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Reden hilft

Heute vor 75 Jahren nahm Dr. Bob Smith in Akron Ohio seinen letzten Drink. Dieses Datum markiert den Beginn der Anonymen Alkoholiker. Mit mehr als zwei Millionen Mitgliedern in 150 Ländern ist Alcoholics Anonymous heute die erfolgreichste Selbsthilfegruppe der Welt.

Von Barbara Jentzsch |
    Sie dulden keine Hierarchie und kennen keine Anwesenheitspflicht. Stellung und Ansehen der Person interessieren sie nicht. Alcoholics Anonymous, die Anonymen Alkoholiker, haben ihre eigenen Regeln und Umgangsformen. "Ich bin meines Bruders Hüter" ist ihr Credo, und dieses fürsorgliche Miteinander hat sie zur erfolgreichsten Selbsthilfegruppe der Welt gemacht. Mehr als zwei Millionen "genesende Alkoholiker" treffen sich regelmäßig, in 150 Ländern, auf allen Kontinenten. Ein Netzwerk mit rund 130.000 Anlaufstellen reicht von den modernsten Metropolen bis in die tiefste Provinz. Tag und Nacht finden Alkoholiker dort Hilfe in ihrem Kampf gegen die Volks- und Familienkrankheit .

    Am 10. Juni 1935 wurde Alcoholics Anonymous in Akron, Ohio gegründet. Bis heute beginnt jedes Treffen mit der Verlesung der Präambel :

    "Anonyme Alkoholiker sind eine Gemeinschaft von Männern und Frauen, die miteinander ihre Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen, um ihr gemeinsames Problem zu lösen und anderen zur Genesung vom Alkoholismus zu verhelfen. Die einzige Voraussetzung für die Zugehörigkeit ist der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören. Unser Hauptzweck ist, nüchtern zu bleiben und anderen Alkoholikern zur Nüchternheit zu verhelfen."

    Erfolgsstatistiken wollen die Anonymen Alkoholiker nicht vorlegen, doch man kann davon ausgehen, dass die Selbsthilfegruppe wohl Hunderttausende vor Elend und frühem Tod bewahrt hat. In den ebenfalls von ihr ins Leben gerufenen Gruppen "Al-anon" und "Ala-teen" wird auch den Angehörigen der Alkoholkranken geholfen.
    Dass hoffnungslose Trinker trocken werden und bleiben können, hatten die beiden Gründer der Anonymen Alkoholiker, der New Yorker Börsenmakler Bill Wilson und der Chirurg Bob Smith, - "Dr. Bob" - aus Ohio, am eigenen Leib erfahren. Ihr Verlangen nach Alkohol verschwand dann, wenn sie mit einem Leidensgenossen im Schutz der Anonymität, frei und offen über ihre Ängste und Probleme sprechen konnten.

    Als Zufall oder höhere Mächte die beiden in Akron zusammenführen, ist Bill Wilson dank des Einflusses einer christlichen Hilfsorganisation schon seit einigen Monaten trocken. Nächtelang tauschen die beiden Kettenraucher ihre Erfahrungen aus, Dr. Bob schreibt in seinen Erinnerungen:

    "Bill war für mich der erste Mensch, der aus eigener Erfahrung über Alkoholismus redete. Er wusste, worum es ging. Er sprach meine Sprache."

    Während der Arzt Bob Smith sich um die Alkoholkranken in Akron kümmert und Tausende umsonst behandelt, reist Wilson durch ganz Amerika, beseelt von der Idee, allen Alkoholikern der Welt helfen zu können. Die unzähligen Vorträge und ständigen Gespräche mit Alkoholikern dienen Wilson als Grundlage für die Bibel der Bewegung, das "Blaue Buch" mit dem spirituellen Zwölf-Schritte-Programm, das Alkoholikern den Weg zur Genesung zeigt. Es erscheint 1939, erhält exzellente Kritiken, bleibt jedoch über Jahre ein Ladenhüter.
    1941 kommt endlich der Durchbruch. Nach einem Artikel in der Saturday Evening Post schnellt die Mitgliederzahl von 2000 auf 8000. 1950 sind es schon 100.000 Dr. Bob stirbt im Alter von 71 an Lungenkrebs. Seine letzte Rede ist ein Appell.

    "Unser Programm ist simpel. Wir sollten es nicht mit Freudschen Komplexen oder Dingen vermanschen, die wissenschaftlich vielleicht interessant sind, mit unserer tatsächlichen Arbeit aber nichts zu tun haben. Die Essenz unserer zwölf Schritte sind die Liebe und der Dienst am Nächsten."

    Bill Wilson überlebt den Freund um 20 Jahre und schreibt drei weitere Bücher über den Weg aus der Sucht. Unterdessen sind die Anonymen Alkoholiker eine weltumspannende Organisation geworden. In Deutschland gibt es sie seit 1953. Sie akzeptieren keine Spenden und finanzieren sich hauptsächlich durch ihren Mammut-Verlag. Die Neuankömmlinge werden immer jünger und sind zunehmend mehrfach abhängig. Ihr 75-jähriges Bestehen werden die Anonymen Alkoholiker am ersten Juliwochenende in San Antonio, Texas, zelebrieren. Mit Kaffee, Tee, Saft oder Wasser. Die Bremse ist eingebaut: "Das erste Glas wird stehen gelassen".