"Die menschliche Welt ist ein offenes und unvollendetes System, und die gleiche Kontingenz, durch die ihr Disharmonie droht, entreißt sie auch der Fatalität der Unordnung und verbietet, an ihr zu verzweifeln, sofern man sich nur in Erinnerung ruft, dass die Apparate Menschen sind, und sofern man die Beziehung von Mensch zu Mensch aufrechterhält und mehr. Ob die Menschheit wirklich sein wird, kann uns diese Philosophie zwar nicht sagen, so als verfüge sie über irgendeine abgelöste Kenntnis und wäre nicht ebenfalls in die Erfahrung verstrickt, von der sie nur schärferes Bewußtsein ist. Aber sie macht uns wach für die Bedeutung des Ereignisses und der Aktion, sie lehrt uns, unsere Zeit zu lieben, die nicht die bloße Wiederholung des ewig Menschlichen, die bloße Schlussfolgerung aus bereits aufgestellten Prämissen ist: Sie umschließt wie das kleinste wahrgenommene Ding - wie eine Seifenblase, wie eine Welle oder wie der allereinfachste Dialog ungeschieden alle Unordnung und alle Ordnung der Welt."
So Merleau-Ponty am Ende von "Humanismus und Terror", seiner in Frankreich 1947 publizierten Arbeit über das Problem der kommunistischen Gewalt, einer Auseinandersetzung, die später auch in Deutschland von großem Einfluss war. Ebenso wie andere bedeutende Theoretiker, deren Denken sich so schlecht für das heute übliche kurzatmige Allerweltsgerede eignet, wurde auch Merleau-Ponty in letzter Zeit immer weniger zur Kenntnis genommen. Um so bemerkenswerter, dass der Münchner Wilhelm-Fink-Verlag nun einen Sammelband mit Aufsätzen über das Werk des französischen Intellektuellen herausgebracht hat. Dabei steht das Verhältnis seiner Arbeiten zu den "Kulturwissenschaften" im Mittelpunkt. Khosrow Nosratian hat das Buch für uns rezensiert.
Der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty, 1908 geboren und 1961 gestorben, hat ein vielschichtiges Werk hinterlassen. Zeitlebens suchte er nach einer dritten Dimension, in der sich philosophisches Denken und positives Wissen in einer meditativ gehaltenen Sachlichkeit würden begegnen können. Ihm ging es um die Wechselbeziehungen zwischen der Wahrnehmung und der Geschichte, der Kunst und der Politik. Sein Existentialismus öffnete die Philosophie für Übergänge zur Nicht-Philosophie. Dabei zog er es vor, das Modewort "Existentialismus" in schwebende Anführungszeichen zu setzen, um zugleich Respekt wie Reserve zu bekunden. So hat sich Merleau-Ponty von der Idee einer zielgerichteten Universalgeschichte getrennt. Er ließ die große Vernunft stolpern, um die im Zeichen des beginnenden Kalten Krieges rasch verknöcherten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Den Zwischenwelten des schöpferischen Ausdrucks verpflichtet, hat sein gesellschaftskritisches Anliegen die Traditionslinien von Hegel und Husserl, Marx und Weber zusammengeführt. Fortan gilt der Blick des Menschen auf seine Geschichte als fragmentiert, indirekt und unterschwellig verzerrt.
Weil die Begriffe des Schöpferischen strittig und die Regeln des Ausdrucks unbeständig sind, ist die gesuchte dritte Dimension nicht auf Anhieb zu haben. Genau deshalb liefern Merleau-Pontys Schriften für die Bemühungen der heutigen Kulturtheorie um eine postmetaphysische Gesellschaftskritik die fundierten Bezugspunkte. Das belegt der von Regula Giuliani im Münchner Wilhelm Fink Verlag herausgegebene Sammelband mit dem Titel "Merleau-Ponty und die Kulturwissenschaften". Ein Dutzend Autoren beschäftigt sich mit dem Einfluß Merleau-Pontys auf die Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung. Unter anderem untersuchen die durchweg sorgsam gearbeiteten Aufsätze Merleau-Pontys Beitrag zu linguistischen und psychologischen Fragen, seine naturphilosophischen Überlegungen sowie seine kunsttheoretischen Betrachtungen.
