Dienstag, 19. März 2024

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Reformation
"Wer mit Luther beginnt, kann nicht damit aufhören"

Joachim Köhler ist Nietzsche- und Wagner-Biograph. Nun hat er ein Buch über Luther geschrieben, mit Ausrufezeichen hinter dem Namen des Reformators. "Luther ist unerschöpflich", schwärmt er im Gespräch. Die Biographie ist erfüllt von dieser Bewunderung für den Gottsucher und Freiheitskämpfer. Der Judenhasser Luther kommt kaum vor.

Joachim Köhler im Gespräch mit Christiane Florin | 17.08.2016
    Porträt des Reformators Martin Luther, Ölgemälde auf Holz von Lukas Cranach d.Ae., 1528. Das Bild hängt in der Lutherhalle in Wittenberg, dem grössten reformationsgeschichtlichen Museum der Welt.
    "Er ist ein Philosoph der Freiheit", sagte Joachim Köhler über Martin Luther im Interview mit dem Deutschlandfunk. (picture-alliance / dpa / Norbert Neetz)
    Christiane Florin: Martin Luther hat zwar nicht den Buchdruck erfunden, aber schaut man die Buchproduktion zum Reformationsjubiläum an, könnte man genau das meinen. Die Druckmaschinen, digital und analog, laufen ein Jahr vor dem 500. Jahrestag des Thesenanschlags zu Wittenberg schon heiß. Wir stellen Ihnen in dieser Sendung regelmäßig Neuerscheinungen zur Reformation vor, nicht in kurzen Rezensionen, sondern in längeren Gesprächen mit den Autorinnen und Autoren. So auch heute eine ganze Sendung lang.
    Gerade ist erschienen "Luther! Biographie eines Befreiten". Geschrieben hat dieses 400 Seiten-Werk Joachim Köhler. Er ist von Hause aus Philosoph, Journalist und – wenn es diesen Beruf gibt – Biograph. Nietzsche und Wagner hat er sich schon vor längerer Zeit vorgenommen und nun war eben Luther dran. Guten Morgen, Herr Köhler.
    Joachim Köhler: Guten Morgen, Frau Florin.
    Florin: Nietzsche, Wagner, Luther. Warum dieser Hang zu großen, aber auch umstrittenen Deutschen?
    Köhler: Beiden, Nietzsche wie Wagner haftet etwas Rätselhaftes an und schon deswegen hat es mich fasziniert, mich damit zu beschäftigen. Aber es hat noch einen anderen Grund. Beide haben Geschichte gemacht. Sie haben Deutschland mit geprägt und damit jeden Einzelnen von uns, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Und ich wollte nun herausfinden, was diese Männer geprägt hat. Ich habe versucht, ihre Zeit nicht durch unsere Augen, sondern durch deren Augen zu sehen und versucht, mich in sie einzufühlen und sie nicht von außen zu betrachten, sozusagen aus der Distanz des Wissenschaftlers und Forschers, sondern aus der Nähe eines Mitempfindenden.
    Natürlich bin ich dann irgendwann nach Nietzsche und Wagner auf Luther gestoßen, denn beide waren durch ihn beeinflusst. Der eine, Wagner, liebte Luther und der andere, Nietzsche, hasste Luther. Aber beide standen auf den Schultern dieses Riesen. Und so wie die beiden standen da noch mehr: Lessing und Heinrich Heine, aber auch der größte Philosoph des 19. Jahrhunderts, Hegel, der sich als bekennenden Lutheraner erklärte und jedes Jahr zum Reformationstag eine Flasche alten Bordeaux-Wein öffnete zu Ehren Martin Luthers.
    Florin: Wer macht denn das Mitempfinden von den dreien am leichtesten?
    Köhler: Da sie alle Menschen sind und ein Biograph auch ein Mensch ist, ist es relativ leicht, sich in die hineinzuversetzen. Ich würde sogar sagen, Menschsein beginnt damit, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können. Und das geht auch ganz ohne Sprache, das geht schon mit Blicken. Insofern ist es leicht, wenn jemand sich dann auch noch so offenbart wie ein Schriftsteller oder ein Biograph oder ein Denker, dass man seinen Gedankengängen folgt und irgendwann bemerkt, dass man in die Seele dieses Menschen eingedrungen ist und von daher natürlich alles viel näher an sich herankommen lassen kann, als wenn man nur ein – sagen wir – ein wissenschaftliches Textbuch vor sich hat.
