geschehenen Fälle uns ein wenig näher anzuschauen."
In den vergangenen zehn Jahren haben zehn Schüler und Schülerinnen in Deutschland Lehrer und Mitschüler erschossen – oder dies versucht. "School Shooting" nennen Scheithauer und seine Mitarbeiter diese spezielle Form "schwerer zielgerichteter Schulgewalt". Den gängigen Begriff des "Amoklaufs" halten sie für irreführend. Geschehen die Taten doch nur selten aus dem Affekt heraus. Sie werden geplant – oder reifen als Idee manchmal sogar über Jahre hinweg.
Bislang hat die Forschung über Schulmassaker hauptsächlich in den USA stattgefunden. Die Wissenschaftler dort werteten allerdings nur Medienberichte und einzelne Fälle aus. Anders am "Arbeitsbereich Angewandte Entwicklungspsychologie" der Freien Universität. Hier hat Scheithauer mit seinen Kollegen seit dem Start des "Berliner Leaking Projekts" im Jahr 2004 viel Papier gewälzt: die Gerichtsakten der in Deutschland geschehenen Amokläufe ebenso wie die Ermittlungsakten angekündigter Taten und die Gewaltmeldebögen der Berliner Schulen.
Auch den ganz normalen Schulalltag beleuchten die Experten. Acht über Berlin verstreute Schulen nahmen an der FU-Studie teil. Hunderte von Lehrern informierten sich über Leaking und gaben Auskunft über entsprechende Vorkommnisse an ihren Schulen. Rebecca Bondü ist als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Projekt beteiligt:
"In unseren verschiedenen Erhebungsschritten haben wir durchaus, wir wir es ja auch vorher angenommen hatten, eine ganze Bandbreite von Leakings beobachten können. Das sind einmal die direkten Leakings, also zum Beispiel wirklich verbale Äußerungen gegenüber Freunden, wir haben aber teilweise auch Statements, die auf Internetseiten eingestellt werden. Wir finden Sprüche auf der Klowand, wir finden aber auch Zeichnungen teilweise."
Neben der direkten Ankündigung von Tötungsabsichten gibt es die indirekten Leakings: etwa wenn ein Schüler sich demonstrativ für Waffen interessiert, Tarnkleidung trägt oder Zeitungsausschnitte über vergangene Amoktaten sammelt.
Der Leaker ist, so die Ergebnisse der Wissenschaftler, meist männlich, gehört den mittleren bis höheren Jahrgangsstufen an und findet sich an Schulen mit verschiedenen sozioökonomischen Hintergründen. Wie häufig Schüler Gewalt androhen oder als Fantasie ausleben, wertet Scheithauer derzeit noch aus:
"Wir haben aber festgestellt, dass es relativ selten zu solchen Vorkommnissen kommt, zu Leaking-Phänomenen kommt, und dass diese Leaking-Phänome durchaus zum Anlass genommen werden können, jetzt nicht gleich zu behaupten, es handelt sich um einen vielleicht gefährlichen Schüler, aber zumindest zu sagen, dass es vielleicht nicht normal ist, wenn ein Schüler Gewaltfantasien hat, und vielleicht hier den nächsten Schritt einzuleiten und mit dem Schüler intensiver zu arbeiten."
Die meisten Leakings beobachteten Scheithauer und Bondü im Frühling und Herbst. Auch Schulmassaker finden – wie depressive Entwicklungen und Suizidversuche - gehäuft zu diesen Jahreszeiten statt und regen andere Schüler zur Nachahmung an, so die Erklärung der Psychologen.
Ein Auslöser für Leaking können familiäre Probleme sein, etwa die Scheidung der Eltern. Bei späteren Tätern stellten die FU-Wissenschaftler Zeichen sozialer Isolation fest. Sie konsumierten häufig Gewaltvideos und kamen leicht an die Waffen ihrer Väter heran. Eine gravierende negative Lebenserfahrung wie ein Schulverweis lässt die Situation kippen.
Im internationalen Vergleich fand Rebecca Bondü wichtige Unterschiede:
"Mal als konkrete Beispiele finden wir in Deutschland, dass zu einem ganz, ganz großen Teil Lehrer zu den Opfern dieser Taten zählen, was natürlich drauf hindeutet, dass im Vorfeld dieser Tat ganz andere Dynamiken einfach geherrscht haben und dass auch eine ganz andere Tatmotivation zugrunde liegt. Wir sehen in Deutschland auch im Vergleich zu anderen Ländern, dass sich die Täter relativ häufig am Ende der Tat umgebracht haben oder es zumindest versucht haben. Es ist zum Beispiel auch noch so, dass in Deutschland sehr viele ehemalige Schüler zu Tätern werden, was sich auch von der internationalen Situation deutlich unterscheidet. Was ja auch etwas darüber aussagt, wie lange da bestimmte negative Gefühle gegenüber der Schule aufrecht erhalten werden."
Diese Informationen sollen nun an den Lehrer gebracht werden. Im Pilotprojekt "NETWASS" - Networks against School Shootings – will Herbert Scheithauer die Beteiligten in Berlin, Brandenburg und Baden-Württemberg wachrütteln. Was ist Leaking? Wann liegt tatsächlich eine Gefahr vor? Und wann handelt es sich nur um eine pubertäre Gewaltfantasie? Scheithauer über NETWASS:
"Dahinter steckt die Idee, dass wir glauben, dass sehr viele Informationen schlichtweg versickern, dadurch, dass unterschiedliche Beteiligte im Prozess davon zwar gewahr werden, aber auch mit ihren Verunsicherungen, Unklarheiten, Fehlbewertungen vielleicht dieser Informationen einfach nicht den nächsten wichtigen Schritt machen, nämlich aufeinander zu oder in Richtung Polizeimeldung und einer weiteren Bearbeitung beispielsweise eines Falls oder im Umgang mit dem Schüler."
Ziel des neuen Projekts ist eine wirksame Vernetzung von Lehrern, Schülern und Eltern einerseits mit der Polizei und den Schulpsychologen andererseits. So könnten über ein Leaking-Telefon auffällige Vorkommnisse gemeldet werden. Über das Meldesystem ließe sich zurück verfolgen, ob jemand schon zu Schulzeiten auffällig wurde.
Amokläufe sind selten. Dennoch ist die weitere Erforschung ihrer Vorzeichen wichtig, ist Herbert Scheithauer überzeugt:
"Schulen sind insbesondere nach den verheerenden School Shootings, die in Deutschland geschehen sind, extrem verunsichert, sowohl die Lehrer als auch die Schüler im Umgang mit dem Phänomen, was zu tun ist. Und diese Verunsicherung, die an jeder der in Deutschland existierenden Schule herrscht im Umgang damit, führt dazu, dass der Bedarf sehr groß ist und dass das BMBF ein sehr großes Interesse hat, ein Sicherheitsgefühl und ein Sicherheitsverständnis an den Schulen wieder zu verstärken über Handlungskompetenzen, die geschärft werden sollen."