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Reformen und auf Demonstranten schießen

Die Situation in Syrien zeige, dass Präsident Bashar al-Assad unter Druck agiere, meint Volker Perthes von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Wie in Ägypten und Tunesien versuche man, gewisse Reformen einzuleiten, ansonsten aber auf Repressionen zu setzen. Man warte gespannt ab, was in den Nachbarländern passiere.

Volker Perthes im Gespräch mit Silvia Engels |
    Silvia Engels: In den Tagen unmittelbar nach den politischen Umbrüchen in Tunesien und Ägypten war es in Syrien zunächst vergleichsweise ruhig geblieben. Demonstranten war es in dem autoritär regierten Land zunächst nicht gelungen, den Massenprotest auf die Straße zu tragen. Das ist seit einigen Wochen anders: Zehntausende formieren sich zuletzt in der Stadt Homs. Gestern hob die Regierung den seit Jahrzehnten geltenden Ausnahmezustand auf, doch die Opposition zweifelt am Reformwillen.

    Langjähriger Kenner Syriens ist der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, Volker Perthes. Er ist uns aus Berlin zugeschaltet. Guten Morgen, Herr Perthes.

    Volker Perthes: Guten Morgen, Frau Engels.

    Engels: Hätten Sie diese Entwicklung in Syrien erwartet?

    Perthes: Ja nicht im Detail, aber was wir sehen ist, dass der Präsident, Bashar al-Assad, unter Druck agiert, aber unter Druck immer nur stückchenweise reagiert, also zu wenig tut und das zu spät tut, und im übrigen sich doch weitgehend nach einem Skript zu verhalten scheint, wie es auch die Präsidenten, die alten Präsidenten Tunesiens und Ägyptens angewandt haben, also versucht, kleine Reformen auf den Weg zu bringen, hier und da den Forderungen nachzukommen, ansonsten aber mit Repressionen zu reagieren.

    Engels: Sie deuten es an: das ist eine irgendwie zweigleisige Verhaltensweise, einerseits gewisse Reformen, andererseits lässt das Regime auf Demonstranten schießen. Könnte das auch den Rückschluss zulassen, dass da mehrere Menschen agieren, dass Assad möglicherweise auch nicht Herr von allen Bewegungen ist?

    Perthes: Er ist schon Herr des Regimes. Seine Entscheidung ist letztlich die zentrale. Aber er muss Rücksicht nehmen auf Interessengruppen im Regime. Dazu gehört die eigene Familie, dazu gehören diejenigen, die mit ihm zusammengearbeitet haben, auch aus dem Privatsektor, also das, was man die Crony-Kapitalisten nennt, diejenigen, die durch Patronage reich geworden sind, dazu gehört der Sicherheitsapparat selbst, dazu gehören die Mitglieder der Bath-Patei. Das ist sozusagen die Koalition oder die Allianz, auf die er sich stützt. Das ist möglicherweise nicht die Mehrheit der Bevölkerung, aber das sind durchaus wichtige Gruppen der Gesellschaft, die kein Interesse daran haben, dass der Präsident einfach geht oder das Regime stürzt.

    Engels: In Tunesien floh der Diktator am Ende vor den Aufständischen, in Libyen hält der Diktator bis heute brutal dagegen. Welchen Weg wird Assad wählen?

    Perthes: Das lässt sich natürlich nicht vorhersagen. Richtig ist allerdings, dass sich Assad, wie auch andere Herrscher in der Region, ganz genau anschauen, was in Tunesien und was in Ägypten geschehen ist und was in Libyen noch geschieht, auch was im Jemen geschieht. Wenn im Jemen beispielsweise der amtierende Präsident aus seinem Amt herausverhandelt wird, auch durch die Aktivitäten des Golf-Kooperationsrates und der Zusammenarbeit ausländischer, also hier benachbarter Regierungen mit der Opposition, dann ist das ein Zeichen für einen möglichen Weg. Wenn Gaddafi in Libyen gewinnt, ist das auch ein Zeichen für Assad, dass Aushalten sich lohnt. Wenn Gaddafi letztlich geht, oder durch weiteren inneren und äußeren Druck stürzen sollte, wird das auch Assads Position schwächen.

    Also alle schauen, alle Herrscher, alle Autokraten schauen darauf, was die anderen machen, wie die anderen reagieren, und ziehen dort auch ihre Lehren daraus.

    Engels: Schauen wir auf die Lage in Syrien noch einmal unter dem Blickwinkel der Opposition. Gibt es in diesem Land eine irgendwie organisierte Opposition und gibt es auch ethnische Spannungen, die möglicherweise einen Übergang nach Assad erschweren könnten?

    Perthes: Es gibt vieles, was den Übergang nach Assad, wenn es dazu käme, erschwert. Es gibt aber auch Dinge, die den Übergang leichter machen könnten, nämlich eine gut gebildete Gesellschaft, eine starke Mittelschicht, Institutionen, die ein gewisses Vertrauen genießen und arbeiten würden, auch wenn der Präsident nicht da wäre. Richtig ist, dass es ethnische Spannungen gibt, die das Regime zum Teil nutzt, auf die es sich zum Teil auch stützt, insbesondere zwischen der alawitischen Gemeinschaft, der der Präsident und seine Familie angehören, und der mehrheitlich sunnitischen Bevölkerung, auch zwischen der kurdischen Bevölkerung und der mehrheitlich arabischen Bevölkerung. Solche Spannungen lassen sich schüren in Konfliktfällen.

