Archiv

Reformation quergedacht
Bodo Ramelow: "Der Glaube ist prägend für mein Leben"

"Ich bin bekennender Christ", sagte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) im Dlf. Dennoch sei er überzeugt, dass kein höherer Beauftragter einer Religion das Recht habe, vorzugeben, wie man zu leben habe. "Wir müssen uns vor uns selber rechtfertigen", Ramelow.

Bodo Ramelow im Gespräch mit Jörg Münchenberg |
    Jörg Münchenberg: 500 Jahre Reformation – das Jubiläum ist in ganz Deutschland ausgiebig gewürdigt und gefeiert worden, mit Diskussionsrunden, Ausstellungen und vielem mehr. Und trotzdem bleibt die Frage, was Luthers Vermächtnis eigentlich heute noch ausmacht, welchen ganz konkreten Einfluss dieses Vermächtnis bis heute auf persönliche Entscheidungen und Positionierungen hat. Welche Rolle spielen etwa Begriffe wie Gnade, Gewissen oder Widerspruchsgeist im Leben eines Spitzenpolitikers wie etwa beim Ministerpräsidenten von Thüringen, Bodo Ramelow, den ich nun am Telefon begrüße? Einen schönen guten Morgen.
    Bodo Ramelow: Guten Morgen!
    Münchenberg: Herr Ramelow, welche Rolle spielt der Glaube bei Ihren täglichen Regierungsgeschäften?
    Ramelow: Es ist prägend für mein Leben. Ich bin bekennender Christ und komme aus einer uralten protestantischen Familie. Da ist es so ein bisschen in die Wiege gelegt und im Gencode mitgegeben. Aber auch meine Zeit als Gewerkschafter oder als Schulsprecher, Klassensprecher – ich habe mich immer engagiert und dieses miteinander tun und miteinander Verantwortung tragen war etwas, das mir meine Mutter sehr vermittelt hat.
    Münchenberg: Nun gibt es ja gerade in der Politik viele Sachzwänge. Sie selbst führen ein rot-rot-grünes Bündnis an. Da muss man ja ständig Kompromisse machen, manchmal vielleicht auch faule Kompromisse. Ist da für Glaube überhaupt noch Platz?
    Ramelow: Das ganze Leben ist geprägt von Kompromissen, weil es ist gut, wenn man Idealvorstellungen hat, wenn man auch Visionen hat, die man auch formuliert. Aber die Schritte in die richtige Richtung sind es doch, die man täglich gehen muss, und da ist es ganz gut, ein Gefühl dafür zu haben, dass es noch mehr gibt als das, was uns die Schulweisheit lehrt.
    Münchenberg: Gab es denn in Ihrem politischen Leben eine Situation, wo Ihr persönlicher Glaube Sie zu einer anderen Entscheidung geführt hat, zum Beispiel zu einer anderen Entscheidung geführt hat, als die Partei die Linie vorgegeben hat? Luther hat ja mal gesagt, hier stehe ich, ich kann nicht anders.
    Ramelow: Ja. Ich erinnere mich ziemlich gut an einen Bundesparteitag meiner Partei, als das Bundestagswahlprogramm nicht für diese Wahlperiode, sondern die Periode davor zur Abstimmung stand. Und es waren in das Programm Themen mit aufgenommen worden wie Religionsunterricht in der Schule und Fragen der Kirchen- und Staatsbeziehungen und Ähnliches. Und ich fand das sehr unangenehm, wie die Art und Weise war, wie das behandelt worden ist, wie auf einmal mit sehr lautem atheistischem Pathos über Empfindungen von Menschen, die sich zum Glauben bekennen, wie da einfach drüber weggebügelt worden ist.
    Da habe ich am Ende gegen dieses Programm mich entschieden und habe als eine der ganz wenigen Stimmen gesagt, ich kann 99 Prozent des Programms tragen und teilen, aber dieses eine Prozent, darüber kann ich nicht hinweg. An der Stelle habe ich dann auch wirklich gegen das Programm entschieden und habe das dann am darauffolgenden Tag auf Bitten meiner Parteivorsitzenden Katja Kipping dem Parteitag auch erklärt und mich auch erklärt, weil ich gesagt habe, wir können mit Menschen und dem Glauben der Menschen so nicht umgehen, wenn wir Glaubensfreiheit auf einmal administrieren wollen oder meinen, per Parteitagsbeschlüsse wegdefinieren zu können.
    "Nicht einfach in den rassistischen Topf werfen"
    Münchenberg: Hat das die Partei trotzdem akzeptiert? Oder wenn man es ein bisschen breiter fasst: Gerade in Ostdeutschland haben sich ja viele Menschen von der Kirche abgewendet. Und da ist nun ein Ministerpräsident, der sagt, ich lasse mich von meinem Glauben leiten. Werden Sie da nicht oft auch scheel angeguckt?
