Mittwoch, 24. April 2024

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Regina Stürickow: Der Kommissar vom Alexanderplatz

"Am Morgen des 5. November 1938 erscheint Kommissar Saevecke unangemeldet in Gennats Büro. Gennat hat heute gute Laune, was in der letzten Zeit nicht mehr oft vorkommt und grinst den jungen Kommissar verschmitzt an: ‘Ach, der neue Kollege. Na, haben Sie sich nun doch an uns gewöhnt, oder bereuen Sie noch immer, daß Sie nach Berlin gekommen sind?’ Noch bevor Saevecke etwas erwidern kann, fügt Gennat, an Trudchen Steiner gewandt, die gerade ein Stenogramm aufgenommen hat, erklärend hinzu: ‘Unser Theo, müssen Sie wissen, wollte viel lieber zur Hamburger Hafenpolizei. Bevor er zur Kripo kam, war er nämlich Seefahrer.’ Saevecke will etwas sagen, kommt aber nicht zu Wort. Gennat weist mit ausgestrecktem Arm auf den Kommissar, als wolle er den Auftritt eines Stars ankündigen: ‘Sehn Sie sich diesen Mann an, Trudchen, der ist mit allen Wassern gewaschen. Fünfmal ist dieser Pfundskerl um Kap Horn gesegelt, auf stolzen Viermastern. Das können wir Landratten uns gar nicht vorstellen.’ ‘Toll!’ staunt Trudchen. ‘Und was war Ihre längste Fahrt?’ ‘Bis nach Australien’, jetzt kommt Theo Saevecke endlich zu Wort."

Sven Jürgensen | 12.06.1998
    Ein seltenes Glück, vielleicht Zufall, vielleicht Fügung, daß einer, über den hier berichtet wird, diesen Bericht selbst verliest und eben dadurch dessen Authentizität bezeugt. Theo Saevecke liest die Passage, die davon berichtet, wie er vor 60 Jahren den hochverehrten Gennat das erste Mal in Berlin getroffen hat. Und tatsächlich: die Umstände stimmen: plaudernd nacherzählt von Regina Stürickow, im sachlichen Kern authentisch. Theo Saevecke, einer der letzten noch lebenden Zeitgenossen Gennats, bestätigt das. Mit erstaunlicher Präzision erinnert sich Saevecke noch immer an jene Jahre, an jene Zeit des leidenschaftlichen Kriminalisten, der er selbst einmal gewesen ist. Prägende Jahre, verknüpft mit dem genauso verehrten wie berühmten Ernst Gennat: "Er war vollkommen unpolitisch, eben ein Fachmann auf diesem Gebiet und hatte sich vollkommen der Mordinspektion verschrieben. Ich habe ihn sehr geschätzt. Gennat war eben der Praktiker und ich war ja auch Praktiker."

    Den Praktiker Ernst Gennat, den Kommissar vom Alexanderplatz, schildert Regina Stürickow mit Sinn für Anekdoten und Pointen: "Er ist ein Original gewesen. So was wie Gennat hat’s wirklich nicht noch mal gegeben bei der Kriminalpolizei. Es war ein Drei-Zentner-Mann, der für sein Leben gerne Kuchen gegessen hat, am liebsten Stachelbeerbisset und am liebsten noch mit Schlagsahne. Gennat war der eigentlichte Reformer der Mordkommission. Er hat die Mordkommission reformiert und nach seinen Vorstellungen neu organisiert. Vor allen Dingen hat er Richtlinien erarbeitet, nach denen die Mordkommission arbeiten sollte. Und nach diesen Richtlinien arbeitet die Polizei heute noch. Und das ist eigentlich das, was ihn so berühmt gemacht hat. Er hat enorme Erfolge gehabt. Man sagt, 95% seiner Fälle soll er aufgeklärt haben. Gennat ist 1904 zur Kriminalpolizei gekommen. Und man muß sich das so vorstellen: Im Jahre 1904, da ist die Kripo noch mit dem Pferdewagen zum Tatort gefahren. Das hat sich dann natürlich alles sehr schnell gewandelt. Aber als Gennat anfing, gab es praktisch noch keine richtige Ausbildung für Kriminalkommissare und auch nicht für Kommissare, die sich mit Mord beschäftigt haben. Und es ist immer wieder vorgekommen, daß von den zuerst an den Tatort gerufenen Revierkriminalbeamten ein Tatort regelrecht verwüstet wurde, also daß man eine Leiche, die auf dem kalten Kachelfußboden lag, erstmal bevor die Mordkommission kam auf’s Sofa gelegt hat, daß man erstmal ein bißchen aufgeräumt und Ordnung geschaffen hat. Das bedeutet, daß die Spuren am Tatort regelrecht zerstört wurden."

