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Reichskanzler mit diplomatischem Geschick

Im langsamen Schritt zieht die Spitze des Zuges, die hinter der berittenen Schutzpolizei noch vor dem Sarg herfolgt, an unserem Mikrofon vorüber. Der Sarg ist vor dem Hauptportal des Auswärtigen Amtes angelangt. Hinter dem Sarg sieht man den Reichspräsidenten, der zu Fuß dem Sarg folgt.

Von Klaus Kühnel | 03.10.2004
    Drei Tage nach dem Tod des deutschen Reichsaußenministers Gustav Stresemann fand in Berlin dessen Begräbnis statt, ein Ereignis, das Hunderttausende auf die Straße trieb und sogar eine Weltpremiere veranlasste: Erstmals wurde eine Reportage nicht aus dem Funkhaus gesendet, sondern live übertragen. Der Tod Stresemanns wurde in Deutschland und darüber hinaus in ganz Europa als ein Unglück empfunden, war dem Außenminister doch schier Unmögliches gelungen: Er hatte die Spannungen in Europa derart abbauen können, dass zwischen Siegern und Verlierern des Ersten Weltkrieges wieder eine Art friedliches Miteinander herrschte. Würde der Tod des so behutsam taktierenden Außenministers alles Erreichte zunichte machen? Das befürchteten viele.

    Gustav Stresemann hatte eine unerwartet steile Karriere genommen. Das jüngste von acht Kindern eines wohlhabenden Berliner Flaschenbierhändlers mit angeschlossener Schankwirtschaft war noch während seines Studiums der Nationalökonomie gleich in zwei Burschenschaften eingetreten. Diese "Verbindungen" ebneten dem jungen Mann rasch die Wege zu Erfolg und Macht. Mit 24 Jahren ist er Syndikus des "Verbandes Sächsischer Industrieller", mit 28 Stadtverordneter in Dresden, mit noch nicht ganz 29 bereits Mitglied des Reichstages, Deutschlands jüngster Abgeordneter. Im Parlament vertritt er die Interessen der Nationalliberalen Partei - von ihren politischen Gegnern als "die organisierte Uneinigkeit" belächelt.

    Gustav Stresemann fürchtete nie die Unpopularität, versichert Hermann Müller, einer seiner Nachfolger im Amt des Reichskanzlers. Die kraftvolle Entschlossenheit Sresemanns trifft als erstes die eigenen Parteifreunde. In kürzester Frist gelingt es ihm, die Widerstreitenden auf gemeinsame Ziele und einheitliche Aussagen festzulegen. Mit dem Herzen Bismarckanhänger und heimlicher Monarchist, bekennt sich der Vernunftrepublikaner zur Demokratie, bekämpft aber entschieden den rechts wie links orientierten Extremismus, der damals die Weimarer Republik mit Waffengewalt in ihrer Existenz bedroht.

    Vor diesem Hintergrund wird am 13. August 1923 Gustav Stresemann Reichskanzler einer Großen Koalition. Sein Kabinett schafft es nicht, die galoppierende Inflation zu beenden - am Wahltag hatte ein Kilo Brot "nur" 32.000 Mark gekostet, im November musste man dafür 233 Milliarden bezahlen! Nach 103 Tagen ist Reichskanzler Stresemann gestürzt, sein Kabinett gescheitert. Vierundzwanzig Stunden später ist der Vorsitzende der Deutschen Volkspartei Außenminister der neuen Regierung. Das wird er bis an sein Lebensende bleiben, obwohl die Kabinette nie lange an der Macht sind. Er versichert:

    Die Aufgabe unserer Gegenwart ist nicht, gegenüber dem, was geschehen ist, in träumende Resignation zu versinken und lediglich wehmütig der Zeit zu gedenken, da der Sonnenglanz der Weltgeltung das Herz jedes Deutschen erwärmte, es ist auch nicht ihre Aufgabe, in stärkere Position zu treten gegenüber dem, was geworden ist, sondern Hand ans Werk zu legen, um einen neuen Bau zu zimmern, der die guten Grundsteine der Vergangenheit benutzt, das Schädliche aussondert und so zunächst ein Haus zimmert, in dem wir wohnen können.

    Außenminister Gustav Stresemann gelingt nach und nach Unvorstellbares: Er erreicht die Aussöhnung mit dem "Erzfeind" Frankreich, dessen Sicherheitsbedürfnis er vertraglich anerkennt, bewegt die Sieger des Krieges, die von ihnen in Deutschland besetzten Gebiete zu räumen, endlich die zu zahlenden Kontributionen zu begrenzen und läßt das besiegte Land zu einem gleichberechtigten Mitglied des Völkerbundes werden.

    Gemeinsam mit seinem französischen Amtskollegen Aristide Briand wird er für diese Leistung 1926 mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Sein Tod am 3. Oktober 1929 löst Entsetzen aus. Jedermann weiß, dass der für Ausgleich und Besonnenheit bekannte Politiker fehlen wird. Man befürchtet, das von ihm mitgezimmerte Haus Europa werde in einem neuen Krieg zu Schaden kommen.