Abgerundet wird der Reader durch die Erstübersetzung eines Vorworts von Merleau-Ponty zu dem Buch eines befreundeten Arztes. Hier kann der Leser nicht nur die Verbindung von elliptischer Eleganz mit dialektischer Strenge bewundern, die Merleau-Pontys Schreiben zu einem intelligenten Lesegenuss macht. Vielmehr findet sich auf diesen wenigen Seiten Merleau-Pontys Konzept einer kulturwissenschaftlichen Freud-Lektüre. Er entziffert die "unerbittliche Hermeneutik", die der Begründer der modernen Psychoanalyse entfaltet hat, als ein paradoxes Fragen, das sich den nahtlosen Passungen geläufiger Standard-Diskurse nicht füge. Die Psychoanalyse als revolutionäres Unternehmen dürfe keine "gezähmte Sphinx" mit gestutzten Krallen werden. "Freuds Genie liegt offensichtlich nicht im philosophischen oder erschöpfenden Ausdruck. Es liegt in seinem Kontakt mit den Dingen, in seiner polymorphen Wahrnehmung der Worte, der Handlungen, der Träume, ihrem Fluss und Rückfluss, der Nachwirkungen, Echos, Ersatzbildungen und Metamorphosen. Freud ist souverän in diesem Hinhören auf das unruhige Gemurmel eines Lebens."
Die für diese Sendung relevanten Beiträge sind auf die ersten hundert Seiten konzentriert. Sie sind mit den ausgesprochen kühnen Fragestellungen Merleau-Pontys zu Politik und Geschichte befasst, die im restaurativen Nachkriegs-Deutschland kaum wahrgenommen wurden. Dazu muss man wissen, dass Merleau-Ponty 1945 zusammen mit Jean-Paul Sartre die Redaktion der neu gegründeten Zeitschrift "Les Temps Modernes" übernahm. In dieser gärenden Umbruchslage bekannte er sich zu einem experimentellen Marxismus, ohne die Illusion einer revolutionären Welterlösung zu teilen. Diese Auffassung unterzog er vielmehr einer gedanklich rigorosen und sprachlich glanzvollen Kritik. In seinem makellosen Satzbau verwies er auf das Gefüge der symbolischen Ordnungen, die sich zwischen Subjekt und Objekt schieben. So versickern wohlfeile Programme zur direkten Aktion in einem vergeblichen Aktivismus.
Der Motivstrang einer Brechung oder Streuung, die das Vernünftige im Zuge seiner Verwirklichung in Kauf nehmen muss, ist in der neueren Kulturtheorie unter dem Titel 'Dezentrierung' nachgerade prominent geworden. Bernhard Waldenfels, der sich als Übersetzer und Ausleger, Herausgeber und Kommentator Merleau-Pontys hierzulande große Verdienste erworben hat, erläutert die Grundoperation seines Lehrers. "Bestimmte Fortschritte sind möglich, nicht aber 'der' Fortschritt, der ein für allemal aus der bloßen Vorgeschichte in eine Geschichte der Menschheit überleiten würde. Mit der Öffnung der Dialektik erhält die Geschichte ihre Pluralität, Vieldeutigkeit und Kontingenz zurück."
