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Reden über Wut

Wut ist ein Ausnahmezustand, der Ausnahmezustände schafft. In den meisten Kulturen wird dieses ungeheuer starke Gefühl deshalb gefürchtet und möglichst unter Kontrolle gehalten. Doch gerade in Zeiten der Verunsicherung tritt Wut überall auf der Welt wieder vermehrt zu Tage, ob als Zorn arabischer Demonstranten auf den Westen oder als Empörung von Kleinanlegern, deren Existenz in der Finanzkrise ruiniert wurde.

Von Regina Kusch und Andreas Beckmann |
    "Wut, sehr oft hat die mir viel Energie gegeben."

    "Heute, die Gruppen, die wütend sind, ... sind ... die breiten Massen."

    "Eine Wut, die ein Verständnis hat von Gerechtigkeit."

    "Es war zunächst mal in der gutbürgerlichen Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin, Deutschland, Adenauer, Zeit 50er-Jahre, war Wut was Unfeines. Man hat nicht wütend zu sein. Man hat sich zu beherrschen. Und ich glaube, 68 war eben der Ausdruck, jetzt haben wir uns genug beherrscht, jetzt wollen wir unsere Wut mal rauslassen. "

    Wenn der Filmemacher Volker Schlöndorff von der Wut der 68er-Generation erzählt, ist Genugtuung deutlich herauszuhören.

    "Ich glaube, dass der klassische Wutausbruch, also der Schrei, dass, wenn jemand endlich mal soweit gekommen ist, dass er ihn ausgestoßen hat, dass er sich doch sehr wohl fühlt. Dass er dann sagt: so! Jetzt bin ich jemand, jetzt bin ich jemand, der diesen Schrei ausgestoßen hat. Das ist erst mal noch gar keine politische Aktion, es geht erst mal darum, sich selbst zu retten, und dazu zu stehen."

    Der Ausbruch aus alten Konventionen war für Volker Schlöndorff und viele andere seiner Generation ein Akt der Selbstermächtigung. Die Wut gab den Anstoß und die Kraft, sich einzumischen in die Politik, Dinge zur Sprache zu bringen, die bis dahin tabu waren.

    Die Wut der 68er war angetrieben von der Empörung über den Vietnam- Krieg und von Vorwürfen gegenüber der Generation der Eltern, die zu den Verbrechen der Nazis geschwiegen hatten. Schlöndorff hält diese Wut auch heute noch für legitim, bis auf die extremen Auswüchse, die im Terrorismus gipfelten.

    "Das haben wir ja zum Teil miterlebt, wie Wut dann im Fall der wild gewordenen RAF zu wirklich sinnloser Gewalt und zum Schluss gegen sich selbst gewendeter Gewalt geführt hat. Es gab aber auch die Wut von Beuys und anderen, die die Partei der Grünen gegründet haben. Zu genau derselben Zeit. Und das ist ja auch aus einer Wut entstanden. Aber die ist eben dann in eine andere Richtung kanalisiert worden."

    Das Beispiel der 68er zeigt die Ambivalenz von Wut. Sie kann in Raserei enden und in einer Kette von sinnlosen Gewaltakten. Sie kann aber auch zur Emanzipation der Wütenden führen. Und sie kann den Anstoß geben dafür, dass Verhältnisse sich ändern, die von vielen als unerträglich empfunden wurden.

    Damit sie konstruktiv sein kann, muss Wut verhandelbar werden. Das setzt voraus, dass die Wütenden zur Besinnung kommen. Es fordert von denen, die mit der Wut konfrontiert sind, dass sie ihr, auch wenn sie sie ablehnen, eine gewisse Berechtigung zugestehen.

    Aber wann folgt der Wut ein Dialog? Die 68er nehmen für ihre Revolte in Anspruch, dass sich ihre Wut mit guten Argumenten gepaart hat. Doch ob Wut akzeptiert wird, hängt nicht nur von den Inhalten ab, auf die sie sich bezieht. Es geht auch darum, wer da wütend ist. Darauf wies die Soziologin Gurminder Bhambra von der University of Warwick hin.

    "Wer hat das Recht wütend zu sein? Das sind doch oft diejenigen, die schon eine relativ sichere Position in der Gesellschaft haben. Die können es sich leisten, ihrer Wut in aller Öffentlichkeit freien Lauf zu lassen. Wenn Sie die 68er Generation nehmen, das waren Kinder aus bürgerlichen Familien, die sich keine Sorgen machen mussten über ihr Einkommen und ihr späteres Fortkommen. Die waren Teil des Systems, über das sie sich empörten, und sie wussten, dass sie es auch bleiben würden. Aber wenn jemand schon ausgeschlossen ist aus der Gesellschaft, dann wird ihm nicht mal das Recht zugestanden, wütend zu sein und zu protestieren."

