Donnerstag, 28. März 2024

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Reformation quergedacht
In Feindesland

Die Papstkritik hatte auch im Land des Papstes Erfolg: 1518 erschienen die ersten Schriften Luthers auf Italienisch. Vor allem Ordensleute breiteten die reformatorischen Gedanken aus. Dann schlug die Inquisition zurück.

Von Corinna Mühlstedt | 12.10.2017
    Die Geschichte der Lutheraner in Italien beginnt genau genommen im Jahr 1511: Damals wanderte Martin Luther als junger Augustiner-Mönch im Auftrag seines Ordens über die Alpen und erreichte nach vielen Zwischenstationen in italienischen Klöstern die General-Kurie der Augustiner in Rom.
    Die Gespräche, die Luther und seine italienischen Mitbrüder damals zu Themen der Kirchenreform führten, sind nicht überliefert. Fest steht nur: Die Thesen, die der junge Dozent ab 1517 in Wittenberg publizierte, fanden südlich der Alpen rasch Anhänger. Die Florentiner Historikerin Silvana Seidel Menchi hat diese Epoche der Geschichte erforscht:
    "Die sogenannte 'evangelische Bewegung' beginnt in Italien 1518, dem Jahr, in dem die ersten Schriften Luthers auf Italienisch veröffentlicht werden. Eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung des protestantischen Gedankenguts spielen die Ordensprediger, allen voran die Augustiner. Diese 'lutherischen Ordensbrüder' haben bald einen vorsichtigen Predigtstil ausgearbeitet, der jeden Angriff auf die kirchliche Autorität vermeidet. Vielmehr verbreiten sie die Botschaft der Reformation in Italien als befreiende und freudige Nachricht."
    Reformationsschriften: "Heimlich unter der Theke verkauft"
    Die Impulse des Reformators wandern rasch von Kloster zu Kloster. Venedig wird ein Zentrum der Bewegung: In der venezianischen Renaissance-Kirche Santo Stefano, die im 16. Jahrhundert zum einem mächtigen Konvent der Augustiner-Eremiten gehört, liest man auf einer Inschriften-Tafel:
    "1519 beherbergte dieses Kloster ein Generalkapitel der Augustiner-Eremiten. Mehr als 1.000 Delegierte aus ganz Europa kamen zusammen. Auf der Tagesordnung stand die 'Questione di Lutero' – der 'Fall Luther'."
    Die Kunst des Buchdrucks, die durch deutsche Kaufleute nach Venedig kam, trug ebenfalls zur Verbreitung der lutherischen Gedanken bei. Aus Vorsicht, so der venezianische Historiker Friedjof Roch, wurden reformatorische Schriften aber meist nur in italienischer Kurzfassung veröffentlicht und mit Pseudonymen versehen:
    "Unter der Hand kamen sehr viele Bücher nach Venedig. Das war ein Umschlagplatz, Venedig. Und die wurden hier nachgedruckt und fanden hier reißende Abnahme. Die wurden dann heimlich in den Buchgeschäften unter der Theke verkauft, und das um 1519."
    1532 erscheint in Venedig - trotz offizieller Verbote - sogar die erste Bibelübersetzung auf Italienisch. Zwei Jahre vor der Bibelübersetzung Martin Luthers in Deutschland.
    "Man sehnte sich nach einer biblischen Frömmigkeit"
    Die reformatorischen Gedanken breiten sich in den Städten Nord-Italiens wie ein Lauffeuer aus: sei es in Udine oder Verona, Bergamo oder Mantua, Genua oder Bologna. In der Bewegung spiegle sich ein tiefes Bedürfnis der damaligen Zeit, erklärt der römische Kirchenhistoriker Paolo Ricca:
    "Man respektierte in Italien zwar die Dogmen und die Struktur der Kirche, sehnte sich aber nach einer ursprünglichen biblischen Frömmigkeit. Äußerliche Riten verloren für die Menschen zunehmend an Bedeutung zugunsten einer innerlichen Spiritualität. Man suchte nach seelischen Erfahrungen und einem direktem Kontakt zu Christus. Auch deshalb waren viele Freunde des evangelischen Gedankenguts Mönche: Augustiner, Benediktiner, Franziskaner oder Kapuziner. Diese Ordensleute lasen die Gedanken Luthers und später auch Calvins weil sie ihrer eigenen Sehnsucht entsprachen."
    Professor Paolo Ricca spricht vor dem Plenum der Waldenser-Synode in Torre Pellice, Italien, am 23.08.2011. Der Theologe, Autor zahlreicher wissenschaftlichen Bücher, gehört zu den bekanntesten Persönlichkeiten der Waldenserkirche im Ausland
    Paolo Ricca gehört zu den bekanntesten Persönlichkeiten der Waldenserkirche. "Viele Freunde des evangelischen Gedankenguts waren Mönche", sagte Ricca im Dlf. (imago/epd)
