Ich bekomme eine sehr kleine Rente, 104 Grivna. Allein für die Miete gehen schon 70 Grivna weg. Von dem Rest kann ich Brot kaufen, für etwas anderes reicht es nicht. Krank werden darf ich nicht, weil die Medizin zu teuer ist - 40, 50, 60 Grivna. Wenn ich krank werde, dann sterbe ich einfach.
104 Grivna, das sind gut 40 Mark. Heutzutage ist das eine durchschnittliche ukrainische Rente. Und so ist die Metropole voll von alten Menschen, die ihr Einkommen aufbessern, wie sie können. Wer bei guter Gesundheit ist, streckt den Passanten Maiglöckchen-Sträuße entgegen oder sucht die Mülltonnen nach Verwertbarem ab, wem die Beine den Dienst versagen, der kauert bettelnd auf Plätzen oder in Metro-Stationen. Zu dem Einbeinigen am Höhlenkloster hat sich eine Leidensgenossin gesellt - eine junge Frau, alleinerziehende Mutter, die ein kleines Mädchen an der Hand hält. Wer die Schuld trägt an der Not der Alten und sozial Schwachen in der Ukraine, das ist für die beiden gar keine Frage.
Der Staat ist an allem schuld, findet er. Und vor allem Präsident Kútschma. Es gebe nur einen einzigen guten Politiker, und das sei Júschtschenko, der ehemalige Ministerpräsident. Denn Júschtschenko hat seine Rente im vergangenen Jahr mehrmals erhöht. Wenn Júschtschenko doch Präsident wäre, wünscht sie sich, ja, dann wäre das Leben für die Menschen viel leichter. Aber statt dessen mussten sie ihn ja absetzen, schimpfen die beiden. Kútschma, der wolle alles nur für sich allein. Aber Júschtschenko, meinen sie, der hat etwas für die Leute getan.
Viktor Júschtschenko - er war ein Jahr Ministerpräsident. Seitdem ist er für viele Ukrainer zur Lichtgestalt geworden im staatlichen Sumpf aus Korruption und politischem Ränkespiel. Er habe für das Wohl der Ukraine gekämpft, und nicht für den eigenen Geldbeutel wie die anderen, so hört man immer wieder. Zur Zeit vertrauen ihm 25 Prozent der Ukrainer, haben Meinungsumfragen ergeben, das ist weit mehr als bei jedem anderen Politiker. Präsident Leonid Kútschma dagegen, der sich in sieben Jahren Amtszeit als unfähig erwiesen hat, der Massenarmut Einhalt zu gebieten, bringt es gerade auf 11 Prozent.
Auch im Westen war der ehemalige Nationalbank-Chef Júschtschenko als Reformer geachtet. Und tatsächlich sah es zunächst so aus, als könne er den wirtschaftlichen Absturz des Landes aufhalten. Unter seiner Regierung erzielte die Ukraine die besten Ergebnisse seit zehn Jahre: sechs Prozent Zuwachs beim Bruttoinlandsprodukt, Überschuss im Staatshaushalt und - das Wichtigste - viele Ukrainer bekamen das erste Mal seit Monaten ihre Löhne und Renten ausgezahlt. Doch vor einem Monat fand die glänzende Karriere des Viktor Júschtschenko ein jähes Ende: Das Parlament, das von Kommunisten und Parteien finanzstarker Großunternehmer dominiert ist, setzte ihn per Misstrauensvotum ab.
Jetzt trauern viele Ukrainer ihrem Ministerpräsidenten hinterher. Auch die Passanten, die auf dem Chreschátik, der Prachtstraße von Kiew, die Abendsonne genießen:
So ein super Mann, und so jung. Ein fantastischer junger Mann. Gut, als Politiker war er vielleicht noch nicht richtig erwachsen. Aber er hat sich 100 Mal besser profiliert als alle anderen, er hatte richtig viel Ahnung von Wirtschaft. So wie der die Wirtschaft belebt hat - das hat die Welt noch nicht gesehen.
Júschtschenko war in Ordnung, auch wenn man ihn nicht nach nur einem Jahr Amtszeit beurteilen kann. Ich bedauere sehr, dass sie ihn abgesetzt haben. Er hat mir gefallen. Er war so sympathisch.
Besonders hoch rechnet man dem ehemaligen Regierungschef an, dass er den sogenannten "Oligarchen-Parteien" die Stirn geboten hat. Oligarchen, so schimpft man in der Ukraine jene finanzstarken Großindustriellen, die über politische Ämter direkten Einfluss auf die Politik des Präsidenten nehmen sollen. Sie sollen, von Kútschma geduldet, Unsummen aus dem Staatshaushalt abziehen und auf ihre Privatkonten laufen lassen, während zugleich das Geld für Gehälter und Renten fehlt. Das Misstrauensvotum gegen Júschtschenko - kein Schicksalsschlag, sondern sichtbares Zeugnis eines korrupten Staatsapparates, meinen die Vertreter der reformorientierten Opposition. So auch Sergéj Komissárenko. Unter dem vorigen Präsidenten der Ukraine war er stellvertretender Ministerpräsident, heute ist er Gründungsmitglied der reform-orientierten Bürgerbewegung "Forum der Nationalen Rettung".