    Florin: "Biographie eines Befreiten" ist der Untertitel. Vor einigen Jahren hat Heinz Schilling eine große Luther-Biographie vorgelegt, die als Referenzwerk gilt. Wie können Sie sich freimachen von solchen Vorlagen?
    Köhler: Das muss man gar nicht. Aber so, wie Sie mich ja indirekt fragen, wie noch eine Biographie nach Heinz Schilling nötig ist überhaupt, dann würde ich darauf antworten: Vermutlich ist dasselbe Heinz Schilling gefragt worden, wie er nach dem monumentalen Standardwerk von Martin Brecht, diesem dreibändigen, dieser tollen umfassenden Biographie, wie er da noch eine weitere Biographie wagen konnte? Es war ja schon alles gesagt. Aber die Antwort ist die: Zum einen ist die Forschung ein dynamischer Prozess. Forschung hört nie auf, der Geist ist immer lebendig, er arbeitet und er weht auch, wo er will.
    "Dieser kernige, unzweifelhaft einmalige Ton"
    Florin: Haben Sie geforscht oder gefühlt?
    Köhler: Beides, es schließt sich nicht aus. Die Forschung liefert die Fakten und das Einfühlungsvermögen findet das Leben, die Lebendigkeit in den Fakten. Und das gilt besonders für Luther. Luther ist unerschöpflich, ein Universum. Kaum jemand hat so viel geschrieben und gepredigt wie er und das ist alles notiert. Seine Tischreden, alles. Zehntausende, Abertausende Seiten Luther und alles, dieser kernige, unzweifelhaft einmalige Ton, in dem er spricht, anschaulich, verständlich, mitfühlend und immer aus dem Geist der Bibel heraus, die für ihn eine Art von zweiter – oder sagen wir – wahrer Wirklichkeit war.
    Das ist ganz einmalig und deswegen, wer mit Luther beginnt, der kann eigentlich nicht aufhören damit. Und jedes Auge, das auf diese Seiten fällt, entdeckt natürlich Neues darin. Und deswegen, von dem, was Schilling gesehen hat oder vor ihm Martin Brecht und so viele, viele andere, will ich mich gar nicht freimachen. Sondern sie haben meine Augen geschärft, aber gesehen habe ich selbst.
    Florin: Ihr Buch ist süffig geschrieben, den Ablasshandel der Kirche bezeichnen Sie zum Beispiel als kirchliches "Franchise-Unternehmen". Luther im Kloster nennen Sie den "besten Hamster im Hamsterrad". Wie sehr standen Sie unter Druck, es mit Luthers prägnantem Deutsch, mit seinem kernigen Stil, wie Sie es vorhin genannt haben, aufzunehmen?
    Köhler: Wie ich schon sagte: Das kann man gar nicht.
    Florin: Aber man versucht es schon, oder?
    Köhler: Nein, man versucht es gar nicht. Sondern, ich sage mal, wenn Sie Bach anhören, würden Sie ja hinterher nicht versuchen, wie Bach zu komponieren. Jeder spricht, schreibt, musiziert, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Natürlich passt sich das Schreiben dem Inhalt an und für mich war fast alles, was ich da entdeckt habe, mit einem Ausrufezeichen versehen. Das musste ich nicht hinzufügen. Mein Erstaunen, meine Verblüffung, auch Bewunderung haben sich darin ausgedrückt, dass ich so schrieb, was man heute plakativ nennt.
    Luther stilistisch nachzueifern, ist deswegen auch unmöglich, weil wir eine Sprache benutzen, die er im Grunde erfunden hat. Das heißt seine Anschaulichkeit, sein Bilderreichtum, seine Fähigkeit, in allem das Gleichnis zu sehen, das ist so einmalig, aber das hat auch die deutsche Sprache bis heute geprägt. Ob man evangelisch, katholisch oder Atheist ist, man spricht Luthers Deutsch.