Der hochgeschraubte geschichtliche Anspruch wird der Prosa der Welt wiedergegeben, die Historie den Geschichten, den Grenzfiguren der materiellen Praxis. So sitzt die Geschichte sich selbst im Nacken, wenn ihrem Utopismus allzuviel gelingt, so brennt die Politik sich selbst unter den Nägeln, wenn ihrem Pragmatismus allzu wenig genügt. Beide entgleiten sich beständig selbst, die eine in eine überhimmlische Gesinnung, die andere in unterweltliche Sitten. Montaigne hat sich über diese seltsame Eintracht mokiert. Geschichte und Politik müssen also im bewussten Zugriff aufeinander bezogen werden. Gewalt, schreibt Merleau-Ponty in seinem Buch über 'Humanismus und Terror', sei unser Los. "Der Antikommunismus weigert sich zu sehen, dass die Gewalt überall ist, und der schwärmerische Sympathisant, dass niemand ihr ins Angesicht zu blicken vermag." Schon die Wahrnehmung sei ein gewaltsames Geschehen, da jede Wahrnehmung mehr behaupte, als sie wirklich erfasst. Nicht zufällig spricht Merleau-Ponty einmal von einer barocken Welt, aufrecht und eindringlich, die mit ihren Kanten noch den Blick verletzt, der sie umschmeichelt.
Das ist der Dreh- und Angelpunkt in Martin Schnells Beitrag zu Merleau-Pontys 'Phänomenologie des Politischen'. Sein umfassender Literaturbericht mustert das politische Denken der Gegenwart nach Spuren Merleau-Pontys. Natürlich wird er fündig und referiert alles und jedes. Zu Recht jedoch betont seine inspirierte Exegese Merleau-Pontys Widerstand gegen eine 'rein philosophische Politik'. Auch Uwe Dreisholtkamps Lektüre der mittlerweile klassischen Studie Merleau-Pontys über 'Die Abenteuer der Dialektik' unterstreicht die sozialhistorische Grundierung jener Analysen. Die Geschichte warte nicht auf den Gedanken, der sie zu einer sich selbst durchsichtigen Idee erlöse. Die Erschließung historischer Gebilde sei eine Gestaltung, die stets etwas von einem Gewaltstreich beibehalten werde. "Merleau-Ponty weigert sich, im Namen einer wissenschaftlichen Metaphysik bestehende Gewalt zu leugnen oder von einer privilegierten Aktion zu erwarten, sie jemals ganz aus der Geschichte entfernen zu können."
Daher zielt Merleau-Pontys Versuch der Geschichtsschreibung auf eine lebendige Gegenwart, die sich über die Distanz zu "den allzu zukunftssicheren Vergangenheiten" definiert. Der Philosoph, der sich Marx und Weber zugleich verpflichtet weiß, erinnert gerne an den freizügigen, frischen und kraftvollen Stil marxistischer Analysen, bevor sich orthodoxe Parteiführungen im Weltgeistrang ihrer annahmen. Für ihn ermöglicht die marxistische Haltung nicht nur die moralische Kritik, sondern bildet den wichtigsten Fall einer tragfähigen "geschichtlichen Hypothese". Ohne das behutsame Formenspiel im Umgang mit der Hypothese, die Weber als Idealtyp einfasste und Marx zur Spekulation ausbaute, wird die materialistische Dialektik für Merleau-Ponty verkümmern müssen und selbst auf dem Misthaufen der Geschichte landen.
Petra Gehrings Beitrag hat Merleaus komplexe Methodik auf den Punkt gebracht. "Eine indirekte Historie ohne Wahrheit, eine leidenschaftliche Übung der Distanz an den Machtsäumen der geschichtlichen Realität, die Baustelle einer Prosa." Wie Marx versteht Merleau-Ponty die Trägheit der Geschichte als "einen Appell an die menschliche Erfindungsgabe", die Gefahrenindex und Risikoprämie vereint. Der Baustellencharakter jener Geschichtsschreibung liest sich auch heute wie eine experimentelle Versuchsanordnung. Ihr geht es darum, "die beiden Enden der Kette, das soziale Problem und die Freiheit, in der Hand zu behalten". Im Zuge einer sich erfindenden Aktion will Merleau-Ponty das politische Feld durchquert sehen. Das fordert kulturwissenschaftliche Anschlüsse geradezu heraus, um den geschichtlichen Raum der Gegenwart stets aufs Neue zu erkunden. Mit der lesenswerten Aufsatzsammlung aus der Reihe 'Übergänge' ist ein vielversprechender Anfang gemacht.