    Es gibt, danach hatten Sie gefragt, eine ältere bürgerliche Opposition, die seit zum Teil einem Jahrzehnt, zum Teil zwei Jahrzehnten, zum Teil länger friedlichen zivilen Widerstand gegen das Regime probt. Viele angesehene ehemalige Parlamentarier, Literati, Anwälte, die immer wieder im Gefängnis waren, genießen ein großes Ansehen, halten sich zurzeit aber zurück. Und das, was wir in den Städten sehen, in Dar'a, in Homs, in Latakia, das ist eher unorganisiert. Das sind überwiegend junge Leute, die ihrem Frust auf der Straße jetzt Ausdruck geben, die auch die Angst vielleicht noch nicht haben, die die älteren bürgerlichen Oppositionellen haben, und irgendwo im Hintergrund gibt es eine, im wesentlichen aus dem Exil geführte Muslim-Bruderschaft, die das ganze auch nicht so richtig versteht, die zwar Anhänger hat, aber eigentlich eher noch lebt in den Auseinandersetzungen, die sie vor 30 Jahren mit dem alten Regime, dem Regime des Vaters Hafiz al-Assad geführt hat.

    Engels: Herr Perthes, die Stiftung Wissenschaft und Politik berät ja seit Jahrzehnten die Bundestagsabgeordneten und die Bundesregierung mit außenpolitischer Expertise. Was empfehlen Sie nun speziell im Umgang mit Syrien?

    Perthes: Ich denke, es ist richtig, hier einen politischen Druck aufzubauen und aufrecht zu erhalten, deutlich zu machen, dass eine weitere Annäherung Syriens an die Europäische Union völlig ausgeschlossen ist, wenn nicht die grundlegenden Menschenrechte in diesem Land respektiert werden, gleichzeitig aber auch Vertretern des Regimes anzubieten, dass man bereit ist, ihm zu helfen, wenn es sich tatsächlich auf einen ernsthaften Reformkurs begibt. Dabei ist ganz wichtig, dass auch der große Nachbar Syriens im Norden, nämlich die Türkei, einen gewissen Einfluss hat und durchaus bereit wäre, eine politisch unterstützende Rolle zu spielen. Wenn man auf diesem Schritt, Aufhebung des Ausnahmezustands, möglicherweise Änderung der Verfassung, erstmals freie Parlamentswahlen, weitergehen würde, dann sollte auch die EU, selbst wenn Bashar al-Assad Präsident bleibt, hier helfen, um so etwas wie eine sanfte Landung möglich zu machen.

    Engels: Damit sind wir beim Blick auf die internationale Staatengemeinschaft. Wäre, falls Assad doch den brutalen Weg gegen die Bevölkerung wählt, auch ein militärisches Vorgehen nach libyschem Vorbild denkbar in Syrien?

    Perthes: Ich kann mir das ernsthaft nicht vorstellen. Das ist ja nicht nur eine Frage der Moral oder der Legitimität, ob man Zivilisten schützen will, sondern das ist auch eine Frage der Machbarkeit. Wir können nicht, die NATO, andere internationale Bündnisse, also etwa der Golf-Kooperationsrat, können und werden nicht überall intervenieren, wo es Rebellionen und deren bewaffnete Niederschlagung gibt. Außerdem wüssten wir ja gar nicht, was wir dann hinterher in diesen Staaten tatsächlich tun sollten. Rumsfeld, der ehemalige amerikanische Verteidigungsminister, hat mal gesagt, "You break it, you own it". Also wenn man von außen ein Regime stürzt, dann hat man sozusagen auch die Verantwortung oder den zeitweisen Besitz dafür, und das will sich weder die Türkei, noch wollen die Europäer sich das ans Bein binden.

    Engels: Syrien ist ja ein eigentlich ungeliebter, aber wichtiger Regional-Akteur im gesamten Nahen Osten. Welche Folgen kann ein Umsturz für die Region, vielleicht auch für den israelisch-palästinensischen Konflikt haben?

    Perthes: Israel ist, wie wir sehen, sehr beunruhigt. Man mag das Assad-Regime nicht, aber man kennt es eben seit dem Vater Hafiz al-Assad und weiß, dass es im internationalen Umgang oder zumindest im Umgang mit Israel ein verlässlicher Partner ist. Der Waffenstillstand, der dort seit 1973 vereinbart ist, der hält eben auch seit 1973. Gleichwohl glaube ich, dass es nach einem Umsturz auch in Syrien die Bereitschaft gäbe, aber das hängt eben sehr von der Art und Weise eines Umsturzes ab, ob er friedlich stattfindet, ob sich ein neuer Staat schnell konsolidiert, dass es da die Bereitschaft geben würde, ähnlich wie unter dem derzeitigen Regime weiter Verhandlungen mit Israel zu führen und Frieden mit Israel unter Bedingungen zu schließen, die den allgemein akzeptierten nationalen Interessen des Landes entsprechen: Also volle Rückgabe des von Israel 1967 okkupierten Territoriums. Ohne das wird es keine syrische Regierung machen, egal unter welcher Führung.

    Engels: Der langjährige Kenner Syriens und der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, Volker Perthes, im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Vielen Dank und einen schönen Tag.

    Perthes: Sehr gerne!