    Ramelow: Ehrlich gesagt nicht, weil das Problem ist kein ostdeutsches Problem. Tatsächlich, Sie haben recht: Ostdeutschland ist geprägt davon, dass 75 Prozent mit Kirche nichts am Hut haben. Ob sie tatsächlich mit Religion nichts am Hut haben, das darf dahingestellt sein. Sie haben einfach mit Kirche und der Institution überhaupt keine Verbindung mehr und finden auch die Wege zum Glauben nicht oder nur in schwierigen Situationen. Ich habe durchaus in Ostdeutschland Situationen erlebt, bei denen auf einmal das Angebot der Kirche und des Glaubens eine große Rolle gespielt haben. Der Arbeitskampf in der Kaligrube Bischofferode ist geprägt gewesen – das war im katholischen Eichsfeld Anfang der 90er-Jahre, einer der schwersten Arbeitskämpfe in Ostdeutschland. Die ökumenischen Sonntagsandachten haben den Kalikumpeln die Kraft gegeben und ich war beeindruckt, wie diese ökumenischen Gottesdienste diese Kumpel aufgerichtet haben, wie dieser Arbeitskampf auch geprägt war von Menschen, die zu ihrer Religion sich bekannt haben.
    Es gibt ein zweites, sehr tragisches Ereignis. Das war das Schulmassaker in Erfurt am Gutenberg-Gymnasium. Als am Abend alle Kirchen in Erfurt auf waren und alle Kirchen voll waren, war das ein Zeichen dafür, dass Menschen mit ihrer geschundenen Seele auch einen Ort suchen, bei dem sie Heilung sich erwarten. Kirche und auch der Ort der Kirche kann ein Raum der Stille, der Andacht und des wieder Gesundens werden.
    Münchenberg: Schauen wir noch mal auf die aktuelle Politik, Herr Ramelow. Die AfD hat jetzt bei den Bundestagswahlen in Thüringen den zweiten Platz belegt. Im Vergleich zu den Landtagswahlen konnte sie ihr Ergebnis fast verdoppeln. Die Partei gilt ja in Teilen als rassistisch und offen rechtsradikal. Kann man da nicht vielleicht auch mal vom Glauben abfallen, weil eine so umstrittene Partei trotzdem bei den Wählern so populär ist?
    Ramelow: Wenn man sich mit den Wählerstrukturen der AfD genauer auseinandersetzt, wird man feststellen: Erstens, der Protest ist ein gesamtdeutscher Protest. Wenn man jahrzehntelang den Sozialstaat neoliberal opfert, fast religiös neoliberal zerstört, systematisch den Menschen den Halt nimmt, dann gibt es irgendwann eine Übersprunghandlung. Auch wenn ich jetzt falsch finde zu glauben, dass man das mit der AfD adressieren könnte, aber es ist eben auch etwas, das ganz Deutschland bewegt, das offenkundig eine Hinwendung zur sozialen Sicherheit aus dem Auge verloren worden ist. Und wenn eine Verkäuferin in einem Supermarkt ihr Leben lang arbeiten geht und am Ende in der Altersarmut landet, wenn eine Friseurbeschäftigte ihr Leben lang arbeiten geht und ihre Arbeit wirklich gut leistet und am Ende in der Altersarmut landet und diese Empfindung als zutiefst ungerecht empfunden wird, dann darf man sich nicht wundern, wenn auf einmal ein ganz seltsamer Protest adressiert wird. Deswegen: Man darf die Wählerinnen und Wähler nicht einfach in den rassistischen Topf werfen, sondern man muss sich anschauen, dass dort Protest adressiert wurde. Und dieser Protest sollte auch wieder uns dazu bringen, dass wir nicht nur Banken retten, sondern dass wir die Gesellschaft zusammenführen müssen. Und das geht nur, wenn ein starker Sozialstaat wieder ein Thema wird, bei dem man wirklich sagt, Menschen, die in unserer Gesellschaft leben, im christlichen Sinne, keiner darf zurückgelassen werden, kein Kind darf unter Armutsbedingungen groß werden und damit Chancen genommen kriegen. Wir brauchen jedes Talent in unserer Gesellschaft und der Staat – das ist die Aufgabe von Politikern – muss sich hier wieder stärker engagieren. Deswegen: Ich sehe den Wahlsonntag als Herausforderung an alle Parteien, auch an meine, denn ein Teil des Protestes in Ostdeutschland haben früher wir als PdS getragen. Solange Pfarrer Hintze rote Socken in Kameras gehalten hat, solange wir als PdS ausgegrenzt waren, solange waren wir auch für diese Menschen eine Adresse des Protestes in Richtung der Regierenden. Dann habe ich irgendwann 2005 aber deutlich in meiner Partei gesagt, es wird nicht reichen. Der Protest alleine wird uns als Partei nicht tragen. Wir werden uns also gesamtdeutsch aufstellen müssen und haben dann einen Verschmelzungsprozess mit der WASG gemacht zu Die Linke, und bei der letzten Bundestagswahl hat Die Linke gesamtdeutsch 540.000 Stimmen dazugewonnen.
