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Referenden-Marathon in Mittelosteuropa:

"Unterwegs nach Europa" heißt eine Sendung im staatlichen litauischen Hörfunk. Die Redakteure bedienen alle Genres. Sogar ein Gewinnspiel ist dabei. Ein "tolles" Geschenk gebe es zu gewinnen, ein T-Shirt mit EU-Symbol und Aufschrift: "Ich stimme für die EU." Die Preisfrage zur EU-Bürgerschaft: A) Dürfen nur besonders berühmte Europäer EU-Bürger werden? B) Entscheidet jeder selbst, ob er EU-Bürger werden will, oder C) tritt die EU-Bürgerschaft automatisch neben die nationale Staatsbürgerschaft?

Jan Pallokat |
    Schon nach wenigen Takten Musik meldet sich der erste Hörer. Nummer drei sei richtig, sagt die Anruferin. Na klar, schallt es aus dem Radio zurück. Man müsse nun wirklich nicht berühmt sein, um EU-Bürger zu werden. Aber eine so schnelle Antwort habe man nun doch nicht erwartet.

    Der Irak liegt fern und beschäftigt die Menschen in Litauen nur am Rande, erläutert Kestutis Petrauskis, Hörfunkdirektor beim staatlichen litauischen Rundfunk. Stattdessen gehöre das Thema EU derzeit zum Tagesgeschäft der litauischen Journalisten.

    Wir behandeln im litauischen Rundfunk jeden Tag bestimmte Themen, machen Interviews, Berichte über die EU-Erweiterung, was Landwirtschaft, Wirtschafts- und Kulturpolitik betrifft. Das Interesse ist enorm groß. Es gibt viele Anrufe, die Zuhörerquote ist bei der EU-Thematik enorm groß.

    Auch in den meisten anderen Beitrittsländern avanciert die nahende EU-Mitgliedschaft zum innenpolitischen Spitzenthema. Denn in allen Staaten auf dem mittelosteuropäischen Festland soll das Volk bald über den EU-Beitritt abstimmen.

    Anders als bei normalen Wahlen geht es nicht um nur eine Legislaturperiode. Es geht um den grundsätzlichen Kurs, den die Regierungen der Beitrittstaaten in den 90er Jahren eingeschlagen haben. Es ist, wie es EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen ausdrückt, eine Entscheidung für die nächsten 100 Jahre.

    Ich glaube schon, dass es wichtig ist, eine so weitreichende Entscheidung auf die stärkstmögliche Legitimationsgrundlage zu stellen, die man haben kann, also den Volksentscheid, sei er nun bindend oder nur beratend. Besonders weil diese Länder junge Demokratien sind. Sie waren früher gezwungenermaßen abhängig, Satellitenstaaten. Und jetzt sollen sie schon wieder eine Teil ihrer Souveränität abgeben. Das ist psychologisch nicht ganz einfach.

    Europa steht vor einem Marathon der Referenden, der im März beginnt und im September zu Ende geht. Drei Staaten geben das Tempo vor: Malta, Slowenien und Ungarn stimmen ab, noch bevor die Beitrittsverträge Mitte April in Athen feierlich unterzeichnet werden.

    Den Anfang macht der Inselstaat Malta in zehn Tagen, am 8. März - ein in vielerlei Hinsicht besonderer Fall. Mit Slowenien am 23. März beginnt dann das Rennen auf dem ehemals sozialistisch regierten Festland. Ungarn folgt am 12. April.

    Vom Schnellstart der drei Länder hoffen – gute Ergebnisse vorausgesetzt – auch jene Staaten mitgezogen zu werden, die weniger positive Umfrageergebnisse vorzuweisen haben. Litauer, Polen, Tschechen und Slowaken werden wohl im Frühsommer abstimmen, wenn die Mai- und Junisonne die Menschen optimistisch macht. Die beiden Baltenstaaten Lettland und Estland bilden Mitte September die Nachhut. Politiker in Budapest, Ljubljana oder Vilnius äußern sich ähnlich, wenn sie ihre Teilnahme am Dauerlauf der Referenden erklären.

    Es ist eine politische Verpflichtung. Alle möglichen Parteien in vier Regierungen haben versprochen, es wird eine Abstimmung geben. Zweitens: Die ungarische Verfassung wurde vor kurzem modifiziert. Es ist nicht Pflicht, abstimmen zu lassen, aber doch: Es ist eine so große Veränderung der ungarischen Geschichte im täglichen Leben, dass eine Abstimmung der Bevölkerung wichtig sein sollte.



