Von der Arbeit, eigentlich davon, dass sie fehlt, handeln die Geschichten, die nun in dem Band "Flickwerk" gesammelt vorliegen. In grotesk anmutenden Geschichten berichtet Volker Braun von Menschen, die sich wie Toren gebärden und mit Provisorien zufrieden sein müssen.
Volker Braun schaut in "Flickwerk" auf das große gesellschaftliche Ganze und entdeckt bei näherer Betrachtung reichlich viel Geflicktes. Flicken verweisen auf Provisorisches. Sie bedecken einen Schaden und machen ihn zugleich deutlich sichtbar, sodass nicht in Vergessenheit gerät, wo die Not ihren Ort hat. Flicken sind Hinweise darauf, dass etwas fehlt. Dem Flick von Lauchhammer, den Volker Braun in seinem Roman "Machwerk" bei seinen seltsamen Verrichtungen beobachtet, ist die Arbeit abhandengekommen. Ihm stellt der Autor in "Flickwerk" namenlos bleibende Verbündete zur Seite, die von ähnlichem Naturell sind. Zu erkennen sind diese Toren an der Narrenkappe, die sie ziert. Narren tauchen auch in "Die Menge" auf, dem ersten Text, den Volker Braun für diesen Zyklus schrieb und der Anlass war, weitere Geschichten in dieser Manier zu verfassen.
"Die Menge
Bei einem Umzug von Arbeitslosen durch die Stadt Erfurt sagte sich ein junger Jobvermittler an, den das Elend beschäftigte und die Art, wie es hingenommen wurde. Er baute seinen Stand auf der Straße auf und hatte hundert offene Stellen im Angebot. Die Demonstranten änderten aber sorglich den Marschweg, um ihm nicht zu begegnen, und er wiederum wanderte an einen andern, unausweichlicheren Platz; doch diese verzweifelte Menge lief einfach an ihm vorbei und beschimpfte den guten Mann, als ob er ihren Protest verhöhne. - Ja, wollt ihr nicht wenigstens wissen, welche Stellen zu haben sind? - Nein, nein. - Nein, das wollten die Hoffnungslosen nicht, denn da sie nach Tausenden zählten, wäre ihnen mit hundert nicht gedient. Sie dachten wohl: keiner oder alle und das war eine verblühte, verblasene Losung. So mißverstanden sie ihn, um selber verstanden zu werden. Und wer denn da der größere Schalksnarr war, will ich nicht entscheiden."
In den 64 Modellen, die in Brauns "Flickwerk" gesammelt vorliegen, wird von Toren erzählt, die in unvernünftigen Zeiten mit der Vernunft nicht weit kommen.
"So einen Vorfall, der mich beschäftigt und erregt, den behandle ich natürlich als ein Modell von Verhalten - Verhalten unter Bestimmten, unter unseren Umständen. Und, worauf ich vielleicht gespannt war: Wie sich eine solche Form verwandelt, wenn man die Schuld oder die Torheit nicht einer Seite zuschiebt, sondern wenn man begreift, dass das ein Angebot [...] der Gegenseite ist, warum man sich so und so verhält. Das heißt, hier stehen sich Parteiungen gegenüber, die jede auf ihre Weise problematisch sind. Und das ist natürlich eine andere Form des Schwanks oder der Eulenspiegelei [...]. Das ist eine Form, die davon lernt, dass sie weiß, dass die Probleme, vor denen wir stehen, nicht auf eine einfache Weise zu lösen sind, sondern dass sich da wirkliche Interessen gegenüber stehen und beide Seiten ein gewisses Recht haben zu ihrer Haltung."
Volker Braun stellt den Berichten des Bandes "Flickwerk" eine Äußerung des Arbeitsmarktexperten Burda voran, der die Maßnahmen des Ministeriums für Arbeit, mit "Lohnzuschüssen und Lockerungen des Kündigungsschutzes 5000 neue 1 Euro Jobs" für ältere Arbeitnehmer zu schaffen, ein "Flickwerk" nannte. Burdas Begriffswahl kommentiert Volker Braun so: "Da hat er die neuen Kleider hübsch beschrieben, und nicht nur die der Abgerissenen, Ausgegrenzten, die der ganzen bunten Gattung."