Sobald du echte Reformen einleitest und dabei in Konflikt mit den Interessen der Oligarchen gerätst, die den Präsidenten umgeben, wirst du nicht durchkommen. Entweder du funktionierst nach ihren Spielregeln, oder du kannst gehen. Das hat die Absetzung von Júschtschenko ganz deutlich gezeigt. Und darum kann von wirklichen Reformen keine Rede sein, bis wir nicht das ganze Regierungssystem verändert haben.
Die jüngsten Ereignisse haben neuen Zündstoff für eine alte Diskussion geliefert: Ob die Zukunft der Ukraine in der Anbindung an Europa oder an Russland liegt, ob sie ihr Staatssystem am Modell des westlichen Liberalismus orientieren soll - oder doch lieber an der in Osteuropa zunehmend spürbaren Wiedergeburt autoritären Denkens. Inzwischen hat Präsident Kútschma einen neuen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten erkoren - Anatolij Kínach - Lobbyist der Großunternehmer und Industriellen sowie mehrere Jahre stellvertretender Ministerpräsident. Voraussichtlich wird Kínach aber nur bis zu den Parlamentswahlen im März kommenden Jahres amtieren. Vorher muss er noch vom ukrainischen Parlament bestätigt werden. Und das könnte ein langwieriger Prozess werden, meint der Deutsche Lars Handrich, der im Auftrag der Bundesregierung als Berater den ukrainischen Staat bei dessen Reformplänen unterstützen soll. - Ob der neue Kandidat die Sympathie der Kommunistischen Partei, der größten Fraktion im Parlament, gewinnen wird, ist für Handrich fraglich.
Deswegen ist es zu erwarten, dass es so eine Art Care-taker-Government geben wird, das ohne Parlamentsmehrheit, nur auf Präsidentenerlass hin amtiert. Es wird eine schwache Notlösung sein, die gleichzeitig aufgrund ihres kurzen Zeithorizontes, den sie hat - weil sie wohl keine Aussicht hat, nach den Parlamentswahlen weiter zu machen - eher zu extremem rent-seeking neigen wird.
Was soviel heißt, wie: Große Teile der Regierung werden während der kurzen Zeit, in der sie an den Töpfen sitzen, versuchen, sich so stark wie möglich zu bereichern. Im Augenblick liegt eine gespannte Ruhe über der Hauptstadt Kiew. Der Reformkurs liegt auf Eis, die politische Elite hält sich mit öffentlichen Äußerungen zurück. Eine Verschnaufpause für Präsident Kútschma, hatte der doch zwischen allen Stühlen gesessen, während Júschtschenko seinen Wirtschaftskurs ohne jegliche Rücksichten auf die Befindlichkeiten seiner politischen Gegner durchsetzte. Die Kommunisten beschuldigten Kútschma, sich zum Handlanger westlicher Wirtschaftsinteressen zu machen, die Júschtschenko-Unterstützer der reform-orientierten Parteien klagten dagegen, dass der Präsident die längst überfällige Umstrukturierung der Wirtschaft bremse. Einig waren sich beide Flügel nur darin, dass Kútschma korrupt und als Präsident nicht mehr tragbar ist.
Und tatsächlich hatte es noch im Februar so ausgesehen, als könnten sie ihn mit vereinten Kräften zum Rücktritt zwingen. Damals war eine Welle des Volkszorns über Kútschma hereingebrochen, weil heimlich angefertigte Tonaufnahmen zu belegen schienen, dass er den Mord an einem regierungskritischen Journalisten sowie weitere Untaten veranlasst haben könnte. Doch die allgemeine Wut verrauchte so schnell, wie sie gekommen war, die Zweckehe zwischen Kommunisten und reformorientierten Kräften zerbrach.
Inzwischen hat sich Ernüchterung breit gemacht. Das bestätigt auch Sergéj Komissárenko von der reformorientierten Bürgerbewegung Forum.
Immerhin hat die Existenz dieser Tonbänder etwas sehr wichtiges gezeigt: Die Aufzeichnungen haben so viele Argumente gegen Kútschma gebracht - über Wahlfälschungen, darüber, wie der Präsident Einfluss auf die Steuerbehörde, die Polizei, die Sicherheitsdienste und die Staatsanwaltschaft nimmt. In jedem anderen Land wäre das 100 Mal ein Grund gewesen, den Präsidenten abzusetzen. Bei uns aber reicht das nicht. Das bedeutet, dass wir uns in einer Art Monarchie befinden, irgendwo am Rande der Weltzivilisation, wo andere Spielregeln herrschen.
Das erklärte Ziel des Forums und der reformorientierten Oppositionsparteien, Kútschma zum Rücktritt zu zwingen und grundlegende politische Reformen durchzusetzen, scheint fürs erste in weite Ferne gerückt. Zumal die Bewegung in sich zersplittert ist, ganz unterschiedliche Ideen vertritt und keine Führungspersönlichkeit aufweisen kann. Trotzdem will sie ihre Kräfte jetzt doch noch einmal bündeln. Ein Volksentscheid soll bestätigen, was Meinungsumfragen in der Bevölkerung längst offengelegt haben: dass Kútschma das Vertrauen seiner Bevölkerung völlig verloren hat. Lars Handrich, Mitglied der Deutschen Beratergruppe, hält den Plan, die Bevölkerung über eine Volksentscheidung für die Anti- Kútschma-Bewegung zu mobilisieren und sich des Präsidenten auf diese Weise zu entledigen, für unrealistisch.