    Da Slowenien Volksabstimmungen gegenüber schon immer aufgeschlossen war, war es ein logischer Schritt, diese weitreichende Frage auch mit einem Referendum zu verbinden. Es war auch ein Versprechen der Politik.



    1940 wurde Litauen ohne Referendum Mitglied der Sowjetunion. Ich finde, für die Leute ist es gut, jetzt eines abzuhalten. Das geht nicht nur die Regierung etwas an oder das Parlament. Wir sollten aus unserer Geschichte lernen.

    Allerdings scheiterte schon so manches Referendum in der alten EU an Volkes Unwille: die Abstimmung über den Euro in Dänemark etwa, oder das Beitrittsreferendum in Norwegen. Und die Wähler in den ehemals kommunistisch regierten Ländern des Ostens gelten als ganz besonders unberechenbar.

    Zum Jahreswechsel erst alarmierte das Ergebnis der Präsidentenwahl in Litauen. Denn Präsident Adamkus, der wie kaum ein anderer mit der Westintegration des Landes verbunden ist, wurde völlig überraschend abgewählt. Die litauische Vize-Agrarministerin Dalia Miniataite:

    Die Leute denken, dass die außenpolitischen Fragen schon beantwortet sind. Wir sind praktisch schon Mitglieder in EU und NATO. Jetzt geht es um die inneren Probleme, um Einkommen, soziale Spannungen vor allem auf dem Land, Arbeitslosigkeit. Die Leute wollen mehr Veränderung. Deswegen wählten sie jemand neues, nicht Adamkus, der stark mit unserer Außenpolitik verbunden ist.

    Günter Verheugen verweist in Brüssel auf die Umfragen: Nirgendwo gibt es mehr Gegner als Befürworter. Nach dem Erweiterungsgipfel verzeichneten Meinungsforscher wieder klare Mehrheiten von oftmals 60 Prozent für den Beitritt. Man kann die Statistiken aber auch anders lesen: In den 90er Jahren wurde die "Rückkehr nach Europa" in Polen oder Ungarn noch von fast allen Menschen bejaht. Damals war Europa eher ein ferner Zukunftstraum als eine konkrete Perspektive. Wo wie in Bulgarien oder Rumänien der Beitritt noch lange auf sich warten lässt, sind die Quoten noch heute überdurchschnittlich hoch.

    Doch je näher der Beitritt selbst rückt, desto mehr weichen Illusionen und Träume den Mühen der Ebene. Dann fällt ins Auge, dass es auch Verlierer geben wird, Opfer des Strukturwandels, die Kleinbauern in Polen etwa oder jene, die an der künftigen Ostgrenze der EU derzeit noch schwunghaften Handel betreiben - mit Weißrussen oder Ukrainern.

    Die Gewinner sind schnell ausgemacht und stimmen in den Umfragen auch mit Ja: Es sind die eher jungen, gut ausgebildeten Städter mit Fremdsprachenkenntnissen, die die Chancen des Beitritts nutzen werden. Die Armen, Schwachen und Alten sind skeptischer. Das weiß auch die Politik. Doch der ungarische Staatssekretär Andras Hajdu reagiert ratlos auf die Frage, wie man ungarische Pensionäre von der Europäischen Union überzeugen könne.

    Schwierig. Da könnte die geschichtliche Argumentation eine Rolle spielen. Aber ich glaube, dass sie nicht mehr viel von der EU bekommen werden. Deshalb ist es schwierig, diese Leute zu überzeugen, dass sie doch mit Ja stimmen müssen.

    Obwohl ein Großteil der EU-Hilfen in die Strukturförderung und den ländlichen Raum fließt, steht die Bevölkerung in den Kleinstädten und Dörfern in sämtlichen Kandidatenstaaten der EU-Erweiterung reserviert gegenüber. Vor allem in stark agrarisch strukturierten Ländern wie Litauen und Polen ist das ein Problem. Die litauische Vize-Agrarministerin Miniataite muss noch viel Überzeugungsarbeit leisten.

    Die Bauern sind ein besonderer Menschenschlag. Wir müssen mit ihnen zusammenarbeiten, lange mit ihnen reden. Es reicht nicht, ein paar Zeitungsartikel und Broschüren dort liegen zu lassen. Wir müssen sie überzeugen, Auge in Auge mit ihnen reden. Wir haben viele Bauern in Litauen. 40.000 Bauernfamilien sind registriert. Ein Drittel der litauischen Bevölkerung lebt auf dem Land: Das ist eine echte Herausforderung für uns.

    Zumal die Höfe im Schnitt nur 15 Hektar groß sind – viel zu klein, um in der EU zu überleben, Finanzhilfen hin oder her. Und auch zig Tausenden polnischen Kleinsthöfen droht das Aus in einer Welt, in der es um Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit geht.