    Florin: Ich zitiere noch mal einen Satz: "Auf Luthers Hammerschläge folgte mit einiger Verzögerung der Donner der Kirche." Ein Satz von Ihnen. Ein Luther-Buch ohne Pathos, geht das überhaupt?
    Köhler: Also das war nicht pathetisch gemeint, sondern ich versuche damit, Dinge anschaulich zu machen. Ich versuche nicht, wie ein Wissenschaftler extrem präzise die Dinge heraus zu arbeiten. Wie ein Naturwissenschaftler, sagen wir, ein Insekt unter dem Mikroskop, der dann alle Beine zählt und so. Sondern ich versuche, den Leser mit hinein zu nehmen in eine dynamische Erfahrung. In etwas – und das ist ja auch das Ziel der Religion selber, den Menschen zu verändern – und so versuche ich, in der Sprache diese Begeisterung, die einen natürlich beim Denken, beim Lesen, beim Mitdenken und Miterleben packt, weiter zu geben. Wenn das dem einen pathetisch klingt oder so, so ist es nicht gemeint. Es ist kein Pathos, sondern es ist der Versuch, auch sinnlich und anschaulich und nachvollziehbar zu sein.
    "Das Leben Martins war vorgezeichnet"
    Florin: Ihre Biographie beginnt, nicht ganz überraschend, mit der Vater-Sohn-Beziehung. Der Sohn Martin erfüllt nicht die Erwartung des Vaters, er wird nicht Unternehmer, er schließt nicht sein Jura-Studium ab und heiratet auch erst mal nicht, sondern er geht ins Kloster. Ein bisschen spekulativ gefragt: Wenn der Vater Martin Luthers weniger autoritär gewesen wäre, wäre dann die Reformation ausgeblieben?
    Köhler: (lacht) Ich gebe auf Ihre spekulative Frage eine spekulative Antwort. Der Unternehmer Luder, so hieß ja diese Familie, hat seinen kleinen Martin als Stammhalter zum Juniorchef einer Bergwerksfirma erzogen. Das war ein richtiges Unternehmen und es war auch ein Familienunternehmen und deswegen haben alle Geschwister Martins, die Schwestern mussten natürlich Bergwerksbesitzer heiraten oder Hüttenpächter, so nannte man es damals, und Martin selbst sollte in die Fußstapfen des Vaters treten und dazu Jura studieren. Das war damals sehr nötig, denn wer mit Bergwerken und den Rechten, mit Schürfrechten zu tun hatte, der lag immer im Streit mit den Konkurrenten, aber auch mit den Grafen, denen diese Bergwerke eigentlich gehörten.
    Also das Leben Martins war prädestiniert, es war vorgezeichnet und dazu gehörte nicht nur, dass er Jura studierte und dann eben ein Geschäftsmann, ein Manager eines Unternehmens wurde, sondern dazu gehörte auch, dass er die Tochter eines Hüttenpächters, eines Bergwerks-Unternehmers heiratet. Das war, man könnte heute sagen, eine Zwangsheirat war vorgesehen. Und Luther hat im Alter das ziemlich explizit gesagt, sein Vater hatte ihm eine Jungfer ausgesucht und er hat ihn dann vom Studium weg nach Mansfeld bestellt, um sie ihm dort vorzuführen. Und Luther hat dieses Mädchen dann kennengelernt und auf dem Rückweg geschah eben der berühmte Blitz, der ihn dazu gebracht hat, ganz schnell ins Kloster zu flüchten. Und natürlich kann man unterstellen, dass es auch eine Flucht vor diesem Zwang des Vaters war, eine bestimmte Lebensform einzunehmen, die ihm, Martin, nicht passte. Er wollte es nicht und da kam der Blitz gerade recht.
    Florin: Auf den Blitz möchte ich später zu sprechen kommen. Erst noch einmal auf den Vater: Sehen Sie in der Reformation einen Konflikt mit dem Vater im Himmel, mit Gott, mit dem Vater in Rom, mit dem Papst, aber eben auch ein Vater-Sohn-Konflikt in der Familie? Ist diese Familiengeschichte für Sie der Schlüssel, um die Reformation zu verstehen?
