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Reicha wiederentdeckt
Die Lust am Experiment

Bekannt ist Anton Reicha höchstens noch als Lehrer von Gounod, Berlioz oder Liszt. Dabei hat er auch ein reiches Kammermusikwerk hinterlassen, voller origineller Ideen. Die Stiftung Palazzetto Bru Zane bemüht sich nun um eine Neubewertung seines musikalischen Erbes.

Von Bjørn Woll | 04.10.2017
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    Der Palazzetto Bru Zane in Venedig. Dort fanden die Konzert mit Musik von Anton Reicha statt. (Bjørn Woll)
    Streichquartett op. 95 Nr. 1 (1. Satz, Allegro moderato)
    Sie haben es wieder getan: Seit Jahren schürft das Palazzetto Bru Zane in den Bergwerken der Musikgeschichte, wie die Zwerge aus Tolkiens "Herr der Ringe" in den Minen von Moria. Nun ist Anton Reicha in den Fokus der unermüdlich Suchenden geraten. Und der ist allein mengenmäßig ein ganz schöner Brocken, wie der wissenschaftliche Leiter des Palazzetto, Alexandre Dratwicki, verrät: "Was wir entdeckt haben, ist ein enorm umfangreiches Œuvre an Musik, das in weiten Teilen nicht veröffentlich ist. Allein 15 Streichquartette warten noch auf ihre Publikation. Außerdem gibt es drei Streichquintette mit zwei Bratschen, davon haben wir eins veröffentlicht, zwei stehen aber noch aus. Gerade für diese Besetzung gibt es nicht so viel Repertoire. Ich kann mir also vorstellen, dass die durchaus auf Interesse stoßen werden. Außerdem ist das einfach auch gute Musik!"
    Quintett mit zwei Bratschen op. 92 Nr. 1 (2. Satz, Allegro minuetto)
    Immer wieder blitzen im ersten Quintett des Opus 92 charakteristische Züge Reichas auf: So kosten die fünf Streicher genüsslich die Reibungen der kleinen Sekunde aus, die der Komponist als Basis für seine ausgeprägten Modulationen verwendet. Doch trotz dieser originellen Ideen bleiben viele von Reichas Kammermusikwerken unverkennbar von Haydn und Mozart beeinflusst. Für Jean-Jacques Dünki, der beim Festival in Venedig als Pianist zu hören war, ist das aber nur eine Seite von Anton Reicha: "Ich glaube, das ist eine Reverenz ohne falsche Scham, die er da macht. Also er traut sich, den Stil zu zitieren, und weiß, dass er genügend Eigenes auch mitbringen kann. Und das Lustige ist ja, er war in den 1780er Jahren in Bonn im Orchester des Kurfürsten – und neben ihm saß der junge Beethoven."
    Anton Reicha wurde 1770 in Prag geboren, folgte seinem Onkel 1785 jedoch nach Bonn, wo er nicht nur auf Beethoven traf, sondern auch die Bekanntschaft von Joseph Haydn machte. Der war gerade auf der Durchreise nach England. Nach einem Zwischenstopp in Hamburg zog Reicha 1802 schließlich nach Wien, um sich im Herbst 1808 endgültig in Paris niederzulassen. Kompositorisch jedoch blieb er dem Stil seiner Wiener Kollegen ein Leben lang treu, obwohl in Paris immer deutlicher seine Lust am Experimentieren hörbar wurde, bestätigt Jean-Jacques Dünki: "Es ist eigentlich im Idiom der Wiener Klassik und später im Idiom der frühen Romantik. Aber es hat immer ganz schräge Stellen, also wo‘s mit einer Unverfrorenheit, mit einer Wendung, einer Modulation – und diese kleinen Frechheiten, die man überall antrifft, die gefallen mir sehr. Die lassen einen schmunzeln, und die nehmen ein bisschen den tiefen Ernst."
    Reichas individuelle Originalität offenbart sich dabei vor allem in den Klavierwerken: In einem Stück wechselt die Tonart in jedem Takt, ein anderes kann man von vorne und von hinten spielen, zwei weitere können nacheinander oder gleichzeitig gespielt werden. Eines dieser höchst ungewöhnlichen Werke findet sich auf der aktuellen Einspielung von Pianist Ivan Ilic, wobei schon der Titel der "Fantasie über einen einzigen Akkord" den Eigensinn des Komponisten verrät:
    Fantasie sur un seul accord
    Reichas eigenwilliger Personalstil zeigt sich bei genauem Hinhören nicht nur in den Klavierwerken, sondern er ist auch im übrigen Schaffen fast allgegenwärtig. Etwa in der freien Behandlung traditioneller Formen oder der Neigung zu schroffen Kontrasten. Bei so viel Erfindungsreichtum stellt sich die Frage, wie er trotzdem als Komponist in Vergessenheit geraten konnte? Zum einen liegt das vermutlich daran, dass die Kammermusik es damals generell schwer hatte bei den opernverliebten Franzosen. Aber auch die schwankende Qualität einiger Werke könnte ein Grund dafür sein. Jedoch steckt die Reicha-Forschung hier noch in den Kinderschuhen, eine fundierte Bewertung des Gesamtschaffens steht also noch aus. So ist die hier aufgenommene Klaviersonate über ein Thema von Mozart die erste Einspielung des Werkes überhaupt. Und gleichzeitig ist sie ein Beispiel für Reichas hochgelobte Variationskunst:
    Sonate für Klavier F-Dur (1. Satz)
    Die Konzerte in Venedig haben es gezeigt: Ein ganzer Abend mit Reicha kann durchaus seine Längen haben. Doch die gerade erschienenen Einspielungen des Palazzetto Bru Zane sind ein starkes Argument, dieser Musik mit Offenheit zu begegnen. Vor allem wenn sie mit solcher Hingabe und klanglich derart fein ausbalanciert gespielt wird wie hier. Sie zeigen, dass es hier durchaus reizvolle Kompositionen zu entdecken gibt. Alexandre Dratwicki jedenfalls ist längst vom Reicha-Virus befallen – und gibt zum Abschied noch einen Hörtipp mit akuter Infektionsgefahr: "Ich würde sagen das Klaviertrio Opus 101 Nr. 2: Das Stück ist von einer unglaublichen Energie und zeigt uns einen Komponisten, der jeden einzelnen Takt zum Ereignis machen wollte. Es ist fast schon opernhaft in seinem dramatischen Anspruch, nie weiß man, was als nächstes passiert. Es ist zwar immer noch ein mehr klassisches Stück, wir hören zum Beispiel deutlich den Einfluss von Beethovens erstem Klaviertrio. Aber immer wieder gibt es auch deutlich romantische Anklänge. Von daher ist das Trio eine gute Zusammenfassung des Stils von Anton Reicha."
    Anton Reicha
    Klavierwerke Vol. 1

    Ivan Ilic, Klavier
    Label: Chandos
    Anton Reicha
    Kammermusik

    Solisten de La Chapelle Musicale Reine Elisabeth
    Label: Alpha