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Reifrock und E-Gitarre

In die Gegenwart kapituliert wurde auf den Münchner Opernfestspielen Henry Purcells kurzes Stück über Liebe in Zeiten des Krieges, "Dido & Aeneas". Sebastian Hess, der Cross-Over-Cellist Münchens und Andreas Ammer haben aus dem englischen Opernjuwel des 17. Jahrhunderts einen deftigen Comicstrip gezaubert.

Von Susanne Lettenbauer |
    Da sehen wir derzeit in München die Alcina, La Calisto und den Orfeo mit seiner Euridice auf der Bühne in voller Länge, vier Stunden samt den Wiederholungen, glauben dies unserer Originaltreue schuldig zu sein und nun dieses: Sebastian Hess, der Cross-Over-Cellist Münchens und Andreas Ammer zauberten gestern aus dem englischen Opernjuwel des 17. Jahrhunderts einen deftigen Comicstrip.

    Die Vergil-Geschichte aus der Aeneis unterzogen sie einer radikalen Säuberungsaktion. Tänzer, Hexen, Gespielinnen - alles überflüssiges Beiwerk für die fanumschwärmten Klassikzertrümmerer von Münchens Opernfestspielen. Nur die Hauptrollen durften bleiben: Dido, die Königin von Karthago und Aeneas, der vertriebene trojanische Prinz. Ihnen zur Seite eine resolute moderne Mutter als bajuwarische Nachhilfslehrerin mit ihren zwei halbwüchsigen Töchtern. Für die Puristen unter den Operngängern hätten diese auch die librettogetreuen Hexen darstellen können oder Belinda und ihre Vertraute. Zumindest eine Kleinfamilie von heute, die Barockopern auf deren Kern reduzieren. Bis zum Schluss des Abends stritten sie herzhaft um das Ende der Geschichte. Beerdigung oder Hochzeit? Tod oder Jubel? Fingerfood oder Semmelnknödeln ?

    Was wir uns immer nicht getraut haben, gestern abend konnte man endlich herzhaft lachen über eine zeitgenössische Barockoper, die den Alcina- und Orfeus-Gängern den Barocktrott aus den Gliedern fegte und daran erinnerte, dass die Schulaufführung der Mädchen damals 1689 in Chelsea vor allem unterhalten sollte. Eine lehrreiche "Antikenschule" gewissermaßen über ein ungleiches Paar, das nicht zueinander kommt, trotz der schönsten Arien über Liebestaumel und Herzschmerz. Wobei Arien ein wenig zuviel gesagt ist: Fred Bertelmann alias Aeneas singt nämlich am liebsten Schlager, die richtig ollen Kamellen.

    Ein verkappter Karl Moik, Frank Sinatra on his way oder Gilbert Bécaud stolziert da über die bonbonfarbene Bühne in rotem Scheinwerferlicht. Ein hilflos veraltetes Entertainermodell, dem nachzutrauern urkomisch wirkt. Dido bekommt später den weißen Scheinwerfer, damit die Geschlechterrollen klar definiert sind, denn wir sind ja bei Henry Purcells exakt durchstrukturierter Vergil-Oper. Und bei aller Reduktionswut des Duos Ammer/Hess zieht sich der rote Faden sehr wohl durch die überlieferten sechs Originalszenen. Palast der Dido, Zauberhöhle, Hain, Hafen, Schiffsdecks und zurück zum Palast. Im Schlepptau das sichtlich amüsierte Publikum.
    Dem Hagestolz Aeneas zur Seite schmachtet Barbara Heising alias Dido in den bedrückendsten Barockarien. Reifrock und Puderperücke stempeln sie ab als Ewiggestrige. Wie die Vergil-Geschichte? Oder wie die Barockoper?

    E-Gitarre, Cembalo, Bandoneon, Kontrabass und Cello lautet die karge Besetzung im Graben und verdeutlicht doch nur, dass von Purcells Dido und Aeneas eigentlich nichts im Original überliefert wurde. Auch nicht der Mieskuoro Huutajat, der finnische Schreichor von Petri Sirviö. Eine überraschende lautmalerische Umsetzung der Zweifel und Verschwörungen im Libretto. Ein schräges Pendant zu dem Frauendreier der bayerischen Geishas Judith Huber, Marianne Kirch und Eva Löbau. Dann fehlte nur noch Chris auf dem Balkon. Christopher Robson, gefeierter Countertenor weltweit, genoss den unkonventionellen Barockabend sichtlich. Eine willkommene Kür für den bayerischen Kammersänger, den etliche der jungen Zuhörer ungläubig anstarrten.

    Noch vor wenigen Jahren stand das Avantgardeprogramm Festspiel + der Münchner Opernfestspiele beinahe vor dem Aus. Nur durch die massive Intervention des Staatsintendanten Sir Peter Jonas konnte der Koordinator Cornel Franz sein durchweg ambitioniertes Projekt weiter führen. Man kann nur hoffen, das die Festspiel + Reihe auch nach dem Weggang von Sir Peter Jonas im kommenden Jahr die eingefahrenen Hör- und Sehgewohnheiten in Frage stellen kann wie bei Purcells Dido und Aeneas.