    Diese Erfahrung machten nach Bhambras Beobachtung derzeit fast überall in Europa die Einwanderer der zweiten oder dritten Generation. Ihre soziale Lage verschlechtere sich in fast allen Ländern. Aber wenn sie sich darüber beklagten, werde ihnen oft nur geantwortet, sie hätten sich nicht ausreichend integriert.

    "Wenn Sie sich die Geschichte der Einwanderung nach Europa ansehen, dann sehen Sie Menschen, die in der Hoffnung kamen, einen Platz zu finden, dazuzugehören zu der Gesellschaft, in die sie einwanderten. Nach Großbritannien zum Beispiel kamen die meisten in den 40er-, 50er- und 60er-Jahren als Bürger des Empires, sie hatten also das Recht, jederzeit nach Großbritannien einzureisen. Und dieses Recht auf Einwanderung wurde im Lauf der Zeit Schritt für Schritt beschnitten. Seit den 60er-Jahren musste man weiße Eltern haben, um aus dem Commonwealth nach Großbritannien einwandern zu dürfen. Alle Nicht-Weißen in Großbritannien wurden plötzlich als Fremde eingestuft, egal wie lange sie schon da waren. Seit den 70er-Jahren häufen sich dann die Übergriffe und Attacken weißer Engländer auf Farbige und dann wundert sich die Gesellschaft, dass die Einwanderer-Gruppen mit Wut antworten auf diese tägliche Repression."

    Nicht nur in Großbritannien, auch in anderen Ländern Europas sind die Einwanderungsgesetzte verschärft und das Asylrecht eingeschränkt worden. Auch dort wurden Ausländer angegriffen. Für Gurminder Bhambra drückt sich darin eine latente Wut der Mehrheitsgesellschaft gegen Fremde aus.

    Wenn Wähler in Großbritannien für die National Front votieren oder in Deutschland für die NPD, dann werde das hinterher von manchen Politikern und Medien nicht als Aggression gegen Ausländer interpretiert, sondern als Hilferuf einer einheimischen Unterschicht, um deren Sorgen man sich mehr kümmern müsse. Die Wut der Einheimischen werde so verschleiert und legitimiert, die der Einwanderer dagegen ignoriert.

    Für Gurminder Bhambra erscheint es eindeutig, dass westliche Gesellschaften die Wut mit zweierlei Maß messen. Sie hält es daher für verständlich, wenn Einwanderer darauf wieder mit Wut und Empörung reagieren.

    Wer Wütende als irrational ablehnt und Wut aus dem politischen Diskurs verbannen will, der nimmt oft gerade den Schwächsten eine wichtige Stimme. Diese These war mehrfach zu hören im Haus der Kulturen der Welt.

    Sie wurde auch unterstützt von Encarnacion Gutierrez, die in Ekuador und Deutschland Soziologie studiert hat und heute Transkulturelle Studien an der University of Manchester lehrt.

    Wut ist für sie eine Reaktion auf Entwürdigung. Entwürdigt werden Menschen zum Beispiel, wenn sie durch Hungerlöhne ausgebeutet oder wenn sie wegen Hautfarbe oder Geschlecht diskriminiert werden.

    Den Opfern einer Entwürdigung sprach Encarnacion Gutierrez ein Recht auf Wut zu. Alle, die Zeuge einer Entwürdigung werden oder von ihr erfahren, sieht sie ebenfalls aufgerufen zur Empörung. Denn erst wenn das Unrecht benannt werde, könne die Würde vielleicht wieder hergestellt werden.

    Encarnacion Gutierrez wollte mit ihrem Beitrag Wut rehabilitieren als ein Mittel, die Menschenwürde zu verteidigen.

    "Wut ist ein komplexes Thema. Und natürlich ging es darum, noch einmal eine Form von Wut zu thematisieren, die produktiv umgewandelt wird. Nicht Wut als etwas, was sozusagen zerstörerisch ist, und als ein negatives Gefühl ausgedrückt wird, sondern eine Wut, die sozusagen kanalisiert wird und dann als etwas verstanden wird, was eine Reaktion ist zu etwas, was man als ungerecht empfindet. Wut in Verbindung mit Würde ist eine würdige Wut. Es ist nicht eine Wut, die sich sozusagen unkontrolliert artikuliert, sondern eine Wut, die ein Verständnis und ein Verständnis hat von Gerechtigkeit."

