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Reicht die knappe rot-grüne Mehrheit für Reformen?

Gerner: Die rot-grüne Mehrheit im Bundestag ist knapp, manche sagen gefährlich knapp. Ich habe Wolfgang Clement, SPD-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, mit der Einschätzung von Edmund Stoiber konfrontiert, die neue Regierung werde sich nicht mehr als ein Jahr halten.

    Clement: Herr Stoiber hat sich in der letzten Zeit ja ununterbrochen geirrt, auch bis in diese Nacht hinein, wobei er ja nichts dazu kann, da ist er ja von Wahlforschern in die Irre geführt worden. Aber er ist gut beraten, wenn er sich darauf einstellt, dass hier eine rot-grüne Regierung zustande kommt unter der Führung von Gerhard Schröder, dass die SPD die stärkste Fraktion ist, wenn auch um Haaresbreite, dass das rot-grüne Bündnis bestätigt worden ist, wenn auch knapp, das ist eine Mehrheit von elf Stimmen, wenn ich das richtig sehe. Da sieht die Welt schon ganz anders aus. Ich habe in Nordrhein-Westfalen eine Regierung mit sechs Stimmen Mehrheit gebildet, die funktioniert hervorragend.

    Gerner: Jede Partei hat aber, das wissen wir aus den Vormonaten, ihre Unsicherheiten. Wenn jetzt etwa Christian Ströbele von den Grünen sagt, das Direktmandat, was er hat, stärke ihn in seiner Unabhängigkeit. Viele Grüne werden auch eher selbstbewusster antreten. Ist da nicht ein größeres Risiko, dass die Mehrheit dahin sein könnte?

    Clement: Ich weiß nicht, wieso Sie in Selbstbewusstsein ein Risiko sehen? Ich halte mich auch für selbstbewusst und nicht für ein Risiko. Ich weiß nicht, wieso Sie in diesem Erfolg, der überraschend eingetreten ist, warum da jetzt etwas hineingeheimnist werden muss? Sie müssen und sollten davon ausgehen, dass gerade das Zustandekommen der Mehrheit - es ist ja auf den letzten Metern der Erfolg erzielt worden durch eine unglaubliche gemeinsame Kraftanstrengung - geradezu zusammen führt. Es werden sich alle täuschen, die glauben, daraus wird jetzt eine Streitkoalition werden. Ich glaube, dass Gerhard Schröder und Joschka Fischer Garanten dafür sind, dass es funktioniert.

    Gerner: Die Tatsache, dass Gerhard Schröder Franz Müntefering jetzt als Fraktionsvorsitzenden benannt hat, spricht ja dafür, dass Disziplinierung trotz allem in einem erheblichen Maße gefragt sein wird. Welche Möglichkeiten sehen Sie, wenn man einmal davon ausgeht, dass die Vertrauensfrage ja nicht alle Tage gestellt werden kann, und dass man nicht so leicht wie vorher mit einem kleinen Koalitionspartner FDP drohen kann, was Sie ja auch auf Landesebene hin und wieder gemacht haben?

    Clement: Sie müssen ja davon ausgehen, der Bundeskanzler will erst gewählt werden. Jetzt geht es nicht um die Vertrauensfrage, jetzt sind wir erst mal vor der Wahl des Bundeskanzlers. Die deutschen Wählerinnen und Wähler haben gesprochen, jetzt wird der Bundeskanzler gewählt, da gibt es keine Vertrauensfrage, damit beschäftige ich mich nun wirklich nicht. Ich bin sicher, dass der Bundeskanzler im Bundestag die Mehrheit hat und Mehrheit findet und zwar die Kanzlermehrheit und dass dann eine Politik beginnt, die sich auf klare Koalitionsabsprachen stützt, und diese Koalitionsabsprachen werden hier zu treffen sein.

    Gerner: Dann frage ich anders herum noch einmal: Welche Qualitäten muss der neue Fraktionschef haben, um diese knappe Mehrheit sicher durch die vier Jahre zu steuern?