    Doch auch in breiteren Bevölkerungskreisen ist die EU-Euphorie der 90er Jahre einer gewissen Ernüchterung gewichen. Während der Beitrittsverhandlungen wurde schnell klar, dass Brüssel nicht nur gibt, sondern auch einiges verlangt. So setzte die EU gegen den Mehrheitswillen in Litauen und der Slowakei durch, dass die dortigen Atomkraftwerke geschlossen werden. Und auch das Brüsseler Drängen, mit den örtlichen Minderheiten pfleglich umzugehen, stieß nicht überall in Riga oder Budapest auf Begeisterung. Ulrike Guérot, Europa-Expertin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, trifft vor Ort immer wieder auf einen schwer hinkenden Vergleich: Den von Brüssel als dem neuen Moskau.

    Das liegt gerade daran, dass die EU als neue Ordnungsmacht empfunden wird. Man hat ja den Beitrittskandidaten abverlangt, den aquis communautaire zu erfüllen, also 8.000 Seiten Legislativtexte umzusetzen in nationales Recht. Und das wird schon in Osteuropa teilweise als Diktat verstanden. Das ist manchmal auch Geschichtsklitterung am Werk, dass man nicht mehr differenziert zwischen dem, was vorher war, und unter welcher Vorgabe man jetzt in die EU will, die ja Gestaltungsspielräume bietet.

    Weil außer in Polen nahezu alle Parteien in den Kandidatenstaaten immer für den EU-Beitritt waren, kam eine ernsthafte Diskussion über Chancen und Risiken nie so recht in Gang. Jetzt aber zwingen die nahenden Volksabstimmungen die Politiker in den Beitrittsstaaten, zweifelnden Bürgern wirklich argumentativ zu begegnen. Bisher habe man das Feld den EU-Gegnern überlassen, zürnt in Brüssel Günter Verheugen.

    Auf den letzten Drücker erstellte Werbekampagnen sollen in den nächsten Monaten Versäumtes nachholen. Warschau zum Beispiel will umgerechnet rund 650.000 Euro in die Informationskampagne rund um das Referendum pumpen; Tschechien kostet die Informationskampagne 200 Millionen Kronen, das entspricht rund siebzig Eurocent pro Einwohner. Die 500 Bibliotheken des Landes sollen mit Informationsbroschüren ausgestattet werden, über TV-Spots im Privatfernsehen wollen die Strategen in Prag auch politisch Uninteressierte für das sperrige Thema gewinnen.

    Die EU ist kein Waschmittel, weiß Ludek Zahradnicek, der im Prager Außenministerium die richtige Informationsstrategie ausbrüten soll. Zum einen ist die Thematik komplex und nur schwer auf einen griffigen, überzeugenden Nenner zu bringen. Zum zweiten reagiere die Bevölkerung in Tschechien wie auch in den anderen einst kommunistisch regierten Staaten naturgemäß allergisch auf alles, was auch nur ansatzweise nach staatlicher Propaganda aussieht.

    Wir wollen den Leuten möglichst objektive Informationen vermitteln. Wenn wir etwas verschweigen, werden es unsere Gegner ausnutzen. Wir wollen nichts retuschieren, nichts versprechen, was man dann nicht erreicht.

    Dabei haben zahlreiche EU-freundliche Nichtregierungsorganisationen den Boden bereits bestellt. Als das Prager Außenministerium einen Aufruf an Nicht-Regierungsorganisationen richtete, bei der Referendums-Kampagne mitzumachen, meldeten sich laut Außenministerium mehr als 300 Organisationen.

    In Polen rollen bereits seit Jahren "Eurobusse" durch die Provinz, auch dies eine Initiative einer Nicht-Regierungsorganisation. Die Busse sind bevorzugt in ländlichen Regionen unterwegs, wo sonst fast ausschließlich der national-klerikale und EU-feindliche Sender Radio Maryja zur Meinungsbildung beiträgt. Vom südpolnischen Kielce aus ging Geschichtsstudent Stanislaw Mirski mit dem Eurobus auf Tour.

    Wir haben junge Leute getroffen, Schüler. Die wussten einfach alles über die EU, konnten die Namen sagen jedes einzelnen Kommissionsmitglieds. Aber sie kannten nicht die Chancen für junge Leute, die Jugend- und Austauschprogramme. Sie wissen nicht, warum wir überhaupt Mitglied in der EU werden. Das ist traurig.