    Nur solange sich jemand über Ungerechtigkeiten empört, könne in der Gesellschaft überhaupt ein Sinn für Gerechtigkeit wach gehalten werden, meinte die Soziologin aus Manchester. Wut ist für sie deshalb eine rebellische Kraft und als solche unverzichtbar.
    "Ich glaube in vielen Momenten, wo Protest organisiert wird, eine der springenden Kräfte darin ist die Empörung, und die Empörung ist mit der Wut gekoppelt."

    Wut bezeichnete Encarnacion Gutierrez als ein Mittel, um einen Dialog zu erreichen, auch wenn eine Seite sich taub stellt. Sie sei häufig ein Mittel der Ohnmächtigen, die anders kein Gehör fänden. Und deren Wut richte sich oft weniger gegen Menschen als auf Verhältnisse.

    Das klingt im ersten Moment, als könnte der Wut so die Schärfe genommen werden, weil sie niemanden mehr persönlich meint. Aber gerade, wenn die Wut sich nicht mehr auf konkrete Menschen bezieht, könnte sie besonders gefährlich werden. Denn ein Gefühl, das sich auf Verhältnisse, womöglich sogar auf die ganze Welt richtet, wird leicht grenzenlos. Und wer von solch einem Gefühl beherrscht wird, kennt dann keine Grenzen mehr.

    Auf diesen Zusammenhang wies Aaron Ben-Ze'ev hin. Er leitet das interdisziplinäre Zentrum für Emotionsforschung an der Universität Haifa.

    "Ich betrachte Wut nicht als Gefühl, sondern als Gefühlsstörung. Als eine Gefühlsstörung, die man vergleichen kann mit der Depression. Sowohl der Depressive als auch der Wütende verliert die Beziehung zu seinem Gegenüber, zu seiner Umwelt. Wenn sich eine Depression verfestigt, können Sie dem Menschen nicht helfen, wenn Sie ihm zeigen, dass die Welt doch gar nicht nur deprimierend ist. Das nimmt er gar nicht mehr wahr. Dasselbe passiert in der Wut. Es kommt gar nicht mehr darauf an, ob unser Gegenüber oder unsere Umwelt wirklich so schrecklich ist oder sich ändern könnte, um uns zu besänftigen. Das nehmen wir nicht mehr wahr. Wenn wir wütend sind, sind wir nur noch bei uns, wollen nur noch unsere Wut ausagieren, und die Wut vernebelt unsere Gedanken und unsere Sicht."

    Aaron Ben Ze'ev unterschied in seinem Vortrag zwischen Wut und Zorn. Der Zorn ist für ihn ein Gefühl, das in einer Beziehung verankert ist, das mit Nähe zu tun hat.

    Der Zornige ist unzufrieden mit einer Beziehung. Der Zornige will erreichen, dass sein Gegenüber sich ändert oder dass sich in der Beziehung der beiden etwas ändert. Der Zorn legt sich, wenn sein Gegenüber reagiert.

    "Wut ist dagegen viel extremer. Wut will einfach nur noch sich selbst ausdrücken. Sie will nicht mehr das Gegenüber oder die Umwelt beeinflussen oder verändern. Das rationale Denken hört auf. Es geht nur noch darum, die Empörung auszudrücken, ganz egal, was um einen herum passiert."

    Wenn ein Einzelner sich in die Wut hineinsteigert, läuft er vielleicht Amok. Wenn eine ganze Gesellschaft von Wut beherrscht wird, kann das zum Völkermord führen. Als historisches Extrem-Beispiel dafür nannte Aaron Ben Ze'ev den Holocaust.
    Angesichts der Wut der Nationalsozialisten hätten die Juden sagen oder tun können, was sie wollten, nichts hätte die Mörder aufgehalten. Denn es ging nicht mehr um reale Juden und was sie vielleicht Böses oder Gutes getan hätten. Es ging nur noch um die Nazis selbst, die für ihre Wut ein Objekt gesucht und gefunden hatten.

    "Wut muss nicht auf die Realität reagieren, eben weil es auf die Realität gar nicht mehr ankommt. Sie ist ein ganz starker Ausdruck des Unbehagens an der Welt und sie kann sich irgendein Objekt suchen, an dem sie sich austobt. Wenn sie lange genug kocht, kann sie sich zum Hass steigern und dann kann sie sehr kaltblütig werden. So wie im Holocaust, der sehr effizient ausgeführt wurde."

    Nicht zuletzt, damit sich solche Verbrechen nicht wiederholen, gilt in Deutschland, aber auch in anderen westlichen Demokratien, die Maxime, dass Gefühle nicht die Politik bestimmen sollen. Aber Gefühle lassen sich nun mal nicht aussperren aus gesellschaftlichen und politischen Prozessen.

