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"Reicht es nicht zu sagen ich will leben"

Um Verweigerung und Aufbegehren und darum, wie man sich an "dem System" abarbeitet, geht es in dem Theaterstück, das jetzt im E-Werk in Weimar uraufgeführt wurde. Das Projekt des Nationaltheaters Weimar nennt sich "Stückentwicklung"; Claudia Grehn und Darja Stocker haben dafür in Weimar und in Leipzig recherchiert.

Von Hartmut Krug | 01.07.2011
    Ein Holzsteg, der sich an seinen Enden hoch faltet, zieht sich quer durch den Maschinenraum des ehemaligen E-Werkes. Das Publikum sitzt auf beiden Seiten eng am Steg, und die Schauspieler kommen und gehen aus dem offenen Raum, toben über die Schrägen oder zwängen sich zwischen die Zuschauer Steg. Hier werden realistische Geschichten erzählt, basierend auf Interviews und Recherchen aus Leipzig und Weimar, doch Sprache und Spiel sind nicht von einfachem Realismus. Sechs Schauspieler teilen sich 23 Rollen von Menschen, die sich an unserer Wirklichkeit reiben.

    Sanna Dembowski steckt sie in immer neue, so einfache wie fantasievolle Kostüme, und die Autorinnen legen ihnen Texte in die beredten Münder, die von pointierter Grundsätzlichkeit sind. Es wird keine lineare Geschichte erzählt, sondern hin und her gesprungen zwischen den Situationen und Figuren. Regisseurin Nora Schlocker arrangiert das Gedankenspiel-Problemstück der Autorinnen Claudia Grehn und Darja Stocker als schwungvoll konzentriertes und ausgestelltes Spiel. Das ist so anregend wie anstrengend, weil die Szenen oft, während sie noch weiter gespielt werden, schon durch und in ihren grundsätzlichen Sprüchen zu Ende sind. Die Figuren werden uns einfach vorgesetzt, sie werden nicht entwickelt, sondern behauptet - das aber vom starken Ensemble durchaus überzeugend und kraftvoll.

    Es beginnt mit einer Oma, die ihrer Enkelin im Café erzählt, dass sie es mit Hitler nicht immer schlecht gehabt habe. Und schon sind wir in unserer Gegenwart, in der ein jahrzehntelang als ausgebuffter Manager erfolgreicher Mann beim Unterstützungsversuch für seinen unternehmerischen Schwiegersohn mit diesem aneinander gerät. Nicht, weil der gerade einen Mitarbeiter kaltschnäuzig abserviert hat, sondern weil er von seinem Schwiegervater die Unterschrift für betrügerische Abrechnungen und Dokumente verlangt, - als Unternehmer, der ohne jedes schlechte Gewissen keinerlei Steuern zahlt.

    Und ansatzlos geht es in ein Klassenzimmer, in dem ein Lehrer von seinen Schülern Antworten zum Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit der Demokratie haben will. Nicht die privaten Meinungen zu Moral und Ehrlichkeit will er bekommen, sondern die korrekte Antwort.
    Die Gesellschaft ist und bleibt wie sie ist, und es geht den Menschen nicht gut dabei. Jeder sieht es, und alle arbeiten sich im Stück daran ab und sondern poetisch existenzielle Sätze ab wie "Jeder der es sehen kann kriegt einen Vogel. Der im Kopf rumpickt und eine Ahnung in die offene Wunde singt."

    Diese offene Wunde scheinen sich die Stückfiguren am einengenden Rahmen des liberal-demokratischen Rechtsstaats geholt zu haben, dessen angeblich alternativlose Regeln sich vor den Menschen als mächtige Hürde aufrichten. Die Autorinnen setzen gern sofort die existenzielle Pointe, und obwohl sie Haltungen und Meinungen weniger entwickeln als behaupten, bekommt die Szenenfolge durch die offene Spielweise Lebendigkeit.

    Gut, manches klingt doch arg klischeehaft, so wenn im Mutter-Tochter-Gespräch letztere meint, nicht erzogen, sondern dressiert zu sein und behauptet, sie sei immer das, was man von ihr erwarte. Dann wieder gibt es herrliche Szenen um einen Wirtschaftsanwalt, der, weil er sich nicht mit offensichtlichem Unrecht abfand, in eine Hartz-IV-Existenz stürzte und dennoch weiter aus dem Obdachlosenheim gegen die filigrane gesellschaftliche Kriminalität ankämpft. Es werden die unterschiedlichsten Haltungen demonstriert zwischen Resignation und Protest. Zufrieden mit der Gesellschaft und seinem Dasein ist hier niemand.

    Im langen letzten Teil des pausenlosen, zweistündigen Abends geht es um die Grundrechte von Migranten und Asylanten. Szenen um einen Politiker, der ein Kind mit einer jungen Frau hat und von Sarrazin beeindruckt ist, wechseln mit bis zum Klischee bös kabarettistischen Szenen. In ihnen wird eine Asylantin beim Einkauf mit ihrem Gutschein vom Verkäufer drangsaliert und eine andere, traumatisierte, von den Mitarbeitern eines Heimes ohne jedes Feingefühl, aber mit viel schrecklich normalem, angeblich gesundem Menschenverstand mehr miss- als behandelt.

    Die Schlussszene entgleist den Autorinnen und der Regisseurin dann leider: Wie da eine Demonstration gegen das Lagersystem als halbes Mitmachspiel angeboten wird und eine engagierte Demonstrantin, der die Zähne ausgeschlagen wurden, blutend und verzweifelt verstummt, das ist leeres Betroffenheitstheater. Insgesamt aber eine zu Recht begeistert gefeierte Uraufführung.