Ich glaube es ist so, dass Kútschma alternativlos dasteht. Es gibt keinen Gegenkandidaten - und was schlimmer ist: es gibt keinen Mechanismus, wie man Kútschma aus dem Amt entfernen könnte. Selbst wenn dieses Impeachment-Verfahren oder die Volksentscheidung, wenn das Erfolg haben sollte - es gibt kein formales Verfahren, wie man Herrn Kútschma aus dem Amt entfernen könnte. Die Verfassung sieht so einen Mechanismus nicht vor. Und selbst wenn es das gäbe - die Gerichtsbarkeit in der Ukraine ist weit vom Text entfernt - Recht haben und Recht bekommen ist zweierlei, und das gilt in der Ukraine besonders.
Auch die kommunistische Opposition hält weiter an ihrem Plan fest, Kútschma noch vor Ablauf seiner Legislaturperiode abzusetzen. Zunächst will sie jedoch neue Kräfte für die Parlamentswahlen im kommenden Jahr sammeln. Und dafür stehen ihre Chancen nicht schlecht, denn - ganz im Gegensatz zu den reform-orientierten Parteien - ist sie gut organisiert und ideologisch fest gefügt. Schon jetzt bilden die Kommunisten mit rund zwanzig Prozent der Sitze die stärkste Fraktion im Parlament - das ist zwar noch nicht genug, um der Regierungspolitik ihren Stempel aufzudrücken, aber meistens reicht es, um die wesentlichen Entscheidungen zu blockieren. Darum ist Stánislav Gorénko, Parlamentsabgeordneter in der Kommunistischen Fraktion, zuversichtlich:
Ich denke, dass die Kommunistische Partei heute die einzige reale politische Opposition ist zu diesem Regime, das die Ukraine unter dem Diktat des Internationalen Währungsfonds führt. Die einzige. Wir hören so oft: wir wissen genau, was ihr vorhabt. Und ich sage: Ja genau. Wir wissen, was wir vorhaben, und unsere Wähler wissen es auch. Sie fragen sich nicht, ob wir uns irgendwann nach rechts oder links wenden werden. Wir haben ein Programm, daraus sind wir entstanden, und danach werden wir auch handeln.
Marktfreiheit in staatlichen Grenzen, Erhöhung der Geldmenge gegen die Massenarmut und die enge Zusammenarbeit mit Russland, Weißrussland und Moldawien - so lautet das Programm der ukrainischen Kommunisten. In der Bevölkerung stoßen sie damit auf breite Unterstützung, vor allem bei der älteren Generation. Tatsächlich sieht es im Moment so aus, als gewännen jetzt die Wortführer die Oberhand, die die Ost-Orientierung der Ukraine fordern. Zumindest aber sind die Versuche, die Ukraine auf den westlichen Pfad zu bringen, zunächst gescheitert: Weder konnte Júschtschenko seine marktorientierten Reformen zu Ende bringen, noch gelang es der national-orientierten Opposition, über die Absetzung von Kútschma den Grundstein für eine Zivilgesellschaft europäischen Typs zu legen. Grandiose Kraftakte beides, aber trotzdem aussichtslos angesichts eines schwerfälligen Staatssystems, das seine eigenen Regeln hat. So sieht es etwa der Politologe Michaíl Pogrebínsky, Direktor des Kiewer Zentrums für Konfliktforschung.
Wir haben es mit einer postsowjetischen Elite zu tun, der größte Teil davon sind Staatsbeamte und Bürokraten. Und auf dieses System ist schwer Einfluss zu nehmen. An seiner Spitze sitzt der Präsident. In diesem Sinne ist das Land streng geführt - was der Präsident sagt, wird ausgeführt. Die Gouverneure der Regierungsbezirke werden nicht gewählt, sondern vom Präsidenten ernannt. Insofern ist die Führungsmacht des Präsidenten offensichtlich, er hat Einfluss in sämtlichen Bereichen. Es sind also weniger die Oligarchen oder irgendwelche anderen politischen Köpfe, die die grundlegenden Entscheidungen treffen. Es ist die namenlose ukrainische Bürokratie.
Wie der Mechanismus dieser postsowjetischen Staatsmaschine funktioniert, das weiß man in den Regionen der Ukraine noch besser als in der Hauptstadt. Ortswechsel: Donézk, Millionenstadt, Industriestandort und Steinkohle-Fördergebiet, liegt 600 Kilometer östlich von Kiew, im russischsprachigen Teil der Ukraine. Im "Weißen Haus", wie die Donézker den Sitz ihrer Bezirksregierung nennen, betrachtet man das Machtgezerre in der Hauptstadt mit äußerster Gelassenheit. Júrij Andrjúnin etwa, persönlicher Berater des Gouverneurs, kann sich nur wundern, wenn er nach seiner Meinung über den politischen Kurs des Präsidenten gefragt wird, oder danach, was er sich von dem neuen Ministerpräsidenten wünscht.