Mit Flicken lassen sich Schäden notdürftig beheben. Verpasst man allerdings den richtigen Zeitpunkt, dann kann sich die zeitweilige Schadensbegrenzung, für die der Flicken steht, zu einem imposanten Machwerk auswachsen, wenn nämlich permanent geflickt, aber nie grundsätzlich saniert wird. 'Flickwerken' ist ebenso wie 'Machwerken' eine gelungene Vollendung versagt geblieben.
Volker Braun spiegelt in seinen Narrenberichten gegenwärtige Zustände. Mit Spiegeln lässt sich das Licht trefflich fokussieren, wenn man es versteht, die Sonne zu nutzen. Braun blendet geschickt verschiedene Utensilien ein, derer sich die Narren in seinen Geschichten bedienen, wobei sie weniger sich, sondern die Verhältnisse ins rechte Licht rücken. In "Blinde Liebe" fällt das Licht auf eine Bratpfanne, die als schlagendes Argument zur Anwendung kommt und für endgültige Klarheit sorgt.
"Blinde Liebe
Ein junger Mann aus Vorpommern ist, weil der Sozialspion auf der Matte stand, um die Frage zu klären, ob mit der ebenda ansässigen Frau eine Lebensgemeinschaft bestehe, in Zorn geraten, dergestalt, daß der Narr, als diejenige hereintrat und sich lächelnd, und unbeherrscht, zu ihm bekannte, die dumme Person mit der (gemeinsamen) Küchenpfanne erschlug. Die Handlung mag nun, was obengestellte Frage betrifft, so oder so bewertet werden; die Antwort war definitiv."
Und in "Die Tortur" wird ein Gürtel erwähnt, mit dem sich ein Vater von drei Kindern aufhängt, als er ihn nicht mehr enger zu schnallen vermag. Die Tragik und Ausweglosigkeit, von der in den Geschichten die Rede ist, geht im wahrsten Sinne des Wortes an die Nieren.
"Es geht an die Nieren
so sagt man ja, und wirklich hat ein Kerl in Viersen am Niederrhein, der soweit gesund, aber arm am Beutel war, eine seiner Nieren angeboten im Internet. 400.000 Mark beanspruchte der Arbeitslose für sein Körperteil, um ausgesorgt zu haben für seine Familie. So weit, so gut, aber das Auktionshaus Ebay unterbrach die Versteigerung und bot den Mann der Polizei an. Die griff zu und erstattete ihrerseits Anzeige, und nun machten die Medien ihren Schnitt. - Der Narr hatte nicht gewußt, dass er sich zwar im ganzen, als Arbeitskraft, anbieten, aber nicht stückweis verkaufen darf; daß er sich also zusammennehmen und als ganzer Mensch das Leben bestehen muß. Die Polizei sprach von einem tragischen Fall."
Den Figuren fehlt es nicht an Logik, sie können eins und eins durchaus zusammenzählen, doch die Geschichte, die große Rechenmeisterin, addiert anders als sie, sodass sie am Ende leer ausgehen. Historische Umbrüche haben diese Verzweifelten in eine Lage versetzt, die ihnen Einsichten aufzwingt und nicht immer erkennen sie, wie es wirklich um sie steht.
"In aller Schärfe müssen sich die Interessen gegenüberstehen, damit man vielleicht eine Ahnung bekommt, wo, in welche Richtung, eine Lösung überhaupt gedacht werden kann. [...] Es macht diese Texte vielleicht schmerzlicher und auch trauriger, dass sie nicht ein bloßes Verlachen oder einen bloßen Befreiungsschlag brauchen, sondern dass ein ganzer Zustand in Frage gestellt ist und das ist letztlich der Zustand der Welt. [...] Da das ja ernste Themen sind, ungeheuerliche Gegenstände: die Not oder die Hilflosigkeit, das Ausgegrenztsein, ist es natürlich ein bitteres Vergnügen."
