Archiv


Regieren im Niemandsland

Rechtsunsicherheit, Korruption, Gewalt, die Missachtung von Menschenrechten, das Fehlen von Versorgungsleistungen - täglich erreichen uns solche Nachrichten aus Gegenden, in denen ein Staat zerfallen ist oder es nie einen funktionierenden Staat gegeben hat. Im Sonderforschungsbereich "Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit", will man klären, wie vernünftiges Regieren auch in solchen Regionen möglich ist.

Von Bettina Mittelstrass |
    "Unsere Ausgangsvermutung ist, dass der moderne Nationalstaat, also Deutschland, Frankreich, USA etc. wie wir ihn im Westen vorfinden, mit einer entwickelten Demokratie, mit entwickelten wohlfahrtstaatlichen Leistungen, mit einem Rechtsstaat etc. sowohl im historischen Vergleich aber auch im Vergleich mit anderen Staaten eigentlich eher die Ausnahme ist und nicht die Regel. Wenn das aber so ist, dann muss sich unsere Forschung auch daran ausrichten, dass sie nicht immer sozusagen den entwickelten westlichen Staat zum Maßstab aller Dinge macht. "

    Nur genau das tut sie bislang nicht, sagt der Politologe Professor Thomas Risse den fast 500 Teilnehmern der Konferenz. Die Theoretiker, die sich überlegen, wie man am besten in so genannten "schwachen Staaten" regieren muss, leben und denken selbst in westlichen Industrienationen. Ihr Erfahrungshintergrund ist westliche Moderne und funktionierende Staatlichkeit. Also orientieren sich ihre "Governance-Konzepte", ihre entwicklungspolitischen Programme, mit denen dann internationale Hilfsorganisationen ausgestattet werden, immer am Modell des Staats. Aber es gibt keinen funktionierenden Nationalstaat in Afghanistan, betont Thomas Risse, und deshalb will man im Sonderforschungsbereich "Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit" schon im Ansatz anders denken.

    "Wenn die Bedingungen, die wir hier in Europa haben, systematisch nicht gegeben sind und mit großer Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft nicht gegeben sein werden, wie kann man denn jetzt trotzdem, was wir Governance Leistungen nennen, bereitstellen? Also: Sicherheit für die Menschen, ein vernünftiges Herrschaftssystem, zumindest mal Minimalstandards, hinter die wir nicht mehr zurück wollen, also dass zum Beispiel grundlegende Menschenrechte einfach eingehalten werden, und drittens: Wohlfahrtsleistungen, also einigermaßen saubere Umwelt, dass die Menschen was zu essen haben, also richtig die Grundbedürfnisse befriedigt werden. Wie kann man das eigentlich machen, wenn Sie keinen funktionierenden Staat im Hintergrund haben?"

    ... und auch so schnell keinen aus dem Boden stampfen können. Natürlich kann es nicht darum gehen, sich von den eigenen guten Erfahrungen systematisch zu verabschieden. Aber es muss viel mehr darauf hingearbeitet werden, den Blick für andere Realitäten frei zu bekommen. Auch die geladenen Fachkollegen, die auf der Konferenz Kritik üben und Impulse geben sollten, betonten immer wieder, dass die Frage der Übertragbarkeit von politischen Konzepten aus entwickelten Industrienationen auf unterschiedliche Regionen der Welt im Vordergrund kritischer Forschung stehen muss. Die Historikerin Professor Ursula Lehmkuhl:

    "Also wenn ich noch mal an diese Reisefähigkeit - das ist ja eine der großen Leitfragen - anknüpfen kann, die Reisefähigkeit des Governancekonzeptes, so sehen wir mehr und mehr, dass wir, wenn wir von Reisefähigkeit sprechen, nicht allein Übertragbarkeit meinen, sondern dass wir auch die Widerständigkeit des Konzeptes mit in den Blick nehmen müssen, dass wir Aneignungs- und Abwehrprozesse in den entsprechenden ... Räumen begrenzter Staatlichkeit mitthematisieren müssen, dass wir Fragen von kultureller Übersetzung mit in den Blick nehmen müssen. "