    Am allerwenigsten die Wut. In den westlichen Wohlstandsgesellschaften mag sie noch weitgehend domestiziert sein. In den Ländern außerhalb Europas und Nordamerikas manifestiere sie sich zu einem Hass auf den Westen, konstatierte im Rahmen des Berliner Wut-Projekts der Schweizer Soziologe und Globalisierungskritiker Jean Ziegler.
    Der Hass und die Wut in den armen Ländern haben laut Ziegler eine lange Tradition, die zurückgeht in die Kolonialzeit. Die Ausbeutung ganzer Erdteile und die Verbrechen, damals begangen wurden, seien bis heute unvergessen.

    "Und aus diesem verwundeten Gedächtnis kommt das politische Bewusstsein heute, das die Widerstandsbewegungen schafft, das Entschuldigung und Rückerstattung verlangt. Diese beiden Forderungen treffen auf das betonharte absolut arrogante Herrschaftsbewusstsein ... der Herrschaftsklassen des Westens. Aber dieses Bewusstsein ist da, eine historische Kraft, die nicht mehr aus der Welt zu schaffen wäre."

    Wenn der Westen sich den Forderungen der anderen Länder weiter verschließe, werde der Hass nur noch mehr anwachsen. Die Wut nehme nicht ab, je weiter die Kolonialzeit zurückliege.

    Im Gegenteil. Nach Zieglers Beobachtungen nimmt sie sogar zu. Denn die neo-liberale Politik der vergangenen 20 Jahre werde in den armen Ländern wahrgenommen als Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln. Die Welt, so Ziegler, werde immer ungerechter.

    "Die Weltbank-Statistik sagt, dass letztes Jahr, 2009 die 500 größten transkontinentalen Privatkonzerne zusammen, alles Sektoren zusammen genommen, über 50, genau 52,2 Prozent des Weltbruttosozialproduktes kontrolliert haben. Das heißt, alle auf der Welt in einem Jahr produzierten Waren, Dienstleistungen, Patente, Kapitalien und so weiter, 52,2 Prozent des Weltbruttosozialproduktes. Diese Konzerne haben eine Macht, politisch, ökonomisch, wirtschaftlich, militärisch, wie es nie ein König, ein Kaiser, ein Papst in der Geschichte der Menschheit gehabt hat. Die Weltordnung, die entstanden ist, einerseits hat unglaubliche Reichtümer in den Händen einiger weniger monopolisiert und hat unglaubliches Elend in den Ländern der südlichen Hemisphäre angerichtet."

    Solange die Ungleichheit wächst, wächst auch der Hass auf den Westen, betonte Jean Ziegler.

    "Diese Wut äußert sich derzeit besonders stark in der islamischen Welt. Aber gerade dort erscheint es zweifelhaft, ob sie so klar auf eine Ursache zurückgeführt werden kann. Denn die muslimische Gemeinschaft ist sehr vielfältig und in ihr gibt es nicht nur bettelarme Länder, sondern auch sehr reiche Staaten. Das Unbehagen am Westen aber scheint sich überall auszubreiten."

    Der Islamwissenschaftler Stefan Weidner vermutete die Ursache in einer jahrhunderte alten globalen Konkurrenz um Hegemonie. Ebenso wie Christentum und Kapitalismus habe auch der Islam einen Anspruch auf Weltgeltung. Lange habe der Islam in diesem Wettstreit auch gut mithalten können. Neben den westlichen Kolonialmächten breitete sich schließlich auch das Osmanische Reich aus. Doch seit seinem Untergang nach dem Ersten Weltkrieg habe der Islam an Bedeutung verloren. Es verletze den Stolz und das Ehrgefühl vieler Muslime, dass der Anspruch ihrer Gemeinschaft auf Weltgeltung nicht mehr respektiert werde, so Stefan Weidner.

    "Dieser Anspruch ist ebenso wenig ein Phantasma wie der westliche, obgleich er natürlich, anders als der westliche, gegenwärtig fernab von jeder Realisierung ist. Darauf kommt es aber in unserem Fall nicht an. Worauf es ankommt, ist der Anspruch als solcher. Er bedeutet, dass man als Muslim in der islamischen Welt mit guten, historisch belegbaren Gründen das Gefühl einer Degradierung und des Verlusts eines über lange Zeiten historisch faktischen und überdies von der Religion verbrieften Anspruchs haben kann."