"Merleau-Ponty und die Kulturwissenschaften", herausgegeben von Regula Giuliani, besprach für uns Khosrow Nosratian. Das Buch ist im Münchner Wilhelm Fink Verlag in der Reihe 'Übergänge' als Band 37 erschienen. Es hat 365 Seiten und kostet 78 Mark.
So Merleau-Ponty am Ende von "Humanismus und Terror", seiner in Frankreich 1947 publizierten Arbeit über das Problem der kommunistischen Gewalt, einer Auseinandersetzung, die später auch in Deutschland von großem Einfluss war. Ebenso wie andere bedeutende Theoretiker, deren Denken sich so schlecht für das heute übliche kurzatmige Allerweltsgerede eignet, wurde auch Merleau-Ponty in letzter Zeit immer weniger zur Kenntnis genommen. Um so bemerkenswerter, dass der Münchner Wilhelm-Fink-Verlag nun einen Sammelband mit Aufsätzen über das Werk des französischen Intellektuellen herausgebracht hat. Dabei steht das Verhältnis seiner Arbeiten zu den "Kulturwissenschaften" im Mittelpunkt. Khosrow Nosratian hat das Buch für uns rezensiert.
Der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty, 1908 geboren und 1961 gestorben, hat ein vielschichtiges Werk hinterlassen. Zeitlebens suchte er nach einer dritten Dimension, in der sich philosophisches Denken und positives Wissen in einer meditativ gehaltenen Sachlichkeit würden begegnen können. Ihm ging es um die Wechselbeziehungen zwischen der Wahrnehmung und der Geschichte, der Kunst und der Politik. Sein Existentialismus öffnete die Philosophie für Übergänge zur Nicht-Philosophie. Dabei zog er es vor, das Modewort "Existentialismus" in schwebende Anführungszeichen zu setzen, um zugleich Respekt wie Reserve zu bekunden. So hat sich Merleau-Ponty von der Idee einer zielgerichteten Universalgeschichte getrennt. Er ließ die große Vernunft stolpern, um die im Zeichen des beginnenden Kalten Krieges rasch verknöcherten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Den Zwischenwelten des schöpferischen Ausdrucks verpflichtet, hat sein gesellschaftskritisches Anliegen die Traditionslinien von Hegel und Husserl, Marx und Weber zusammengeführt. Fortan gilt der Blick des Menschen auf seine Geschichte als fragmentiert, indirekt und unterschwellig verzerrt.
Weil die Begriffe des Schöpferischen strittig und die Regeln des Ausdrucks unbeständig sind, ist die gesuchte dritte Dimension nicht auf Anhieb zu haben. Genau deshalb liefern Merleau-Pontys Schriften für die Bemühungen der heutigen Kulturtheorie um eine postmetaphysische Gesellschaftskritik die fundierten Bezugspunkte. Das belegt der von Regula Giuliani im Münchner Wilhelm Fink Verlag herausgegebene Sammelband mit dem Titel "Merleau-Ponty und die Kulturwissenschaften". Ein Dutzend Autoren beschäftigt sich mit dem Einfluß Merleau-Pontys auf die Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung. Unter anderem untersuchen die durchweg sorgsam gearbeiteten Aufsätze Merleau-Pontys Beitrag zu linguistischen und psychologischen Fragen, seine naturphilosophischen Überlegungen sowie seine kunsttheoretischen Betrachtungen.