Die Ukraine hat ihren Wirtschaftskurs festgelegt, und wer gerade Ministerpräsident ist, spielt schon längst keine Rolle mehr. Er kann die Entwicklung fördern oder bremsen, aber die Linie ist bestimmt. Und die Frage, wie lange Kútschma noch Präsident der Ukraine bleiben wird, die stellt man sich hier nicht. Er ist gewählt, und darum gibt es keinen Grund, die Kräfte zu unterstützen, die ihn absetzen wollen. Ich würde nicht einmal sagen, dass es hier eine Opposition gibt. Sie ist einfach noch nicht in Erscheinung getreten. Eine Opposition mag für das Parlament in Kiew charakteristisch sein, aber nicht für uns.
Die Opposition von Donézk sitzt im sechsten Stock eines Bürogebäudes, nicht weit vom Weißen Haus entfernt. Hier sind die Büroräume der örtlichen "Batkivschína" - zu deutsch "Vaterland" -, der Partei der Julia Timoschénko, einer Júschtschenko-Unterstützerin und vor Wochen ebenfalls nach einer Kútschma-Initiative abgesetzten Vize-Ministerpräsidentin. Der Donézker Vorsitzende Anatolij Klatschkóv war 23 Jahre lang Funktionär in verschiedenen Sowjetorganen. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine saß er dann als Regierungsvertreter im Stadtrat. - Vor drei Jahren wechselte er die Seiten. Dies veränderte sein Leben als Politiker: Als Oppositionellem, erzählt er, wird ihm jetzt der Einlass zu offiziellen Versammlungen verwehrt, den Zugang zu Wahlkommissionen müssen sich die Mitglieder seiner Partei auf dem Gerichtsweg erstreiten, und eine Berichterstattung über die Aktivitäten seiner Partei findet nicht statt. Dass die Bezirksregierung die bloße Existenz einer Opposition tot schweigt, ist für ihn nichts Neues.
Dieses System ist erprobt, ich muss es wissen, denn ich war selbst lange genug Teil davon. Ständig wird Druck auf uns ausgeübt. Kurz vor den Demonstrationen zum 1. Mai kamen Mitglieder der Batkivschina zu mir. Sie sind Studenten und steckten gerade in den mündlichen Prüfungen. Denen hatte man in der Universität gesagt: Wenn ihr zu dem Mai-Demonstrationen geht und dort unseren Gouverneur unterstützt, besteht ihr eure Prüfungen automatisch. Die Studenten sagen also zu mir: "Anatolij Michailovic, was sollen wir jetzt tun?" Ich sage: "Ihr wollt doch eure Prüfungen bestehen?" Ich gebe mein Einverständnis, und sie gehen auf die Demonstration.
So pflegen viele Studenten ihre Sympathien für die Batkivschína und andere oppositionelle Organisationen lieber im Geheimen. Andere, wie die 25-jährige Kunst-Studentin Veroníka, engagieren sich öffentlich in regierungskritischen Jugendorganisationen. Aber ein ungutes Gefühl ist schon dabei.
Ob das gefährlich ist oder nicht, kann ich nicht sagen. Aber wir werden abhängig. Ich kenne einen Bekannten. Dieser Student fährt oft nach Kiew, und er ist in dieser Bewegung sehr aktiv. Was das Problem ist, dass er Propaganda macht, und dass viele Studenten sich dafür interessieren. Und der Dekan der Fakultät hat ihm gesagt: Wenn du weiter studieren willst, sollst du ein Blatt bringen, dass du nicht mehr in der Partei mitmachst. Er ist ausgetreten.
In Donézk kann man viele solcher Geschichten hören. Bergarbeiter, die sich in der Kútschma-kritischen Freien Gewerkschaft engagieren, droht die Personalverwaltung mit Entlassung, Menschenrechtler fühlen sich vom Geheimdienst verfolgt, Wahlbeobachter werden nachts bedroht. Wer politisch aktiv wird, der fühlt das wachsame Auge der staatlichen Behörden schnell in seinem Rücken. Längst nicht alle dieser Ereignisse hatten für die Betroffenen schwerwiegende Folgen, aber alle gruben sich in ihr Gedächtnis ein. Um so größere Hoffnung setzt der Batkivschína-Vorsitzende Klatschkov jetzt auf die gegen Kútschma gerichtete Volksbefragung, die seine Partei plant. Nicht, weil er sie für ein effektives Mittel zur Absetzung Kútschmas hielte. Aber weil er hofft, dass die ukrainische Bevölkerung sich endlich auch auf der politischen Bühne zu dem bekennt, was sie sonst nur den Meinungsforschern anvertraut.
Wir wollen die Frage, ob Kútschma zu Recht auf dem Präsidentensessel sitzt, nicht juristisch, sondern moralisch entscheiden. Selbst wenn nichts dabei rauskommt, wenn wir nur 10 oder 12 Millionen Unterschriften zusammenkriegen. Aber die wollen wir ihm auf den Tisch stellen und sagen: Gegen dich sind 15 Millionen, was willst du noch hier? Wir setzen auf das Referendum. Ob dabei etwas heraus kommt, das hängt alleine von uns Ukrainern ab.