    Anders als Jean Ziegler ordnete Stefan Weidner ganz generell die heute um sich greifende Wut weniger den Ärmsten der Armen zu. Die heftigste Empörung sah der Islamwissenschaftler vielmehr bei denen, die einen bescheidenen Wohlstand erreicht haben, der aber bedroht wird durch die immer schnellere Globalisierung.

    "Die Wut der Bewahrung, die eintritt und wirksam wird, wenn ich glaube etwas verlieren zu können, ist, wie ich vermute, eine viel häufigere politische Manifestation von Wut als die progressive, auf Veränderung abzielende und revolutionäre Wut. Das ist im Übrigen leicht nachvollziehbar. Denn sobald mir etwas genommen wird, was immer mir gehörte und worauf ich glaubte, einen Anspruch zu haben – sei es ein Recht oder ein materielles Gut oder auch etwas Allgemeines wie eine gesunde Umwelt – so ist die Wut darüber direkter und unmittelbarer und meine Bereitschaft, mich dafür einzusetzen, in aller Regel größer als für Dinge und Rechte, die ich nie hatte, die ich kaum kenne und die nicht zu meinem Selbstbild gehören und die ich, sofern es nicht um das Elementarste handelt wie etwa Nahrung, Kleidung, Unterkunft, nicht oder nur abstrakt und theoretisch vermisse. Die aus der Verlustangst genährte Wut denjenigen Akteuren oder Entwicklungen gegenüber, die meinen Besitzstand, meine bestehende und mehr als erträgliche Situation gefährden oder von denen ich glaube, dass sie all dies gefährden – seien es Banker, seien es Umweltsünder, seien es Kommunisten, Linke oder der Islam – diese konservative Wut artikuliert sich natürlich auch viel leichter politisch. Sie weiß oder glaubt zu wissen, was sie will oder bewahren will. Und sie ist nie bloß individuell, weil stets größere Gruppen von der Veränderung bedroht sind."


    Als einen konservativen Abwehrreflex gegen Veränderungen bezeichnete der Moskauer Philosophieprofessor Michail Ryklin die Wut, die derzeit in Osteuropa virulent ist. Sie habe, anders als die Wut der 68er, keine rebellische Kraft. Und deshalb sei von ihr auch kein Impuls für sozialen Fortschritt zu erwarten, sagte Michail Ryklin.

    "Ich sehe den Unterschied zwischen Wut und Zorn. Das, was in den 60er-, 70er-Jahren passierte, erscheint für mich nachträglich viel mehr als Zorn. Das ist so eine Empörung gegen Ungerechtigkeit und sehr viel Positives dahinter. Die Leute sagen nicht nur 'wir verneinen das'. Sie sagen, wir schlagen was anderes vor. Und heutiger Zustand erinnert mich mehr an eine blinde Wut. Und die Träger dieser beiden Gefühle sind ziemlich verschiedene Gruppen. Damals waren es die Studenten, die Intellektuellen, die Künstler undosweiter ... Und heute, die Gruppen, die wütend sind, diese Gruppen sind gerade die breiten Massen. Die frustrierten Leute, nicht aus Kunstkreisen. Und ihre Wut ist häufig gegen Kunst, Kultur und Aufklärer-Projekte gerichtet. Das erleben wir heutzutage. In Russland hat es eine sehr scharfe Form angenommen. ... Heutzutage, was auf dem Spiel steht, ist gerade das Aufklärungs-Projekt."

    Wenn Wut blind wird, dann verliert sie schnell jede Rechtfertigung, betonte gegen Ende der Tagung Dominique Malaquais, Sozialwissenschaftlerin aus Harvard.

    "Ich denke, man muss sehr deutlich unterstreichen, dass die Tatsache, dass jemand Opfer ist, noch lange nicht heißt, dass er im Recht ist. Man darf Wut nicht romantisieren. Aus dem tiefen Wunsch, die eigene Unterdrückung abzuschütteln, wird schnell die Unterdrückung anderer, entsteht schnell Raserei und Gewalt Die Geschichte der Wut ist niemals eine schöne Geschichte und selten eine, die gut ausgeht."

    Das Bild, das die Tagung von der Wut zeichnete, war nicht nur wenig schön, es blieb auch disparat und diffus. Es gab viele kluge Statements zu einzelnen Aspekten, aber wenig Diskussionen. So als könnte man kaum einen Bezug herstellen zwischen den vielen Facetten der Wut.

    Vielleicht kann das nicht anders sein bei diesem Thema. Wut ist immer zuerst individuell und häufig bleibt man mit ihr allein. Fängt man an, über sie zu reden, löst sie sich oft schon auf.