Abgerundet wird der Reader durch die Erstübersetzung eines Vorworts von Merleau-Ponty zu dem Buch eines befreundeten Arztes. Hier kann der Leser nicht nur die Verbindung von elliptischer Eleganz mit dialektischer Strenge bewundern, die Merleau-Pontys Schreiben zu einem intelligenten Lesegenuss macht. Vielmehr findet sich auf diesen wenigen Seiten Merleau-Pontys Konzept einer kulturwissenschaftlichen Freud-Lektüre. Er entziffert die "unerbittliche Hermeneutik", die der Begründer der modernen Psychoanalyse entfaltet hat, als ein paradoxes Fragen, das sich den nahtlosen Passungen geläufiger Standard-Diskurse nicht füge. Die Psychoanalyse als revolutionäres Unternehmen dürfe keine "gezähmte Sphinx" mit gestutzten Krallen werden. "Freuds Genie liegt offensichtlich nicht im philosophischen oder erschöpfenden Ausdruck. Es liegt in seinem Kontakt mit den Dingen, in seiner polymorphen Wahrnehmung der Worte, der Handlungen, der Träume, ihrem Fluss und Rückfluss, der Nachwirkungen, Echos, Ersatzbildungen und Metamorphosen. Freud ist souverän in diesem Hinhören auf das unruhige Gemurmel eines Lebens."
Die für diese Sendung relevanten Beiträge sind auf die ersten hundert Seiten konzentriert. Sie sind mit den ausgesprochen kühnen Fragestellungen Merleau-Pontys zu Politik und Geschichte befasst, die im restaurativen Nachkriegs-Deutschland kaum wahrgenommen wurden. Dazu muss man wissen, dass Merleau-Ponty 1945 zusammen mit Jean-Paul Sartre die Redaktion der neu gegründeten Zeitschrift "Les Temps Modernes" übernahm. In dieser gärenden Umbruchslage bekannte er sich zu einem experimentellen Marxismus, ohne die Illusion einer revolutionären Welterlösung zu teilen. Diese Auffassung unterzog er vielmehr einer gedanklich rigorosen und sprachlich glanzvollen Kritik. In seinem makellosen Satzbau verwies er auf das Gefüge der symbolischen Ordnungen, die sich zwischen Subjekt und Objekt schieben. So versickern wohlfeile Programme zur direkten Aktion in einem vergeblichen Aktivismus.
Der Motivstrang einer Brechung oder Streuung, die das Vernünftige im Zuge seiner Verwirklichung in Kauf nehmen muss, ist in der neueren Kulturtheorie unter dem Titel 'Dezentrierung' nachgerade prominent geworden. Bernhard Waldenfels, der sich als Übersetzer und Ausleger, Herausgeber und Kommentator Merleau-Pontys hierzulande große Verdienste erworben hat, erläutert die Grundoperation seines Lehrers. "Bestimmte Fortschritte sind möglich, nicht aber 'der' Fortschritt, der ein für allemal aus der bloßen Vorgeschichte in eine Geschichte der Menschheit überleiten würde. Mit der Öffnung der Dialektik erhält die Geschichte ihre Pluralität, Vieldeutigkeit und Kontingenz zurück."
Der hochgeschraubte geschichtliche Anspruch wird der Prosa der Welt wiedergegeben, die Historie den Geschichten, den Grenzfiguren der materiellen Praxis. So sitzt die Geschichte sich selbst im Nacken, wenn ihrem Utopismus allzuviel gelingt, so brennt die Politik sich selbst unter den Nägeln, wenn ihrem Pragmatismus allzu wenig genügt. Beide entgleiten sich beständig selbst, die eine in eine überhimmlische Gesinnung, die andere in unterweltliche Sitten. Montaigne hat sich über diese seltsame Eintracht mokiert. Geschichte und Politik müssen also im bewussten Zugriff aufeinander bezogen werden. Gewalt, schreibt Merleau-Ponty in seinem Buch über 'Humanismus und Terror', sei unser Los. "Der Antikommunismus weigert sich zu sehen, dass die Gewalt überall ist, und der schwärmerische Sympathisant, dass niemand ihr ins Angesicht zu blicken vermag." Schon die Wahrnehmung sei ein gewaltsames Geschehen, da jede Wahrnehmung mehr behaupte, als sie wirklich erfasst. Nicht zufällig spricht Merleau-Ponty einmal von einer barocken Welt, aufrecht und eindringlich, die mit ihren Kanten noch den Blick verletzt, der sie umschmeichelt.