    "Als Ministerpräsident habe ich nicht die Interessen meiner Partei zu vertreten, sondern die Interessen des Freistaates Thüringen "
    Münchenberg: Herr Ramelow, lassen Sie uns vielleicht noch mal den Bogen schlagen. Das wird jetzt zu politisch. Wir wollen über Reformation reden. Martin Luther steht ja auch für Gnade. Das ist sicherlich einer seiner Kernbegriffe. Aber man muss ja auch sagen, sicherlich ist das keine hilfreiche Anleitung für einen Politiker, der ja auch seine Interessen vertreten muss oder die Interessen seiner Partei vertreten muss.
    Ramelow: Als Ministerpräsident habe ich nicht die Interessen meiner Partei zu vertreten, sondern die Interessen des Freistaates Thüringen und damit aller Bürgerinnen und Bürger, auch derjenigen, die mich nicht gewählt haben und möglicherweise mich auch überhaupt nicht leiden können.
    Deswegen ist für mich die Frage, wie man mit einem Begriff wie Gnade umgeht, ein Thema, bei dem ein Staat sich immer daran messen lassen muss, ob er auch in der Lage ist, Gnade zu gewähren, nämlich Gnade dann, wenn das Recht das Gegenteil ausdrückt, wenn das Recht sagt, wir müssen junge Leute, die bei uns angekommen sind und den Status als Flüchtlinge nicht haben, wir müssen diesen endlich die Möglichkeit geben, Deutsch lernen zu können und einen Beruf bei uns erlernen zu können, um eventuell dann, wenn sie in ihre Heimat zurückkehren, sie wenigstens mit einer besseren Bildung zurückkehren zu lassen, und nicht einfach sagen, wir lassen sie jahrelang in unserem Land leben, aber so, dass sie ihre Berufsausbildung nicht machen können, die Sprache nicht erlernen und damit der Rassismus auch angeheizt wird durch staatliches Verhalten.
    Da würde ich mir ein bisschen mehr Gnade wünschen und da würde ich mir auch Altfallregelungen wünschen, dass alle, die da sind, auch eine Chance haben, sich besser in unser Land integrieren zu können.
    "Ich wünsche mir eine schnelle Regierungsbildung"
    Münchenberg: Nun steht Luther ja auch für Selbstzweifel. Wie oft hinterfragt ein Ministerpräsident sein eigenes Handeln? Nach außen hin muss man ja eher entscheidungsfreudig und selbstsicher auftreten.
    Ramelow: Ja, in der Sache muss man entscheiden. Irgendwann müssen Prozesse auch zu Ende geführt werden. Die Bürger erwarten, dass man in einer überschaubaren Zeit zu einem Ergebnis kommt. Schauen wir uns mal an, wie die Bundesregierung sich jetzt bildet. Als Ministerpräsident des Freistaates Thüringen wünsche ich mir eine schnelle Regierungsbildung und ahne, dass das ein sehr langer Prozess wird. Das dürfte dann am Ende wieder den Falschen Wasser auf die Mühlen sein. Deswegen muss man da Kompromisse finden, unabhängig davon, ob mir das Farbenspiel parteipolitisch gefällt oder nicht.
    Die Frage der Selbstzweifel – man sollte alles anzweifeln. Man sollte auch sich selber in seinen Positionen anzweifeln. Wenn man einfach nur sagt, diese Vision, die ich formuliert habe, ist unanzweifelbar, das wäre doch eine Überheblichkeit. Die würde gar niemand dienen. Deswegen sollte man sich erkennbar machen, an welchen Stellen man auch eine Entscheidung trifft, selbst wenn man der Meinung ist, dass es noch drei, vier, fünf weitere Alternativen gegeben hätte, wenn die Bedingungen gestimmt hätten. Und dieses "Hätte, hätte" kommt dann zu dem berühmten Satz "Hätte, hätte Fahrradkette". Ich glaube, man muss Entscheidungen treffen und deutlich machen, dass wir Menschen sind und nicht über der Menschlichkeit stehen.
    Münchenberg: Herr Ramelow, was würden Sie sagen ist das stärkste, das wichtigste Leitmotiv in Ihrem politischen Handeln, wenn Sie an die Reformation, wenn Sie an Martin Luther denken?
    Ramelow: Tatsächlich zur Kenntnis zu nehmen, wie sehr Luther und die Reformation unser Gemeinwesen beeinflusst hat. Und da bleibt es dabei, den Weg des Menschen zu seinem eigenen Glauben zu ebnen als persönlichen Auftrag, dass uns da niemand dazwischen gerät oder kein höherer Beauftragter einer Kirche oder einer Religion uns zu sagen hat, wie wir zu leben haben, sondern wir müssen es vor uns selber rechtfertigen. Und ich bin froh, dass ich da in mir noch einen festen Glauben habe, dass ich sage, da gibt es noch etwas Höheres, und dieses Höhere will ich nicht genau beschrieben haben. Ich will einfach für mich akzeptieren, ich muss mit mir klarkommen und der Maßstab des Handelns, um mich um Menschen kümmern zu können, dieser Maßstab ruht in mir, und das ist Mitmenschlichkeit und Humanität.
    Münchenberg: … sagt Bodo Ramelow, Ministerpräsident von Thüringen, zum Auftakt der Deutschlandfunk-Woche "Reformation quergedacht". Vielen Dank, Herr Ramelow, für das Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.