    Im Zentrum des Buchs stehen 12 Beispiele. Mit diesen Mordfällen schildert Regina Stürickow den Kommissar, schildert seine Leidenschaft für den Beruf, der für Gennat zur Berufung wurde. Zugleich Beispiel für Gennats Hartnäckigkeit: "Er hat, glaube ich, nicht einmal Zeitung gelesen. Politik hat ihn einfach nicht interessiert. Er hat sich völlig passiv verhalten."

    Und wie reagierten die Nazis auf diesen Kriminalen? "Man wäre ihn gerne losgeworden, aber durch seine enormen Kenntnisse und seine Integrität brauchte man ihn einfach. Man konnte ihn nicht so einfach abservieren. Er war einfach zu wichtig." Fand Gennat sich in den neuen Verhältnissen des 3. Reichs noch zurecht? "Gennat soll in seinem typischen Berlinerisch dazu einmal gesagt haben: ‘Also ick wes nich Leute, in den Laden pass ich hier wohl nich mehr. Dit geht mir über meinen Verstand.’ Und das war wohl so seine Haltung. Er hatte wohl auch keine Lust mehr, keine Freude mehr an seiner Arbeit nach 1933."

    Wie Ernst Gennat ist auch Theo Saevecke Zeit seines Lebens ein Praktiker gewesen. Wohl eben deswegen ist er, Jahrzehnte vor Eduard Zimmermann mit seiner XY-ungelöst-Sendung, auf die Idee gekommen, einen Mörder übers Fernsehen zu suchen. Für Gennat war diese, für damalige Verhältnisse spektakuläre Fahndung, der letzte Fall, mit dem er sich noch aktiv auseinandergesetzt hat. Regina Stürickow dazu: "Der letzte Fall behandelt einen Taxi-Fahrer-Mord im Jahre 1938 und da spielte Saevecke eine ganz besondere Rolle. Denn er kam auf die Idee, ob man nicht diesen Fall in den jetzt gerade entstandenen Fernsehstuben im Fernsehen zeigen könnte. Denn man hatte ausgesprochene Schwierigkeiten, den Mörder des Taxisfahrers zu finden. Man hatte nur einen Mantel und noch so ein paar Beweisstücke, aber mehr einfach nicht. Und Saevecke ist derjenige gewesen, der praktisch die erste Fernsehfahndung im deutschen Fernsehen präsentiert hat."

    Theo Saevecke erinnert sich noch genau an die Ereignisse in jenem November des Jahres 1938, an den Tathergang und die Hintergründe. Mit Hilfe seines Foto- und Dokumentenarchivs rekonstruiert er die Ereignisse: "Dieser, der hier abgebildet ist, Hans Hahn hier, das war der Täter. Das war ein junger Mann, der hatte kein Geld und der hatte sich mit einer Taxe ihrgendwo rausfahren lassen, und zwar hier eben nach dem Wannsee, und dort ist er über den Fahrer hergefallen und hat ihn totgeschossen. Gefunden haben wir diesen Mantel, und dieser Mantel spielte, den habe ich dann vorgezeigt bei der Fernsehsendung, eine gewisse Rolle." Wir hatten ungefähr tausend Mitteilungen über einen eventuellen Täter. Und durch zwei Mitteilungen konnte man konstruieren, das könnte eventuell der Hahn sein. Es gab aber keine Fernsehapperate, sondern es gab nur 28 Fernsehstuben in Berlin. Ich habe dann dazu mittags im Rundfunk gesprochen und habe auf die Fernsehsendung hingewiesen, so hatten wir das abgesprochen mit dem Mann vom Fernsehen. Dadurch sind wir dann auf den Täter gekommen."

    "Der Kommissar vom Alexanderplatz" von Regina Stürickow - solide recherchiert, kurzweilig und heiter geschrieben. Ein Buch, das aus einer kriminalistischen Perspektive Berlin in den zwanziger und dreißiger Jahre zeigt, ein Buch, das vielleicht auch dem ein oder anderen Krimiautor eine willkommene Schatzgrube bietet.