    Clement: Er muss die Qualitäten haben, die Franz Müntefering hat. Er ist ein hochpolitischer Mann, und seine Fähigkeiten im politischen Management sind völlig unbestritten. Deshalb ist er der richtige Mann am richtigen Platz. Und ich habe hohen Respekt vor Ludwig Stiegler, der ohne Murren seinen Platz, den er auf Zeit übernommen hatte, heute geräumt hat oder räumen wird. Das sind beispielhafte Vorgänge finde ich, und daran gibt es gar nichts zu deuteln.

    Gerner: Herr Clement, rechnen Sie mit Komplikationen bei den Koalitionsverhandlungen?

    Clement: Ich rechne damit, dass es Erörterungen bedarf. Natürlich wird es dort Diskussionen geben.

    Gerner: Worüber?

    Clement: Das werden wir sehen. Wir haben ja gestern Herrn Fischer gehört wie er gesagt hat: Wir werden rasche, faire Koalitionsverhandlungen miteinander führen. Und die wird es geben. Dass es dabei Diskussionen gibt, ist klar. Komplikationen würde ich das nicht nennen, das wird sich ja dann zeigen.

    Gerner: Ich will es mal konkret machen: Einer der Knackpunkte, jedenfalls bisher kann man davon ausgehen, könnte werden das Projekt Trans- beziehungsweise Metrorapid, Milliardenprojekte auf der Schiene. Gibt es da möglicherweise einen Konflikt Technikverweigerer - Teile der Grünen unter anderem in Nordrhein-Westfalen sind ja dagegen - versus Technikgläubige?

    Clement: Nein, das sehe ich nicht. Wir haben in Nordrhein-Westfalen ja eine Entscheidung des Landtages. Diese Entscheidung des Landtages ist mit den Stimmen von SPD und Grünen herbeigeführt worden. Auf diese Basis handeln wir, und der Metrorapid wird ja bereits realisiert.

    Gerner: Transrapid dito?

    Clement: Der Transrapid ist das Projekt in München. Ich gehe davon aus ja, aber ich weiß nicht, wie weit die Dinge in München gediehen sind.

    Gerner: Sie SPD hat ja bei dieser Wahl 490.000 Wähler an die Grünen verloren, so die Wählerwanderung. Muss das nicht skeptisch machen, beziehungsweise muss das nicht zur Fehleranalyse aufrufen?

    Clement: Nein, also erstens bin ich skeptisch gegenüber solchen Wählerwanderungsanalysen. Ehrlich gesagt, mein Vertrauen in diese Analysen ist nicht besonders groß. Manches Misstrauen von mir habe ich heute Nacht auch bestätigt gefühlt an manchem, was ich dort erlebt habe. Das ist das eine, und das andere: Ich habe vorhin gesagt, ich gehe davon aus, dass es etliche Wählerinnen und Wähler gegeben hat, die aus ihrer Sicht eine strategische Entscheidung fällen wollten und deshalb Grün gewählt haben, obgleich ihr Herz eigentlich bei der SPD ist. Ich kenne sogar solche Fälle, die mir dies ausdrücklich gesagt haben, denen ich zwar abgeraten habe, aber ich glaube nicht, dass ich alle überzeugen konnte. Das sind solche Dinge, die stattgefunden haben. Nein, das nehme ich nicht tragisch.

    Gerner: Der Spiegel schreibt diese Woche von der blockierten Republik und einem großen Reformbedarf im Arbeitssektor, bei der Gesundheit, Sozial- und Bildungspolitik. Wie wollen Sie den auflösen? Was ist überhaupt das Ziel dieser Legislaturperiode?