104 Grivna, das sind gut 40 Mark. Heutzutage ist das eine durchschnittliche ukrainische Rente. Und so ist die Metropole voll von alten Menschen, die ihr Einkommen aufbessern, wie sie können. Wer bei guter Gesundheit ist, streckt den Passanten Maiglöckchen-Sträuße entgegen oder sucht die Mülltonnen nach Verwertbarem ab, wem die Beine den Dienst versagen, der kauert bettelnd auf Plätzen oder in Metro-Stationen. Zu dem Einbeinigen am Höhlenkloster hat sich eine Leidensgenossin gesellt - eine junge Frau, alleinerziehende Mutter, die ein kleines Mädchen an der Hand hält. Wer die Schuld trägt an der Not der Alten und sozial Schwachen in der Ukraine, das ist für die beiden gar keine Frage.
Der Staat ist an allem schuld, findet er. Und vor allem Präsident Kútschma. Es gebe nur einen einzigen guten Politiker, und das sei Júschtschenko, der ehemalige Ministerpräsident. Denn Júschtschenko hat seine Rente im vergangenen Jahr mehrmals erhöht. Wenn Júschtschenko doch Präsident wäre, wünscht sie sich, ja, dann wäre das Leben für die Menschen viel leichter. Aber statt dessen mussten sie ihn ja absetzen, schimpfen die beiden. Kútschma, der wolle alles nur für sich allein. Aber Júschtschenko, meinen sie, der hat etwas für die Leute getan.
Viktor Júschtschenko - er war ein Jahr Ministerpräsident. Seitdem ist er für viele Ukrainer zur Lichtgestalt geworden im staatlichen Sumpf aus Korruption und politischem Ränkespiel. Er habe für das Wohl der Ukraine gekämpft, und nicht für den eigenen Geldbeutel wie die anderen, so hört man immer wieder. Zur Zeit vertrauen ihm 25 Prozent der Ukrainer, haben Meinungsumfragen ergeben, das ist weit mehr als bei jedem anderen Politiker. Präsident Leonid Kútschma dagegen, der sich in sieben Jahren Amtszeit als unfähig erwiesen hat, der Massenarmut Einhalt zu gebieten, bringt es gerade auf 11 Prozent.
Auch im Westen war der ehemalige Nationalbank-Chef Júschtschenko als Reformer geachtet. Und tatsächlich sah es zunächst so aus, als könne er den wirtschaftlichen Absturz des Landes aufhalten. Unter seiner Regierung erzielte die Ukraine die besten Ergebnisse seit zehn Jahre: sechs Prozent Zuwachs beim Bruttoinlandsprodukt, Überschuss im Staatshaushalt und - das Wichtigste - viele Ukrainer bekamen das erste Mal seit Monaten ihre Löhne und Renten ausgezahlt. Doch vor einem Monat fand die glänzende Karriere des Viktor Júschtschenko ein jähes Ende: Das Parlament, das von Kommunisten und Parteien finanzstarker Großunternehmer dominiert ist, setzte ihn per Misstrauensvotum ab.
Jetzt trauern viele Ukrainer ihrem Ministerpräsidenten hinterher. Auch die Passanten, die auf dem Chreschátik, der Prachtstraße von Kiew, die Abendsonne genießen:
So ein super Mann, und so jung. Ein fantastischer junger Mann. Gut, als Politiker war er vielleicht noch nicht richtig erwachsen. Aber er hat sich 100 Mal besser profiliert als alle anderen, er hatte richtig viel Ahnung von Wirtschaft. So wie der die Wirtschaft belebt hat - das hat die Welt noch nicht gesehen.
Júschtschenko war in Ordnung, auch wenn man ihn nicht nach nur einem Jahr Amtszeit beurteilen kann. Ich bedauere sehr, dass sie ihn abgesetzt haben. Er hat mir gefallen. Er war so sympathisch.
Besonders hoch rechnet man dem ehemaligen Regierungschef an, dass er den sogenannten "Oligarchen-Parteien" die Stirn geboten hat. Oligarchen, so schimpft man in der Ukraine jene finanzstarken Großindustriellen, die über politische Ämter direkten Einfluss auf die Politik des Präsidenten nehmen sollen. Sie sollen, von Kútschma geduldet, Unsummen aus dem Staatshaushalt abziehen und auf ihre Privatkonten laufen lassen, während zugleich das Geld für Gehälter und Renten fehlt. Das Misstrauensvotum gegen Júschtschenko - kein Schicksalsschlag, sondern sichtbares Zeugnis eines korrupten Staatsapparates, meinen die Vertreter der reformorientierten Opposition. So auch Sergéj Komissárenko. Unter dem vorigen Präsidenten der Ukraine war er stellvertretender Ministerpräsident, heute ist er Gründungsmitglied der reform-orientierten Bürgerbewegung "Forum der Nationalen Rettung".