    Köhler: Nein, nicht um die Reformation zu verstehen. Die Reformation ist ja eine Reformation des Glaubens.
    Florin: Aber auch eine Reformation der Beziehungen.
    Köhler: Das stimmt, aber erst in zweiter Hinsicht. Es ist so, jeder Mensch, das weiß man nicht erst seit Sigmund Freud, ist geprägt durch seine Kindheits- und Jugenderlebnisse. Luther selbst hat später immer wieder darüber gesprochen, wie streng sein Vater mit ihm gewesen ist. Dass der Vater ihn geschlagen hat und dass er ihn als Kind gefürchtet hat. Dieser strenge Vater prägt sich den Menschen wie ein Arche-Typ ein. Und wenn man dann mit den Forderungen der Religion konfrontiert ist, dass man nämlich den Geboten zu folgen hat, dass man sich so und so zu benehmen hat, dann erinnert es sehr stark an den strengen Vater, den man hatte. Zumal die Gebote auch unmittelbar mit Strafsanktionen verbunden waren. Das heißt, wenn man eine bestimmte Sünde begeht, erhält man eine bestimmte Strafe. Und so lebt der Mensch in einer beständigen Strafangst und er tut das Gute, weil er mehr oder weniger vermeiden will, dafür – so sagte man damals – in die Hölle zu kommen.
    Diese Spannung, die der kleine Junge in der Familie des Unternehmers hatte, wo er eben zu spuren hatte und wenn er nicht spurte, kriegte er eins hinter die Ohren – er hat es geschrieben – dieses Bild übertrug sich auf seine erste Begegnung mit dem Christentum, die erst tatsächlich erfolgte nach diesem Blitz-Erlebnis, wo er sagte: "Ab ins Kloster." Da lernte er dann ein Christentum kennen, das ihm noch mehr Angst gemacht hat als der Vater und die strenge Erziehung zu Hause. Nämlich ein Christentum, in dem er der Meinung war, man muss streng alle Gebote penibel verfolgen, sonst wird man schrecklich bestraft, nämlich mit dem Fegefeuer. Das hat den Luther, der im Grunde aus dem Regen in die Traufe gekommen war, im Innersten erschüttert und er war dann jemand, der tatsächlich erlösungsbedürftig war.
    "Biographische Revolution": Ein radikaler Umschlag in Luthers Leben
    Florin: Es gibt einige Schlüsselerlebnisse in Luthers Leben. Vom Blitz im Jahre 1505 war schon mehrfach die Rede. Ein Gewitter hat ihn ja angeblich dazu gebracht, Mönch zu werden. Es war sozusagen eine Eingabe: "Du wirst jetzt Mönch." Dann zehn Jahre später hatte er ein Turmerlebnis, das ihm noch mal eine andere Gottesbeziehung eröffnet hat und sicher gehört in diese Reihe auch die Geschichte mit dem Tintenfleck auf der Wartburg. Was ist da Tatsache und was ist Selbststilisierung Luthers? Oder anders gefragt: Inwieweit muss man als Biograph aufpassen, sich nicht zu sehr in die Figur einzufühlen und sich ihrem Selbstbildnis anzugleichen?
    Köhler: Wenn ich zuerst mit dem Tintenfleck beginnen darf. Das war keine Selbststilisierung Luthers, das hat er nie selbst behauptet. Das ist eine Erfindung späterer Zeit, in der man auch versucht hat, eine simple Tatsache im Bild darzustellen, nämlich Luther hat nicht seine Gegner mit dem Schwert, sondern mit der Feder und dem Tintenfass bekämpft. Sein Kampf gegen das Böse oder gegen den Teufel war der Kampf eines Schreibenden, eines Lehrenden. Und deswegen ist der Tintenfleck Symbol dafür. Aber wie gesagt, das kam viel später. Aber wenn Sie seine Schlüsselerlebnisse ansprechen, man kann natürlich, wie gerade die heutige Theologie oder die heutige Forschung sagt, unterstellen, dass Luther im Alter seine Anfänge stilisiert hat, um den großen Religionsgründer abzugeben, ich bin nicht der Meinung.