Johann Peter Hebel und Bertolt Brecht haben bei der Suche nach einer sprachlichen Form Pate gestanden. "Flickwerk" liest sich, als würde Braun mit seinen Denkbruchstücken die Tradition der Kalendergeschichten ebenso weiterschreiben wie die der Keuner-Geschichten. Häufig fühlt man sich aber auch an die Streiche der Schildbürger erinnert. Doch Braun hat noch einen anderen schreibenden Kollegen zurate gezogen: Franz Kafka - Kafka als Garant für das Groteske.
"Das sind Texte, von denen man sich genährt hat. Also, wenn Literatur irgendeine nahrhafte Sache ist, dann erinnert man sich, wovon hat man gezehrt, weil sie einen versorgt hat mit etwas, was das Gemüt oder das Denken braucht. Das ist eine große deutsche Tradition kleiner Formen, die diesen bitteren und süßen Geschmack vermitteln. [...] Bei Kafka war das Erstaunliche, dass er gerade das Moment des Kampfes in seinen Texten behandelt. Und alles was mit diesen Leuten geschieht, auch die törichsten Reaktionen, die sind ja Zeichen einer Auseinandersetzung, die mitunter nicht nach außen geführt wird, nicht in die Gesellschaft hinein, sondern in die eigene Brust - also selbstzerstörerisch. Und die Frage ist ja immer: Wie lange erträgt man Elend. Ich meine das Elend, nicht wirklich gefordert zu sein, nicht anwesend zu sein, benachteiligt zu sein. Und diese elende Demut, das Hinnehmen der Dinge, das ist ja der unterschwellige Anstoßpunkt dieser Texte."
Solche zu Modellen geronnenen Kurzgeschichten haben im Schaffen des 1939 in Dresden geborenen Volker Braun Tradition. Bevor 1985 der in der DDR vier Jahre verbotene "Hinze-Kunze-Roman" erscheinen durfte, wurden 1983 die "Berichte von Hinze-Kunze" veröffentlicht. Auf dieses dialogische Prinzip von Werken greift Volker Braun auch in der 2004 erschienenen Erzählung "Das unbesetzte Gebiet" zurück. Die sich in diesem Band unter dem Titel "Im schwarzen Berg" findenden Texte korrespondieren mit der Titelerzählung.
"Es ist wie, als wenn man beim Schreiben einen Pflug über das Feld zieht. Man gräbt zwar eine Furche und geht auf einen Rain zu, aber man stört zugleich auch viele Steine und Probleme auf, die am Rande liegen. Diese, durch einen bestimmten Zug, einen bestimmten Blick, aufgestörte Wirklichkeit, öffnet gleichsam noch viel mehr Löcher und Schlünde [...]. Das ist der Bauer, der durch sein Gelände geht: Hat die eine große Sache vor und ist konfrontiert mit einer Vielzahl von Gräben [...] die da in den Blick geraten. Es ist vielleicht ein Verfahren der Literatur, sich umzusehen und zu zeigen, dass die scheinbar wichtigen Entwicklungen, für die alles getan wird, in die alles Interesse und alles Geld gesteckt wird, nicht die vielen Probleme und Nöte am sogenannten Rande heilen."
Die finsteren Geschichten, die Volker Braun vorgelegt hat, zeigen nicht nur die deutschen, sondern die elenden Zustände einer globalen Welt.
"Die Frage, die immer in den Texten lauert: Wann nehmen diese Toren ihre Fäuste aus den Hosentaschen und schlagen in die Welt."
Die Geschichten sind in Schwarz gehalten und sie beziehen aus der Schwärze ihren Humor. Über diese Schwärze vermag der Autor nicht hinwegzusehen, vielmehr schärft er als Aufklärer - vor wenigen Wochen erhielt er den Candide-Preis - mit seinen Berichten unsere Aufmerksamkeit für die umfassend zu lösenden Probleme, denen mit 'Flickwerken' nicht beizukommen ist.