    Namhafte Ordens-Prediger wie der Kapuziner Bernardino Ochino oder der Benediktiner Benedetto da Mantova verbreiten die Impulse innerhalb weniger Jahre über den ganzen italienischen Stiefel bis nach Sizilien. Durch Bischöfe und Kardinäle, aber auch durch einflussreiche Adlige wie die Fürstinnen Giulia Gonzaga und Vittoria Colonna fasst die neue Strömung schließlich sogar in Rom Fuß:
    "Vittoria Colonna kam aus Neapel, war einige Jahre in Viterbo und hat dann hier in Rom in ihrem Haus Menschen um sich gesammelt, die an diesen evangelisch geprägten Gedanken interessiert waren. Zu ihnen zählten neben Geistlichen und Intellektuellen auch bekannte Künstler wie Michelangelo Buonarroti", erklärt Paolo Ricca.
    Anfangs gehörten die sogenannten "Evangelici", die man in Italien oft auch "Spirituali" oder pauschal "Luterani" nennt, zu intellektuellen Eliten. Doch in den 1530er- und 40er-Jahren erfasst die Bewegung nach und nach immer breiteren Schichten des Volkes.
    Tod und Verfolgung durch die Inquisition
    Zur gleichen Zeit bahnt sich im Vatikan eine fatale Entwicklung an: Die Neu-Gründung der Römischen Inquisition. Sie fällt in das Jahr 1542. Es ist das Todesjahr von Kardinal Gasparo Contarini, der über die "Evangelischen" seine schützende Hand gehalten hatte. Die Machtkämpfe innerhalb der Kirche eskalieren bald darauf im Konzil von Trient. Seine Beschlüsse fordern eine eiserne Disziplinierung. Ab 1555 werden sie von Papst Paul IV, dem früheren Kardinal Gianpietro Carafa, gnadenlos eingesetzt, um die reformatorische Bewegung in Italien zu vernichten.
    Ob Laien oder Mönche, Bischöfe oder Kardinäle: Alle, die in den Verdacht kommen, Anhänger der Lehren Luthers zu sein und nicht rechtzeitig nach Deutschland oder in die Schweiz fliehen, sterben grausam in den Händen der Inquisition. Nur winzige Enklaven überlebten: So erlaubte etwa die Stadt-Verwaltung Venedigs deutschen Händlern die Ausübung ihres lutherischen Glaubens innerhalb ihres Handelshauses, des Fondaco dei Tedeschi. In anderen italienischen Städten entstanden erst im 19. und 20. Jahrhundert wieder lutherische Gemeinden für Ausländer.
    Wege in die Ökumene
    In Rom fand 1817 der erste lutherische Gottesdienst im Schutz der Preußischen Botschaft statt. 1923 wurde in der ewigen Stadt die erste lutherische Kirche eingeweiht: die Christuskirche. 2017 konnten die deutschsprachigen Lutheraner Roms hier mit vielen ökumenischen Gästen das 200-jährige Bestehen ihrer Gemeinde feiern. Mit dabei war der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, Bischof Heinrich Bedford-Strohm:
    Heinrich Bedford-Strohm beim Festgottesdienst zum 200-jährigen Bestehen der Christuskirche in Rom am 02.04.2017
    Heinrich Bedford-Strohm beim Festgottesdienst zum 200-jährigen Bestehen der Christuskirche in Rom (imago/epd-bild/Cristian Gennari/Agenzia Romano Siciliani)
    "Wenn man sich anschaut, unter welchen Bedingungen die evangelischen Christen hier in Rom begonnen haben: Sie mussten sich verstecken, sie waren in Gefahr als sie evangelischen Gottesdienst gefeiert haben. Und wenn man dann hier wahrnimmt, in welch großem ökumenischen Geist der Geschwisterlichkeit wir heute feiern können, dann kann man für diese Entwicklung nur dankbar sein."
    Der Mut, die Reformation und Martin Luther in diesem neuen Licht zu sehen, sei nicht zuletzt Papst Franziskus zu verdanken, betont der Reformationshistoriker und Leiter der lutherischen Gemeinde Roms Jens-Martin Kruse:
    "Diese Offenheit, dieses Interesse, diese Neugier sich mit Martin Luther in Italien zu beschäftigen, und zwar differenziert und sachlich und sogar wohlwollend, das hätte von uns niemand für möglich gehalten. Dass man im Jahr 2017 als evangelisch-lutherische Kirche und als römisch-katholische Kirche sich zum ersten Mal gemeinsam an die Anfänge der Reformation erinnern kann, nach 500 Jahren, ist unglaublich und stellt eine riesige Chance und Gelegenheit dar, auf dem Weg zur sichtbaren Einheit der Christen die nächsten Schritte zu gehen und wirklich weiter zu kommen."
    Im Abstand von 500 Jahren gelingt es heute erstmals zwischen den kirchenpolitischen und den spirituellen Interessen des 16. Jahrhunderts zu unterscheiden.