Sobald du echte Reformen einleitest und dabei in Konflikt mit den Interessen der Oligarchen gerätst, die den Präsidenten umgeben, wirst du nicht durchkommen. Entweder du funktionierst nach ihren Spielregeln, oder du kannst gehen. Das hat die Absetzung von Júschtschenko ganz deutlich gezeigt. Und darum kann von wirklichen Reformen keine Rede sein, bis wir nicht das ganze Regierungssystem verändert haben.
Die jüngsten Ereignisse haben neuen Zündstoff für eine alte Diskussion geliefert: Ob die Zukunft der Ukraine in der Anbindung an Europa oder an Russland liegt, ob sie ihr Staatssystem am Modell des westlichen Liberalismus orientieren soll - oder doch lieber an der in Osteuropa zunehmend spürbaren Wiedergeburt autoritären Denkens. Inzwischen hat Präsident Kútschma einen neuen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten erkoren - Anatolij Kínach - Lobbyist der Großunternehmer und Industriellen sowie mehrere Jahre stellvertretender Ministerpräsident. Voraussichtlich wird Kínach aber nur bis zu den Parlamentswahlen im März kommenden Jahres amtieren. Vorher muss er noch vom ukrainischen Parlament bestätigt werden. Und das könnte ein langwieriger Prozess werden, meint der Deutsche Lars Handrich, der im Auftrag der Bundesregierung als Berater den ukrainischen Staat bei dessen Reformplänen unterstützen soll. - Ob der neue Kandidat die Sympathie der Kommunistischen Partei, der größten Fraktion im Parlament, gewinnen wird, ist für Handrich fraglich.
Deswegen ist es zu erwarten, dass es so eine Art Care-taker-Government geben wird, das ohne Parlamentsmehrheit, nur auf Präsidentenerlass hin amtiert. Es wird eine schwache Notlösung sein, die gleichzeitig aufgrund ihres kurzen Zeithorizontes, den sie hat - weil sie wohl keine Aussicht hat, nach den Parlamentswahlen weiter zu machen - eher zu extremem rent-seeking neigen wird.
Was soviel heißt, wie: Große Teile der Regierung werden während der kurzen Zeit, in der sie an den Töpfen sitzen, versuchen, sich so stark wie möglich zu bereichern. Im Augenblick liegt eine gespannte Ruhe über der Hauptstadt Kiew. Der Reformkurs liegt auf Eis, die politische Elite hält sich mit öffentlichen Äußerungen zurück. Eine Verschnaufpause für Präsident Kútschma, hatte der doch zwischen allen Stühlen gesessen, während Júschtschenko seinen Wirtschaftskurs ohne jegliche Rücksichten auf die Befindlichkeiten seiner politischen Gegner durchsetzte. Die Kommunisten beschuldigten Kútschma, sich zum Handlanger westlicher Wirtschaftsinteressen zu machen, die Júschtschenko-Unterstützer der reform-orientierten Parteien klagten dagegen, dass der Präsident die längst überfällige Umstrukturierung der Wirtschaft bremse. Einig waren sich beide Flügel nur darin, dass Kútschma korrupt und als Präsident nicht mehr tragbar ist.
Und tatsächlich hatte es noch im Februar so ausgesehen, als könnten sie ihn mit vereinten Kräften zum Rücktritt zwingen. Damals war eine Welle des Volkszorns über Kútschma hereingebrochen, weil heimlich angefertigte Tonaufnahmen zu belegen schienen, dass er den Mord an einem regierungskritischen Journalisten sowie weitere Untaten veranlasst haben könnte. Doch die allgemeine Wut verrauchte so schnell, wie sie gekommen war, die Zweckehe zwischen Kommunisten und reformorientierten Kräften zerbrach.
Inzwischen hat sich Ernüchterung breit gemacht. Das bestätigt auch Sergéj Komissárenko von der reformorientierten Bürgerbewegung Forum.
Immerhin hat die Existenz dieser Tonbänder etwas sehr wichtiges gezeigt: Die Aufzeichnungen haben so viele Argumente gegen Kútschma gebracht - über Wahlfälschungen, darüber, wie der Präsident Einfluss auf die Steuerbehörde, die Polizei, die Sicherheitsdienste und die Staatsanwaltschaft nimmt. In jedem anderen Land wäre das 100 Mal ein Grund gewesen, den Präsidenten abzusetzen. Bei uns aber reicht das nicht. Das bedeutet, dass wir uns in einer Art Monarchie befinden, irgendwo am Rande der Weltzivilisation, wo andere Spielregeln herrschen.
Das erklärte Ziel des Forums und der reformorientierten Oppositionsparteien, Kútschma zum Rücktritt zu zwingen und grundlegende politische Reformen durchzusetzen, scheint fürs erste in weite Ferne gerückt. Zumal die Bewegung in sich zersplittert ist, ganz unterschiedliche Ideen vertritt und keine Führungspersönlichkeit aufweisen kann. Trotzdem will sie ihre Kräfte jetzt doch noch einmal bündeln. Ein Volksentscheid soll bestätigen, was Meinungsumfragen in der Bevölkerung längst offengelegt haben: dass Kútschma das Vertrauen seiner Bevölkerung völlig verloren hat. Lars Handrich, Mitglied der Deutschen Beratergruppe, hält den Plan, die Bevölkerung über eine Volksentscheidung für die Anti- Kútschma-Bewegung zu mobilisieren und sich des Präsidenten auf diese Weise zu entledigen, für unrealistisch.
