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Reibung erzeugt Wärme

Am Ende des dreitägigen Premieren-Marathons musste Neu-Intendant Armin Petras den Jungregisseur Robert Borgmann gegen die Wut des Stuttgarter Publikums verteidigen. Dabei ist Borgmanns "Onkel Wanja" durchaus geglückt, genauso wie Petras eigene tieftraurige Endzeit-Clownerie "5 morgen". Zwei Totalflops legte er als Intendant trotzdem hin.

Von Christian Gampert | 28.10.2013
    Die Beziehung der Stuttgarter zu ihrem Schauspiel-Intendanten konnte man bislang fast ein Liebesverhältnis nennen. Seit Claus Peymanns Tagen wurde, mit wenigen Ausnahmen, fast ein jeder ans schwäbische Herz gedrückt, der ein halbwegs ansehbares Programm machte – selbst eine dröge Figur wie Hasko Weber, der mit den Fischer- bzw. Lösch-Chören hausieren ging und mit einer grün angemalten Faust als Logo die Etablierung des linksalternativen Spießertum betrieb, wurde vom konservativen Publikum hofiert.

    Mit solcher Zuneigung ist es nun vorbei. Am Sonntagabend, am Ende des dreitägigen Premieren-Marathons, nach einem völlig harmlosen, psychologisch interessanten, aber avantgardistisch zerdehnten "Onkel Wanja" des Jungregisseurs Robert Borgmann, schrie das Stuttgarter Premieren-Abonnement seine Wut so laut hinaus, dass Neu-Intendant Armin Petras auf die Bühne sprang, um seinem Regisseur zu applaudieren, und der als Stadelmaier-Antipode bekanntgewordene Schauspieler Thomas Lawinky mit beiden Händen das Siegeszeichen formte und zurückbrüllte: Stuttgart, wir kommen.

    Das kann also heiter werden. Dabei hatte Petras den Zuschauern vorher ausreichend Zucker gegeben: "Szenen einer Ehe", eingerichtet von Jan Bosse als großes, buntes, virtuoses Schauspielertheater, signalisierte überdeutlich, dass der Intendant mit den Stuttgartern eine Dauerbeziehung anstrebt - und zu diesem Zweck sogar einen Gemischtwarenladen aufzumachen gedenkt. Bosse hatte der Bergman-Vorlage jede Schwermut, jede Düsternis ausgetrieben, ohne oberflächlich zu sein, er hat mit Joachim Krol einen Ehemann zur Verfügung, der mit Lust das Aas im Kleinbürger spielt, und mit Astrid Meyerfeldt eine Ehefrau, die vom emanzipierten Rechtsanwältinnen-Heimchen bis zur kühlen Hollywood-Diva ziemlich viele weibliche Schräglagen draufhat.

    "Wir streiten – nein, eigentlich streiten wir fast nie. Und wenn wir mal streiten, Johann, dann hören wir einander zu und finden einen gangbaren Kompromiss. – Könnte uns gar nicht besser gehen, oder? – Ja, und trotzdem hat man Angst. Angst!"

    Beziehungsstriptease als Folie für ein reiferes Publikum
    Der in den 1970er-Jahren revolutionäre Beziehungsstriptease ist zwar heute als Gesprächsangebot für 20-Jährige eher ungeeignet, für ein reiferes Publikum aber immer noch eine Folie, an dem man eigene Nöte abarbeiten kann. Bosse, Krol und Meyerfeldt machen das in einer von Moritz Müller eher provisorisch eingerichteten Drehbühne wunderbar und psychologisch genau, auch wenn der Aufführung wegen allzu großer Flottheit mit der Zeit dann die Luft ausgeht.

    Immerhin erinnern sich Bosses Eheleute noch an die Hits ihrer politisch bewegten Jugend, zum Beispiel an "Das ist unser Haus" von Ton Steine Scherben. Während Petras nun ganz andere, staatstheatralische Häuser besetzt, geriert sich der Regisseur Simon Solberg noch immer als Bewohner der Wagenburg. Solberg ausgerechnet die Eröffnungspremiere im großen Haus zu reservieren, zeugt von einem gewissen Gottvertrauen – gelungene Inszenierungen dieses Theaternetzwerkers sind nicht bekannt. Aus Goethes "Urgötz" machte Solberg also mit eiserner Faust kraftmeierndes, aber stinklangweiliges postmodernes Bauerntheater.