    Um selbst nicht Gefahr zu laufen, mit zu einseitigem kulturellen Blick zu forschen, hat der Sonderforschungsbereich finanzielle Mittel für Gastprofessuren und Graduiertenkollegs, die Wissenschaftlern aus solchen Ländern "begrenzter Staatlichkeit" zur Verfügung gestellt werden. Gemeinsam wird zu klären sein, wie Herrschaftsausübung auch ohne das Leitbild entwickelter Staatlichkeit aussehen kann. Die schwierigste Frage dabei ist: wie kann sich Herrschaft legitimieren - wenn nicht durch Rechtsstaatlichkeit? Durch Demokratie? Noch gibt es darauf keine Antworten. Von den angesetzten 12 Jahren intensiver Forschungsarbeit des SFB diente das vergangene erste Jahr zunächst der theoretischen Grundsatzdiskussion und interdisziplinären Verständigung. Denn wenn Historiker mit Politologen und Juristen über einen gemeinsamen Gegenstand zusammen arbeiten wollen, muss eine gemeinsame Sprache gefunden werden, damit nicht jeder unter "Governance" etwas anderes versteht. Thomas Risse:

    "Man kann - und diese Beispiele gibt es in der Literatur - Governance so weit fassen, dass jede Art von sozialer Ordnung Governance ist. Dann ist ein ganz normaler Markt Governance. Eigentlich alles. Dann sagt der Politologe sofort: nein, das wollen wir nicht. Dann ist das nicht mehr beforschbar. Also wenn ich sozusagen keine Grenze eines Begriffes habe, was soll das dann? Wir wollen uns ja mit konkreten politischen Fragen befassen und nicht mit sozialer Ordnung insgesamt. Governance ist nicht das Gleiche wie Gesellschaft usw. So. ... Ein ganz enger Governancebegriff würde unter Governance nur noch verstehen, wenn sag ich mal nicht-staatliche Akteure irgendwelche öffentlichen Güter etc bereitstellen. "

    Mit "nicht-staatlichen Akteuren" sind gemeint: internationale Unternehmen, humanitäre Organisationen oder lokale so genannte NGOs, Nicht-Regierungsorganisationen, die zum Beispiel Bildungsaufgaben übernehmen. Wissenschaftler bezeichnen deren Tätigkeit zumeist als "neue Formen des Regierens".

    "Dann kriegt man aber nicht in den Blick, dass ja die Staaten nun nicht einfach weg sind. Also es gibt ja noch Regierungen! Und die regieren auch! Und auch in den Regionen, in denen wir zu tun haben, regieren die zum Teil sehr scharf und sehr stark! "

    "Wir haben dieses erste Jahr abgeschlossen mit einer Klausurtagung, die den Zweck hatte, genau diese zentralen Begrifflichkeiten, an denen wir gearbeitet hatten, noch mal zusammen zu fassen und einen Grundkonsens zu formulieren. Diesen Grundkonsens haben wir zusammengefasst in einem Glossar und mit diesem konzeptuellen Grundkonsens sind nun unsere Mitarbeiter in die Feldforschung gegangen."

    Ursula Lehmkuhl. Ab sofort geht es also in den 16 Teilprojekten an die empirische Frage, wer denn nun in verschiedenen Ländern Asiens, Amerikas und Afrikas, unter verschiedenen Bedingungen, in Geschichte und Gegenwart, tatsächlich an Stelle eines Staates erfolgreich für Sicherheit und Wohlfahrt der Bevölkerung sorgen konnte oder kann. Auf diese Ergebnisse dürften auch die Vertreter aus dem Planungsstab des Auswärtigen Amtes und des Entwicklungsministeriums gespannt sein, die zwei Tage lang im Auditorium saßen und die bislang noch hoch theoretische Diskussion aufmerksam verfolgten.