Volker Braun: Flickwerk.
Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2009. 81 Seiten, 16,80 Euro
Volker Braun schaut in "Flickwerk" auf das große gesellschaftliche Ganze und entdeckt bei näherer Betrachtung reichlich viel Geflicktes. Flicken verweisen auf Provisorisches. Sie bedecken einen Schaden und machen ihn zugleich deutlich sichtbar, sodass nicht in Vergessenheit gerät, wo die Not ihren Ort hat. Flicken sind Hinweise darauf, dass etwas fehlt. Dem Flick von Lauchhammer, den Volker Braun in seinem Roman "Machwerk" bei seinen seltsamen Verrichtungen beobachtet, ist die Arbeit abhandengekommen. Ihm stellt der Autor in "Flickwerk" namenlos bleibende Verbündete zur Seite, die von ähnlichem Naturell sind. Zu erkennen sind diese Toren an der Narrenkappe, die sie ziert. Narren tauchen auch in "Die Menge" auf, dem ersten Text, den Volker Braun für diesen Zyklus schrieb und der Anlass war, weitere Geschichten in dieser Manier zu verfassen.
"Die Menge
Bei einem Umzug von Arbeitslosen durch die Stadt Erfurt sagte sich ein junger Jobvermittler an, den das Elend beschäftigte und die Art, wie es hingenommen wurde. Er baute seinen Stand auf der Straße auf und hatte hundert offene Stellen im Angebot. Die Demonstranten änderten aber sorglich den Marschweg, um ihm nicht zu begegnen, und er wiederum wanderte an einen andern, unausweichlicheren Platz; doch diese verzweifelte Menge lief einfach an ihm vorbei und beschimpfte den guten Mann, als ob er ihren Protest verhöhne. - Ja, wollt ihr nicht wenigstens wissen, welche Stellen zu haben sind? - Nein, nein. - Nein, das wollten die Hoffnungslosen nicht, denn da sie nach Tausenden zählten, wäre ihnen mit hundert nicht gedient. Sie dachten wohl: keiner oder alle und das war eine verblühte, verblasene Losung. So mißverstanden sie ihn, um selber verstanden zu werden. Und wer denn da der größere Schalksnarr war, will ich nicht entscheiden."
In den 64 Modellen, die in Brauns "Flickwerk" gesammelt vorliegen, wird von Toren erzählt, die in unvernünftigen Zeiten mit der Vernunft nicht weit kommen.
"So einen Vorfall, der mich beschäftigt und erregt, den behandle ich natürlich als ein Modell von Verhalten - Verhalten unter Bestimmten, unter unseren Umständen. Und, worauf ich vielleicht gespannt war: Wie sich eine solche Form verwandelt, wenn man die Schuld oder die Torheit nicht einer Seite zuschiebt, sondern wenn man begreift, dass das ein Angebot [...] der Gegenseite ist, warum man sich so und so verhält. Das heißt, hier stehen sich Parteiungen gegenüber, die jede auf ihre Weise problematisch sind. Und das ist natürlich eine andere Form des Schwanks oder der Eulenspiegelei [...]. Das ist eine Form, die davon lernt, dass sie weiß, dass die Probleme, vor denen wir stehen, nicht auf eine einfache Weise zu lösen sind, sondern dass sich da wirkliche Interessen gegenüber stehen und beide Seiten ein gewisses Recht haben zu ihrer Haltung."
Volker Braun stellt den Berichten des Bandes "Flickwerk" eine Äußerung des Arbeitsmarktexperten Burda voran, der die Maßnahmen des Ministeriums für Arbeit, mit "Lohnzuschüssen und Lockerungen des Kündigungsschutzes 5000 neue 1 Euro Jobs" für ältere Arbeitnehmer zu schaffen, ein "Flickwerk" nannte. Burdas Begriffswahl kommentiert Volker Braun so: "Da hat er die neuen Kleider hübsch beschrieben, und nicht nur die der Abgerissenen, Ausgegrenzten, die der ganzen bunten Gattung."