    Clement: Dass wir den Reformprozess, den wir eingeleitet haben, fortsetzen. Ich bin anderer Meinung als der Spiegel mit der blockierten Republik. Das sind alles wunderbare Begriffe. Ich gehe zunächst einmal davon aus, dass diejenigen, die in der letzten Zeit dazu beigetragen haben, dass in der Bundesrepublik so etwas wie eine abwartende Haltung insbesondere in der Wirtschaft entstanden ist - die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitsgeberverbände, der Bundesverband der Deutschen Industrie, Herr Philipp als Chef der Handwerkerschaft in Deutschland - dass die jetzt diese Art der Politikblockade beenden und dass wir aus dieser Erstarrung heraus kommen. Das ist nämlich viel wichtiger aus meiner Sicht. Wir selbst werden die nächsten Reformschritte tun. Erstens: Wir werden die Ergebnisse der Hartz-Kommission eins zu eins umsetzen. Zweitens: Wir werden bis zum Frühjahr eine Reform der Kommunalfinanzen hinbekommen müssen und auch hinbekommen. Drittens: Wir werden unsere Bildungsreformen - Bund und Länder - fortsetzen. Viertens: Wir werden die Infrastrukturprojekte, die beispielsweise Nordrhein-Westfalen betreffen, die der Bundesverkehrsminister auf den Weg gebracht hat, in einer Konzeption bis zum Jahr 2010 realisieren. Und wenn dann alle den guten Willen mitbringen und nicht die Hoffnung in sich tragen, sie könnten irgendeine politische Veränderung durch Blockade, durch Schlechtreden herbeiführen, diese Zeit müsste nun zu Ende sein, dann werden wir in der Bundesrepublik ganz gut voran kommen.

    Gerner: Sie haben es gesagt: Das Hartz-Konzept soll Teil der Koalitionsvereinbarungen sein. Heißt das auch, Herr Clement, dass Sie sich an das Wort von Peter Hartz gebunden fühlen, vier Millionen Arbeitslose zu halbieren binnen zwei Jahren.,

    Clement: Ich möchte dazu keine Zahlen mehr nennen. Ich selbst habe ja für mich als Ziel gesetzt - das ist aber Bestandteil meiner Perspektive für 2000 gewesen - bis zum Jahr 2005 die Arbeitslosigkeit in Nordrhein-Westfalen massiv zu senken. Ich bin im Jahr 2000 von 500.000 Arbeitslosen im Jahr 2005 ausgegangen. Das ist in der heutigen Wirtschaftslage außerordentlich ehrgeizig. Wenn die Wirtschaftslage so bleibt wie sie jetzt ist, ist das sehr schwer. Es ändert aber nichts daran, dass in einer Zeit einer schwachen Konjunktur die aktive Arbeitsmarktpolitik umso wichtiger wird. Deshalb werden wir die Hartz-Ergebnisse realisieren. Aber eine Zahlengröße möchte ich dazu nicht angeben, wenngleich ich darauf hinweise, dass alle Mitglieder der Kommission schließlich dies unterschrieben haben, und keineswegs nur Sozialdemokraten, sondern Vertreter aus Unternehmen des deutschen Handwerks, Herr Schleyer und andere, die dieses Ziel für realistisch halten. Warum sollen wir ständig bezweifeln, was gutmeinende Leute, die dabei keinerlei parteipolitische Hintergedanken hatten, sich vorgenommen haben. Ich finde, es ist ein ehrgeiziges Ziel, aber es lohnt sich, dafür zu arbeiten.

    Gerner: Sie haben ja keine Mehrheit im Bundesrat, Herr Clement. Werden Sie Kompromisse eingehen müssen, um gewisse Gesetzesprojekte voran zu treiben?

    Clement: Ich gehe davon aus, dass die Union im Bundesrat ihre Haltung überprüfen wird und überlegen wird. Sie wird sich ja jetzt nicht auf vier Jahre Blockade einstellen. Die letzten Monate waren schrecklich auf diesem Sektor, aber ich glaube nicht, dass das so weiter geht. Sie wird zu einer konstruktiven Haltung kommen müssen, zumal ja die Interessenlage der CDU/CSU-geführten Länder sehr unterschiedlich sind. Das sind die drei süddeutschen, die ziemlich stark sind, Bayern, Baden-Württemberg und Hessen, die wirtschaftlich-finanziell ziemlich gut dastehen im Moment. Aber es sind andere, die auf konstruktive Zusammenarbeit angewiesen sind. Ich gehe davon aus, dass sich dies durchsetzt, ganz abgesehen davon - damit will ich aber jetzt gar nicht drohen - dass im nächsten Frühjahr schon wieder Wahlen anstehen. Und man weiß ja nie wie sich welche Position hält beziehungsweise durchsetzt.

    Gerner: Der SPD-Politiker Wolfgang Clement war das.

    Link: Interview als RealAudio