Das ist der Dreh- und Angelpunkt in Martin Schnells Beitrag zu Merleau-Pontys 'Phänomenologie des Politischen'. Sein umfassender Literaturbericht mustert das politische Denken der Gegenwart nach Spuren Merleau-Pontys. Natürlich wird er fündig und referiert alles und jedes. Zu Recht jedoch betont seine inspirierte Exegese Merleau-Pontys Widerstand gegen eine 'rein philosophische Politik'. Auch Uwe Dreisholtkamps Lektüre der mittlerweile klassischen Studie Merleau-Pontys über 'Die Abenteuer der Dialektik' unterstreicht die sozialhistorische Grundierung jener Analysen. Die Geschichte warte nicht auf den Gedanken, der sie zu einer sich selbst durchsichtigen Idee erlöse. Die Erschließung historischer Gebilde sei eine Gestaltung, die stets etwas von einem Gewaltstreich beibehalten werde. "Merleau-Ponty weigert sich, im Namen einer wissenschaftlichen Metaphysik bestehende Gewalt zu leugnen oder von einer privilegierten Aktion zu erwarten, sie jemals ganz aus der Geschichte entfernen zu können."
Daher zielt Merleau-Pontys Versuch der Geschichtsschreibung auf eine lebendige Gegenwart, die sich über die Distanz zu "den allzu zukunftssicheren Vergangenheiten" definiert. Der Philosoph, der sich Marx und Weber zugleich verpflichtet weiß, erinnert gerne an den freizügigen, frischen und kraftvollen Stil marxistischer Analysen, bevor sich orthodoxe Parteiführungen im Weltgeistrang ihrer annahmen. Für ihn ermöglicht die marxistische Haltung nicht nur die moralische Kritik, sondern bildet den wichtigsten Fall einer tragfähigen "geschichtlichen Hypothese". Ohne das behutsame Formenspiel im Umgang mit der Hypothese, die Weber als Idealtyp einfasste und Marx zur Spekulation ausbaute, wird die materialistische Dialektik für Merleau-Ponty verkümmern müssen und selbst auf dem Misthaufen der Geschichte landen.
Petra Gehrings Beitrag hat Merleaus komplexe Methodik auf den Punkt gebracht. "Eine indirekte Historie ohne Wahrheit, eine leidenschaftliche Übung der Distanz an den Machtsäumen der geschichtlichen Realität, die Baustelle einer Prosa." Wie Marx versteht Merleau-Ponty die Trägheit der Geschichte als "einen Appell an die menschliche Erfindungsgabe", die Gefahrenindex und Risikoprämie vereint. Der Baustellencharakter jener Geschichtsschreibung liest sich auch heute wie eine experimentelle Versuchsanordnung. Ihr geht es darum, "die beiden Enden der Kette, das soziale Problem und die Freiheit, in der Hand zu behalten". Im Zuge einer sich erfindenden Aktion will Merleau-Ponty das politische Feld durchquert sehen. Das fordert kulturwissenschaftliche Anschlüsse geradezu heraus, um den geschichtlichen Raum der Gegenwart stets aufs Neue zu erkunden. Mit der lesenswerten Aufsatzsammlung aus der Reihe 'Übergänge' ist ein vielversprechender Anfang gemacht.
"Merleau-Ponty und die Kulturwissenschaften", herausgegeben von Regula Giuliani, besprach für uns Khosrow Nosratian. Das Buch ist im Münchner Wilhelm Fink Verlag in der Reihe 'Übergänge' als Band 37 erschienen. Es hat 365 Seiten und kostet 78 Mark.