    Erstens können wir nicht sicher sagen, ob jemand die Wahrheit oder ob er sich stilisiert, mit anderen Worten, ob er flunkert. Der zweite Punkt ist der, sowohl nach dem Blitz von Stotternheim als auch nach dem Turmerlebnis, bei dem ihm die Theologie des Paulus aufgegangen ist wie eine Erleuchtung, kam tatsächlich ein radikaler Umschlag in seinem Leben. Sozusagen eine biographische Revolution, die einen völlig anderen Luther zeigte, als er vorher gewesen war. Wenn ein Mensch plötzlich ein anderer wird, nachweisbar, auch von seinem Schriftstellerischen her, von seiner Lebenseinstellung verwandelt ist, dann kann man ihm wohl glauben, dass er wie Saulus vor Damaskus eine plötzliche umwälzende Erfahrung gemacht hat. Das muss man nicht nachträglich stilisieren, sondern das tritt ein.
    Und wenn man so will, ist die ganze christliche Tradition voll solcher einschneidender, erleuchtender Momente, bei denen, wie Luther es ausgedrückt hat, der Mensch ganz plötzlich die Pforten des Paradieses geöffnet sieht. Das hat er erlebt und daraus hat er auch dann die unendliche Kraft bezogen, eine Theologie zu komponieren und aus sich heraus zu produzieren, die heute noch die Menschen bewegt und ganze theologische Fakultäten von früh bis Abend beschäftigt.
    Florin: Stichwort Theologie: Ich nehme ein Zitat aus der "Freiheit des Christenmenschen" von Martin Luther. "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan." Können Sie uns diese paradoxen Sätze erklären?
    Köhler: (lacht) Da wäre ich ein weiser Mann. Die Theologie beschäftigt sich tatsächlich seit einem halben Jahrtausend damit, diesen Satz recht zu verstehen. Aber nähern wir uns mal an über den Punkt, der jedem sofort auffällt, auch wenn er den Satz nicht versteht: Es ist ein Paradox. Luther hat Theologie immer in Form von Paradoxie betrieben, ganz einfach, weil man die Wirklichkeit des Göttlichen oder die Gegenwart Gottes in der Wirklichkeit nur paradox darstellen kann. Nebenbei bemerkt, das ist Zen-Buddhismus nicht anders oder in der Mystik. Man kann die Wahrheit nur in der Paradoxie, also in einem Widerspruch, darstellen, der für die menschliche Vernunft nicht aufzuklären ist. Wie eine Nuss, die man nicht knacken kann, aber gerade deshalb, weil man sie nicht knacken kann, geht einem dann die Erleuchtung auf.
    Also dieser Satz ist paradox, einerseits ist der Christenmensch ein freier Herr und niemandem untertan, also sozusagen der Traum jedes modernen Demokraten. Andererseits ist ein Christenmensch ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan, das möchte man ja nicht so gern sein. Okay, ich versuche, es zu erklären. Für Luther ist der Mensch als Naturgeschöpf unfrei, er ist tausend Bedingungen unterworfen und er ist zwanghaft bemüht, sein Ich sich selbst zu erhalten und zur Geltung zu bringen. Das heißt der Mensch ist, Luther nennt es, er ist in sich verkrümmt, das heißt der Mensch beschäftigt sich immer mit sich selbst, aber gerade dadurch wird der Mensch, ohne es zu ahnen, zu einem Nichts. Er kommt und geht so schnell wie eine Eintagsfliege. Vor Gott ist er nichts, denn er hat nicht das Geschenk der Schöpfung begriffen, sondern er hat sich nur um sich selbst gedreht. Das ist für Luther der natürliche Mensch. Er ist unfrei und er weiß es nicht. Er ist damit Knecht aller Dinge. Er ist allem unterworfen und er weiß es nicht mal.