Ich glaube es ist so, dass Kútschma alternativlos dasteht. Es gibt keinen Gegenkandidaten - und was schlimmer ist: es gibt keinen Mechanismus, wie man Kútschma aus dem Amt entfernen könnte. Selbst wenn dieses Impeachment-Verfahren oder die Volksentscheidung, wenn das Erfolg haben sollte - es gibt kein formales Verfahren, wie man Herrn Kútschma aus dem Amt entfernen könnte. Die Verfassung sieht so einen Mechanismus nicht vor. Und selbst wenn es das gäbe - die Gerichtsbarkeit in der Ukraine ist weit vom Text entfernt - Recht haben und Recht bekommen ist zweierlei, und das gilt in der Ukraine besonders.
Auch die kommunistische Opposition hält weiter an ihrem Plan fest, Kútschma noch vor Ablauf seiner Legislaturperiode abzusetzen. Zunächst will sie jedoch neue Kräfte für die Parlamentswahlen im kommenden Jahr sammeln. Und dafür stehen ihre Chancen nicht schlecht, denn - ganz im Gegensatz zu den reform-orientierten Parteien - ist sie gut organisiert und ideologisch fest gefügt. Schon jetzt bilden die Kommunisten mit rund zwanzig Prozent der Sitze die stärkste Fraktion im Parlament - das ist zwar noch nicht genug, um der Regierungspolitik ihren Stempel aufzudrücken, aber meistens reicht es, um die wesentlichen Entscheidungen zu blockieren. Darum ist Stánislav Gorénko, Parlamentsabgeordneter in der Kommunistischen Fraktion, zuversichtlich:
Ich denke, dass die Kommunistische Partei heute die einzige reale politische Opposition ist zu diesem Regime, das die Ukraine unter dem Diktat des Internationalen Währungsfonds führt. Die einzige. Wir hören so oft: wir wissen genau, was ihr vorhabt. Und ich sage: Ja genau. Wir wissen, was wir vorhaben, und unsere Wähler wissen es auch. Sie fragen sich nicht, ob wir uns irgendwann nach rechts oder links wenden werden. Wir haben ein Programm, daraus sind wir entstanden, und danach werden wir auch handeln.
Marktfreiheit in staatlichen Grenzen, Erhöhung der Geldmenge gegen die Massenarmut und die enge Zusammenarbeit mit Russland, Weißrussland und Moldawien - so lautet das Programm der ukrainischen Kommunisten. In der Bevölkerung stoßen sie damit auf breite Unterstützung, vor allem bei der älteren Generation. Tatsächlich sieht es im Moment so aus, als gewännen jetzt die Wortführer die Oberhand, die die Ost-Orientierung der Ukraine fordern. Zumindest aber sind die Versuche, die Ukraine auf den westlichen Pfad zu bringen, zunächst gescheitert: Weder konnte Júschtschenko seine marktorientierten Reformen zu Ende bringen, noch gelang es der national-orientierten Opposition, über die Absetzung von Kútschma den Grundstein für eine Zivilgesellschaft europäischen Typs zu legen. Grandiose Kraftakte beides, aber trotzdem aussichtslos angesichts eines schwerfälligen Staatssystems, das seine eigenen Regeln hat. So sieht es etwa der Politologe Michaíl Pogrebínsky, Direktor des Kiewer Zentrums für Konfliktforschung.
Wir haben es mit einer postsowjetischen Elite zu tun, der größte Teil davon sind Staatsbeamte und Bürokraten. Und auf dieses System ist schwer Einfluss zu nehmen. An seiner Spitze sitzt der Präsident. In diesem Sinne ist das Land streng geführt - was der Präsident sagt, wird ausgeführt. Die Gouverneure der Regierungsbezirke werden nicht gewählt, sondern vom Präsidenten ernannt. Insofern ist die Führungsmacht des Präsidenten offensichtlich, er hat Einfluss in sämtlichen Bereichen. Es sind also weniger die Oligarchen oder irgendwelche anderen politischen Köpfe, die die grundlegenden Entscheidungen treffen. Es ist die namenlose ukrainische Bürokratie.
Wie der Mechanismus dieser postsowjetischen Staatsmaschine funktioniert, das weiß man in den Regionen der Ukraine noch besser als in der Hauptstadt. Ortswechsel: Donézk, Millionenstadt, Industriestandort und Steinkohle-Fördergebiet, liegt 600 Kilometer östlich von Kiew, im russischsprachigen Teil der Ukraine. Im "Weißen Haus", wie die Donézker den Sitz ihrer Bezirksregierung nennen, betrachtet man das Machtgezerre in der Hauptstadt mit äußerster Gelassenheit. Júrij Andrjúnin etwa, persönlicher Berater des Gouverneurs, kann sich nur wundern, wenn er nach seiner Meinung über den politischen Kurs des Präsidenten gefragt wird, oder danach, was er sich von dem neuen Ministerpräsidenten wünscht.