    "Es gibt zweierlei Leut: ehrliche und Schurken. Und dass ich ehrlich bin, das seht ihr daran, dass ich Berlichingen diene. Ihr aber, räudiges, verlogenes P … Ah! Ah! (würgt)"

    Vor einem geknickten Strommasten, Achtung Bürgerkrieg, bläst sich Wolfgang Michalek in der Figur des Götz von Berlichingen als nackter Rummelplatzringer und Rächer der Entrechteten auf. Von Syrien über die Armut der Favelas bis zur Umweltkatastrophe wird nix ausgelassen, und das Götz-Zitat wird auf Schildern in die Luft gereckt - während die großartige Maja Beckmann als intrigante Hexe im Hintergrund die Fäden zieht. Aber ein bisschen duster ausgeleuchtete Apokalypse macht noch keine Inszenierung, und Solbergs Moralpredigten und sein Freiheitspathos gehören eher in Berlichingens Hippie-Wohnwagen als auf die offene Bühne.

    Auch Martin Laberenz hat zu Bernward Vespers "Die Reise" keinen Zugang gefunden. Vesper, zeitweilig Lebensgefährte Gudrun Ensslins und Sohn des Nazi-Schriftstellers Will Vesper, steht mit seiner in der Psychiatrie endenden Selbstsuche offenbar für den Spielplan-Programmpunkt politische Heimatkunde. Zwar lässt der Regisseur ständig Suchscheinwerfer über das Publikum huschen und richtet für die sich formierende APO eine Raucherecke ein, aber über die Vater-Sohn-Groteske erfahren wir herzlich wenig – die Aufführung ist eine Bußübung alter Schule, und schon bald setzen Fluchtreflexe ein.

    Petras selbst als Retter in der Not
    Bleibt, als Retter in der Not, nur der Intendant selber. Armin Petras ist mit Abstand der gewiefteste Regisseur dieses Premierenreigens und zudem noch sein eigener Dramatiker. Sein Stück "5 morgen" zeigt fünf Menschen in einer undefinierten apokalyptischen Ausnahmesituation, eine Choreografie zum Tode hin. Die Studentin Missy, die nicht mehr an der Tankstelle arbeiten will, und der Dozent August, der sie in einer Prüfungssituation narzisstisch zuschwallt, haben gleich am Anfang einen düster-komischen Auftritt – und dieses im Grunde tieftraurige Performance-Theater bekommt einen zusätzlichen Kick, weil die unglaubliche Hanna Plaß, die Missy, wirklich ironische Balladen singen kann …

    "(singt) Sprich lauter! Ich kann dich nicht hör’n …"

    Der Computer-Experte, der seine angeblich verstrahlte Freundin nicht mehr in die Wohnung lässt, die herrschsüchtige Ehefrau und Ärztin, der Schriftsteller als Versager, die angesexte Boutiquenverkäuferin: die psychische Beweglichkeit dieser Figuren ist enorm. Sie wechseln zwischen zynischer Depression und Kabarett und Petras Technik der Verkünstlichung und Veräußerlichung führt absurderweise direkt in die Tiefenschichten heutiger Egoismen: sehr irritierend, sehr fremd. Von dem Stück werden wir noch an anderen Theatern hören.

    Der Mensch, "ein Sack Haut mit Fett und Wasser drin" – das könnte auch von Tschechow sein. Dass Robert Borgmanns "Onkel Wanja" dann zum (produktiven) Skandal führte, ist eigentlich ein Glück. Denn hier sagt eine Schauspieltruppe: Wir schmeißen uns nicht an euch ran, wir machen, was wir wollen. Auf einem Volvo mit abmontierten Rädern liegt Sandra Gerling als American Beauty und fährt im Kreis, Elmar Roloff als ihr alternder Professoren-Gatte lamentiert und spuckt Hass. Der altruistische Wanja ist bei Peter Kurth ein massiger, ungepflegter Trunkenbold, und der Frauenheld und Arzt Astrow ist mit Thomas Lawinky interessant fehlbesetzt: Im ersten Teil noch vorsichtig lauernd, gibt er am Ende dann doch noch den Kraftmenschen, wo man eher den zerquälten Psychopathen erwartet.

    Es gibt also zwei Totalflops mit den Langweilern Solberg und Laberenz. Auf der Haben-Seite stehen dann aber Borgmanns zeitlupenhaftes Tschechow-Labor, Bosses virtuoses Problem-Boulevard und Petras geniale, tieftraurige Endzeit-Clownerie – das ist viel mehr, als man von so einem Eröffnungswochenende erwarten kann. Es wird in Stuttgart Reibung geben mit dem Publikum, und Reibung wird im Normalfall Funken, aber auch Wärme erzeugen.

    Mehr zu den Premieren-Stücken auf der Webseite des Staatstheaters Stuttgart