    Jetzt kommt die Definition Luthers eines Christenmenschen. Der Christenmensch ist für ihn das Gegenteil eines natürlichen Menschen. Der Christenmensch weiß im Gegensatz zum gewöhnlichen Menschen, dass er ohne Gott nichts ist. Dass also, solange er Gott nicht im Auge hat und sich mit Gott beschäftigt, er sozusagen in der Wirklichkeit völlig belanglos ist. Er hat keinen Halt in der Wirklichkeit, denn das Ich, mit dem er sich beschäftigt, das trägt nicht. Der Christenmensch erkennt dies als Tatsache an, aus mir selbst bin ich nichts. Und deswegen verzichtet er auf die zwanghafte Beschäftigung mit sich selbst und er macht sich freiwillig zum Knecht aller. Das heißt er ist für die anderen da, wie Jesus es auch getan hat. Und eben dadurch wird er eins mit Jesus und wird damit zum Herrn über die Schöpfung und er teilt dessen Freiheit und Unsterblichkeit. Das heißt ein Christenmensch, das ist ein christgewordener Mensch. Und das will diese Paradoxie ausdrücken.
    Florin: Sie portraitieren in Ihrer Biographie sehr ausführlich den Gottsucher Martin Luther, der sich regelrecht durchringen muss vom Bild des unerbittlichen Vaters zu dem des gnädigen Gottes. Die persönliche Gottesbeziehung steht in Ihrem Buch im Mittelpunkt. Andere Beziehungen seines Lebens, etwas zu seiner Frau, zu Frauen generell, aber auch zu anderen Religionen, kommen verhältnismäßig kurz vor. Warum ist das so?
    Köhler: Nun, ich wollte keine klassische Biographie schreiben, wo alles hineingehört, ob es nun passt oder nicht.
    Was Luther zur Burka sagen würde
    Florin: Aber den Antisemitismus dimmen Sie ja ganz schön herunter.
    Köhler: Nein, das finde ich gar nicht. Ich wollte über Luther, den Befreiten, schreiben. Der Glaube bedeutete für ihn Befreiung. Glaube ist nach der Vorstellung der meisten Menschen eine Zwangsjacke. Aber er zeigte, es erlöst aus der Zwangsjacke des Selbstbezugs des Menschen und er ist eine Freiheit. Und nebenbei, er wollte aus seinen Namen so verstanden wissen. Seine Familie, wie ich sagte, hieß ja eigentlich Luder. Und nach dem Befreiungsschlag des Thesenanschlags nannte er sich plötzlich anders.
    Er gab sich den Namen Martinus Eleutherius, das ist Griechisch und es heißt der Befreite. Martin ist jetzt der Befreite. Und als verkürzte Form dieses Eleutherius wählte er dann Luther. Das heißt Luther ist Synonym für Befreiung und das wollte ich in meinem Buch anschaulich machen. Luther ist nicht eine besondere Art sozusagen eine neue Zwangsjacke einer menschenfeindlichen Religion, sondern im Gegenteil, er ist die Befreiung des Menschen zu dem, was er als Christenmensch bezeichnet. Er ist ein Philosoph der Freiheit.
    Florin: Luther ist keinem Disput bekanntermaßen ausgewichen. Eine Schlussfrage muss ich Ihnen gerade jetzt stellen: Was würde er wohl zur Forderung nach einem Burka-Verbot sagen?
    Köhler: Luther würde möglicherweise Folgendes sagen: "Der Mensch ist frei, er muss sich vor niemandem verstecken. Und wer Teil einer Gemeinschaft sein will, muss vor allem eines lernen, Gesicht zu zeigen."
    Florin: Kein Verbot, eher Überzeugungsarbeit?
    Köhler: (lacht) Also ich weiß nicht, ob Luther darüber gesprochen hätte, ob man etwas verbieten soll oder nicht. Es hat ja etwas Lächerliches, das Verbieten. Aber man soll deutlich machen: Wer bei uns in dieser freien oder frei sein wollenden Gesellschaft ist, der muss selbst einen Schritt auf diese Freiheit zutun, auch wenn er kein Christenmensch ist und sagen: "Hier Leute, ich zeige Gesicht."

    Joachim Köhler: "Luther! Biographie eines Befreiten"
    Evangelische Verlagsanstalt Leipzig. 408 Seiten, 22,90 Euro.