Mit Flicken lassen sich Schäden notdürftig beheben. Verpasst man allerdings den richtigen Zeitpunkt, dann kann sich die zeitweilige Schadensbegrenzung, für die der Flicken steht, zu einem imposanten Machwerk auswachsen, wenn nämlich permanent geflickt, aber nie grundsätzlich saniert wird. 'Flickwerken' ist ebenso wie 'Machwerken' eine gelungene Vollendung versagt geblieben.
Volker Braun spiegelt in seinen Narrenberichten gegenwärtige Zustände. Mit Spiegeln lässt sich das Licht trefflich fokussieren, wenn man es versteht, die Sonne zu nutzen. Braun blendet geschickt verschiedene Utensilien ein, derer sich die Narren in seinen Geschichten bedienen, wobei sie weniger sich, sondern die Verhältnisse ins rechte Licht rücken. In "Blinde Liebe" fällt das Licht auf eine Bratpfanne, die als schlagendes Argument zur Anwendung kommt und für endgültige Klarheit sorgt.
"Blinde Liebe
Ein junger Mann aus Vorpommern ist, weil der Sozialspion auf der Matte stand, um die Frage zu klären, ob mit der ebenda ansässigen Frau eine Lebensgemeinschaft bestehe, in Zorn geraten, dergestalt, daß der Narr, als diejenige hereintrat und sich lächelnd, und unbeherrscht, zu ihm bekannte, die dumme Person mit der (gemeinsamen) Küchenpfanne erschlug. Die Handlung mag nun, was obengestellte Frage betrifft, so oder so bewertet werden; die Antwort war definitiv."
Und in "Die Tortur" wird ein Gürtel erwähnt, mit dem sich ein Vater von drei Kindern aufhängt, als er ihn nicht mehr enger zu schnallen vermag. Die Tragik und Ausweglosigkeit, von der in den Geschichten die Rede ist, geht im wahrsten Sinne des Wortes an die Nieren.
"Es geht an die Nieren
so sagt man ja, und wirklich hat ein Kerl in Viersen am Niederrhein, der soweit gesund, aber arm am Beutel war, eine seiner Nieren angeboten im Internet. 400.000 Mark beanspruchte der Arbeitslose für sein Körperteil, um ausgesorgt zu haben für seine Familie. So weit, so gut, aber das Auktionshaus Ebay unterbrach die Versteigerung und bot den Mann der Polizei an. Die griff zu und erstattete ihrerseits Anzeige, und nun machten die Medien ihren Schnitt. - Der Narr hatte nicht gewußt, dass er sich zwar im ganzen, als Arbeitskraft, anbieten, aber nicht stückweis verkaufen darf; daß er sich also zusammennehmen und als ganzer Mensch das Leben bestehen muß. Die Polizei sprach von einem tragischen Fall."
Den Figuren fehlt es nicht an Logik, sie können eins und eins durchaus zusammenzählen, doch die Geschichte, die große Rechenmeisterin, addiert anders als sie, sodass sie am Ende leer ausgehen. Historische Umbrüche haben diese Verzweifelten in eine Lage versetzt, die ihnen Einsichten aufzwingt und nicht immer erkennen sie, wie es wirklich um sie steht.
"In aller Schärfe müssen sich die Interessen gegenüberstehen, damit man vielleicht eine Ahnung bekommt, wo, in welche Richtung, eine Lösung überhaupt gedacht werden kann. [...] Es macht diese Texte vielleicht schmerzlicher und auch trauriger, dass sie nicht ein bloßes Verlachen oder einen bloßen Befreiungsschlag brauchen, sondern dass ein ganzer Zustand in Frage gestellt ist und das ist letztlich der Zustand der Welt. [...] Da das ja ernste Themen sind, ungeheuerliche Gegenstände: die Not oder die Hilflosigkeit, das Ausgegrenztsein, ist es natürlich ein bitteres Vergnügen."