Die Ukraine hat ihren Wirtschaftskurs festgelegt, und wer gerade Ministerpräsident ist, spielt schon längst keine Rolle mehr. Er kann die Entwicklung fördern oder bremsen, aber die Linie ist bestimmt. Und die Frage, wie lange Kútschma noch Präsident der Ukraine bleiben wird, die stellt man sich hier nicht. Er ist gewählt, und darum gibt es keinen Grund, die Kräfte zu unterstützen, die ihn absetzen wollen. Ich würde nicht einmal sagen, dass es hier eine Opposition gibt. Sie ist einfach noch nicht in Erscheinung getreten. Eine Opposition mag für das Parlament in Kiew charakteristisch sein, aber nicht für uns.
Die Opposition von Donézk sitzt im sechsten Stock eines Bürogebäudes, nicht weit vom Weißen Haus entfernt. Hier sind die Büroräume der örtlichen "Batkivschína" - zu deutsch "Vaterland" -, der Partei der Julia Timoschénko, einer Júschtschenko-Unterstützerin und vor Wochen ebenfalls nach einer Kútschma-Initiative abgesetzten Vize-Ministerpräsidentin. Der Donézker Vorsitzende Anatolij Klatschkóv war 23 Jahre lang Funktionär in verschiedenen Sowjetorganen. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine saß er dann als Regierungsvertreter im Stadtrat. - Vor drei Jahren wechselte er die Seiten. Dies veränderte sein Leben als Politiker: Als Oppositionellem, erzählt er, wird ihm jetzt der Einlass zu offiziellen Versammlungen verwehrt, den Zugang zu Wahlkommissionen müssen sich die Mitglieder seiner Partei auf dem Gerichtsweg erstreiten, und eine Berichterstattung über die Aktivitäten seiner Partei findet nicht statt. Dass die Bezirksregierung die bloße Existenz einer Opposition tot schweigt, ist für ihn nichts Neues.
Dieses System ist erprobt, ich muss es wissen, denn ich war selbst lange genug Teil davon. Ständig wird Druck auf uns ausgeübt. Kurz vor den Demonstrationen zum 1. Mai kamen Mitglieder der Batkivschina zu mir. Sie sind Studenten und steckten gerade in den mündlichen Prüfungen. Denen hatte man in der Universität gesagt: Wenn ihr zu dem Mai-Demonstrationen geht und dort unseren Gouverneur unterstützt, besteht ihr eure Prüfungen automatisch. Die Studenten sagen also zu mir: "Anatolij Michailovic, was sollen wir jetzt tun?" Ich sage: "Ihr wollt doch eure Prüfungen bestehen?" Ich gebe mein Einverständnis, und sie gehen auf die Demonstration.
So pflegen viele Studenten ihre Sympathien für die Batkivschína und andere oppositionelle Organisationen lieber im Geheimen. Andere, wie die 25-jährige Kunst-Studentin Veroníka, engagieren sich öffentlich in regierungskritischen Jugendorganisationen. Aber ein ungutes Gefühl ist schon dabei.
Ob das gefährlich ist oder nicht, kann ich nicht sagen. Aber wir werden abhängig. Ich kenne einen Bekannten. Dieser Student fährt oft nach Kiew, und er ist in dieser Bewegung sehr aktiv. Was das Problem ist, dass er Propaganda macht, und dass viele Studenten sich dafür interessieren. Und der Dekan der Fakultät hat ihm gesagt: Wenn du weiter studieren willst, sollst du ein Blatt bringen, dass du nicht mehr in der Partei mitmachst. Er ist ausgetreten.
In Donézk kann man viele solcher Geschichten hören. Bergarbeiter, die sich in der Kútschma-kritischen Freien Gewerkschaft engagieren, droht die Personalverwaltung mit Entlassung, Menschenrechtler fühlen sich vom Geheimdienst verfolgt, Wahlbeobachter werden nachts bedroht. Wer politisch aktiv wird, der fühlt das wachsame Auge der staatlichen Behörden schnell in seinem Rücken. Längst nicht alle dieser Ereignisse hatten für die Betroffenen schwerwiegende Folgen, aber alle gruben sich in ihr Gedächtnis ein. Um so größere Hoffnung setzt der Batkivschína-Vorsitzende Klatschkov jetzt auf die gegen Kútschma gerichtete Volksbefragung, die seine Partei plant. Nicht, weil er sie für ein effektives Mittel zur Absetzung Kútschmas hielte. Aber weil er hofft, dass die ukrainische Bevölkerung sich endlich auch auf der politischen Bühne zu dem bekennt, was sie sonst nur den Meinungsforschern anvertraut.
Wir wollen die Frage, ob Kútschma zu Recht auf dem Präsidentensessel sitzt, nicht juristisch, sondern moralisch entscheiden. Selbst wenn nichts dabei rauskommt, wenn wir nur 10 oder 12 Millionen Unterschriften zusammenkriegen. Aber die wollen wir ihm auf den Tisch stellen und sagen: Gegen dich sind 15 Millionen, was willst du noch hier? Wir setzen auf das Referendum. Ob dabei etwas heraus kommt, das hängt alleine von uns Ukrainern ab.