    Unlängst hat die polnische Regierung einen eigenen Eurobus auf Reisen geschickt, erzählt Mirski. Beladen mit Infoblättern, habe der nur seine Tour gemacht, ohne zum Dialog einzuladen. Mirski, der seine Magisterarbeit über das Scheitern des Beitrittsreferendums in Norwegen geschrieben hat, stellt fest: Die polnische Regierung macht dieselben Fehler wie seinerzeit die Norweger. Die Kampagne komme zu spät, zu abstrakt und staatstragend daher.

    Einer unserer Freunde an der Uni ist ein EU-Gegner. Sie haben nicht die Möglichkeiten der Regierung, nicht so viel Geld, aber sie haben die besseren Argumente. Sie produzieren nicht wie am Fließband Flugblätter, auf denen es heißt: 'Die EU ist gut.’ Sie sagen: Wenn wir in die EU kommen, dann werden wir alle englisch reden, und die polnische Sprache wird vergessen.

    In keinem Beitrittsland sind die EU-Gegner so gut organisiert wie in Polen, dem mit Abstand größten unter den Beitrittsstaaten. Während anderswo praktisch alle politischen Parteien geschlossen für den Beitritt votieren, haben es in Polen mit der Bauernpartei "Selbstverteidigung" und der "Liga der polnischen Familien" gleich zwei Parteien ins Parlament geschafft, die der EU negativ gegenüberstehen.

    In anderen Ländern stehen EU-Gegner wie Drabik Janos mit einem Häufchen Gesinnungsgenossen dagegen ziemlich allein da. Der Ungar sendete einst vom deutsch-amerikanischen Exil aus für den US-Sender "Radio Free Europe" gegen den Kommunismus in seinem Land an und erhielt eine Auszeichnung von Bill Clinton. Heute wettert Janos gegen das "internationale Geldkartell", das seiner Meinung nach die junge ungarische Demokratie fest im Griff hält.

    Die ungarische Wirtschaft wird einer der großen Verlierer der EU und des Euro sein. Ich möchte einige Argumente nennen: Anstieg der Konkurse bei kleinen und mittleren Betrieben, mehr Arbeitslosigkeit. Der weiche Euro führt zur Abwertung der Sparguthaben, Löhnen und Pensionen.

    Vor allem versprengte Akteure vom rechten oder linken Rand artikulieren in Ungarn, aber auch in Slowenien, Tschechien und den baltischen Staaten grundsätzliche Bedenken am Weg in den Westen. Um ihnen das Feld nicht alleine zu überlassen, schlagen nun viele Intellektuelle in die gleiche Kerbe. An der Universität Ljubljana in Slowenien sind nach Auskunft des Studentenvertreters Marko Glazar die meisten Studenten für den EU-Beitritt. Gegen den Strich wird weiter oben in der Uni-Hierarchie gebürstet.

    Einer der prominentesten EU-Skeptiker ist unser Rektor. Er ist Ökonom, und er hat wirtschaftliche Argumente. Er sagt, Slowenien könne auch gut auf eigenen Beinen stehen. Er ist sehr bekannt, aber da alle anderen das Gegenteil sagen, kommt er nicht recht durch.

    In sämtlichen Beitrittsstaaten machen den harten Kern der EU-Gegner nach Umfragen allenfalls 15, selten mehr als 20 Prozent aus. Mehr Sorgen bereitet den Strategen in Prag, Budapest oder Warschau daher die Abstimmungsmüdigkeit der Menschen in einer Frage, die bereits entschieden scheint.

    Und so wachsen Zweifel nicht so sehr an der EU selbst, als vielmehr an der Volksabstimmung als Mittel zur Willensbildung. Jaka Erkan, Mathematiklehrer an einem Gymnasium in Ljubljana, spricht aus, was viele denken:

    Unsere politischen Führer haben Angst, die letzte Verantwortung zu tragen. Die bereiten die ganze Zeit den Beitritt zur Union vor. Aber jetzt, wo sie sagen müssten: jetzt sind wir da! - da haben sie Angst.

    Es wird wohl kein triumphales 99,9-prozentiges Ja für die EU geben, eher ein nachdenkliches Ja, aus Einsicht in die Notwendigkeit. Die Geräuschlosigkeit, mit der die Bürger der jungen Demokratien im Osten dem EU-Beitritt vermutlich zustimmen werden, darf aber schon verwundern.

    Denn es handelt sich bei den meisten dieser Staaten um kleine Länder. Nicht viel mehr als zehn Jahre ist es her, dass die Menschen, von Nationalgefühl und Freiheitssehnsucht erfüllt, teilweise unter Lebensgefahr für die nationale Unabhängigkeit kämpften. Dass sie einen Teil der gerade erstrittenen Souveränität nun schon wieder an einen Staatenbund abgeben, ist den meisten Menschen durchaus bewusst.