Johann Peter Hebel und Bertolt Brecht haben bei der Suche nach einer sprachlichen Form Pate gestanden. "Flickwerk" liest sich, als würde Braun mit seinen Denkbruchstücken die Tradition der Kalendergeschichten ebenso weiterschreiben wie die der Keuner-Geschichten. Häufig fühlt man sich aber auch an die Streiche der Schildbürger erinnert. Doch Braun hat noch einen anderen schreibenden Kollegen zurate gezogen: Franz Kafka - Kafka als Garant für das Groteske.
"Das sind Texte, von denen man sich genährt hat. Also, wenn Literatur irgendeine nahrhafte Sache ist, dann erinnert man sich, wovon hat man gezehrt, weil sie einen versorgt hat mit etwas, was das Gemüt oder das Denken braucht. Das ist eine große deutsche Tradition kleiner Formen, die diesen bitteren und süßen Geschmack vermitteln. [...] Bei Kafka war das Erstaunliche, dass er gerade das Moment des Kampfes in seinen Texten behandelt. Und alles was mit diesen Leuten geschieht, auch die törichsten Reaktionen, die sind ja Zeichen einer Auseinandersetzung, die mitunter nicht nach außen geführt wird, nicht in die Gesellschaft hinein, sondern in die eigene Brust - also selbstzerstörerisch. Und die Frage ist ja immer: Wie lange erträgt man Elend. Ich meine das Elend, nicht wirklich gefordert zu sein, nicht anwesend zu sein, benachteiligt zu sein. Und diese elende Demut, das Hinnehmen der Dinge, das ist ja der unterschwellige Anstoßpunkt dieser Texte."
Solche zu Modellen geronnenen Kurzgeschichten haben im Schaffen des 1939 in Dresden geborenen Volker Braun Tradition. Bevor 1985 der in der DDR vier Jahre verbotene "Hinze-Kunze-Roman" erscheinen durfte, wurden 1983 die "Berichte von Hinze-Kunze" veröffentlicht. Auf dieses dialogische Prinzip von Werken greift Volker Braun auch in der 2004 erschienenen Erzählung "Das unbesetzte Gebiet" zurück. Die sich in diesem Band unter dem Titel "Im schwarzen Berg" findenden Texte korrespondieren mit der Titelerzählung.
"Es ist wie, als wenn man beim Schreiben einen Pflug über das Feld zieht. Man gräbt zwar eine Furche und geht auf einen Rain zu, aber man stört zugleich auch viele Steine und Probleme auf, die am Rande liegen. Diese, durch einen bestimmten Zug, einen bestimmten Blick, aufgestörte Wirklichkeit, öffnet gleichsam noch viel mehr Löcher und Schlünde [...]. Das ist der Bauer, der durch sein Gelände geht: Hat die eine große Sache vor und ist konfrontiert mit einer Vielzahl von Gräben [...] die da in den Blick geraten. Es ist vielleicht ein Verfahren der Literatur, sich umzusehen und zu zeigen, dass die scheinbar wichtigen Entwicklungen, für die alles getan wird, in die alles Interesse und alles Geld gesteckt wird, nicht die vielen Probleme und Nöte am sogenannten Rande heilen."
Die finsteren Geschichten, die Volker Braun vorgelegt hat, zeigen nicht nur die deutschen, sondern die elenden Zustände einer globalen Welt.
"Die Frage, die immer in den Texten lauert: Wann nehmen diese Toren ihre Fäuste aus den Hosentaschen und schlagen in die Welt."
Die Geschichten sind in Schwarz gehalten und sie beziehen aus der Schwärze ihren Humor. Über diese Schwärze vermag der Autor nicht hinwegzusehen, vielmehr schärft er als Aufklärer - vor wenigen Wochen erhielt er den Candide-Preis - mit seinen Berichten unsere Aufmerksamkeit für die umfassend zu lösenden Probleme, denen mit 'Flickwerken' nicht beizukommen ist.
Volker Braun: Flickwerk.
Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2009. 81 Seiten, 16,80 Euro