Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Reihe "Auf der Suche nach dem Wir" (Teil I)
"Ungleichheit zerstört Gesellschaften"

Zersplittert unsere Gesellschaft in viele kleine Gruppen, die zum Teil bereit sind, ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen? Angesichts des Gefühls von Kontrollverlust nehme die Toleranz immer stärker ab, sagte der Soziologe Wilhelm Heitmeyer im Dlf. Das könne eine Gesellschaft tatsächlich zerstören.

Wilhelm Heitmeyer im Gespräch mit Stefan Koldehoff | 01.01.2021
Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer, Porträt
Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer beschreibt in seiner Langzeitstudie "Deutsche Zustände" seit vielen Jahren auch, wie es um den Zusammenhalt in Deutschland steht (Quelle: Nele Heitmeyer)
Kennzeichen der Moderne seien auf der einen Seite immer größere Chancen für die Lebensgestaltung, gleichzeitig aber auch eine sinkende Berechenbarkeit durch immer mehr Unklarheiten: Wie entwickelt sich eine Gesellschaft, wie entwickelt sich ein Leben? Entscheidend für den Zusammenhalt eines Gemeinwesens sei, so Heitmeyer im Deutschlandfunk, wie die Menschen damit zurechtkommen. Je höher nämlich die daraus entstehende Ungleichheit sei, desto stärker wüchsen Probleme und Gewaltbereitschaft:
"Menschen und Gruppen werden immer stärker nach Kriterien, die im Wirtschaftsleben adäquat sind – Nützlichkeit, Verwertbarkeit, Effizienz – beurteilt. Erhebungen in allen europäischen Ländern zeigen: Ungleichheit zerstört Gesellschaften."
Kathrin Röggla auf der Frankfurter Buchmesse
Teil II - Welche einigende Kraft hat Sprache noch?
Kann die Sprache Spaltungen überwinden, oder polarisiert sie stattdessen nur noch mehr? Als Schriftstellerin interessiere sie vor allem, was Sprache als Übertragung leisten könne, sagte Kathrin Röggla im Dlf.

"Keine inklusive Öffentlichkeit"

Dazu komme, sagte der Gründungsdirektor des Instituts für interdisziplinäre Konfliktforschung an der Universität Bielefeld, dass es keine inklusive Öffentlichkeit mehr gebe:
"Diese Öffentlichkeit ist durch die "Sozialen Netzwerke" gesprengt worden. Wir haben es heute mit Öffentlichkeiten zu tun. Deshalb ist es immens schwierig, von einem gesellschaftlichen "Wir" zu sprechen, weil sich die Menschen in ihren Echokammern gewissermaßen abgedichtet haben."
Außerdem habe es in den vergangenen 20 Jahren immer wieder ökonomische, politische, soziale Krisen gegeben:
"9/11, Finanzkrise, die so genannte Flüchtlingskrise, die Hartz-IV-Krise – auch die aktuelle Pandemie. Bei der Bewältigung zeigt sich, dass die Routinen, mit denen man normalerweise Veränderungsprozesse oder auch Krisen kleinerer Art bewältigen konnte, nicht mehr funktionieren. Und: Man kann die Zustände vor der Krise nicht wiederherstellen. Daraus entstehen Kontrollverluste. Und immer dort, wo die Menschen die Wahrnehmung oder die Erfahrung von Kontrollverlusten gemacht haben, wird es für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und für ein gesellschaftliches ‚Wir‘ außerordentlich gefährlich – weil es einen Zusammenhang gibt zwischen Kontrollverlusten und Verschwörungsideologien – die gesellschaftlich zerstörerisch sind."

"Nicht zur Tagesordnung übergehen"

Die Strukturveränderungen, die man eigentlich anstreben müsste, würden nicht in Angriff genommen, so Heitmeyer weiter. Das führe zu "dramatischen Ereignissen" gerade im rechten Spektrum "bis hin zum Rechtsterrorismus". Sie isoliert zu betrachten und nach einiger Zeit wieder zur Tagesordnung überzugehen, sei ein Fehler.
Die Bedrohung der offenen Gesellschaft und der liberalen Demokratie zeige sich auch schon in Ereignissen wie der Wahl des thüringischen Ministerpräsidenten, die Rundfunkgebührendebatte in Sachsen-Anhalt und die vorherigen Äußerungen von CDU-Politikern, man müsse das "Soziale mit dem Nationalen" wieder versöhnen.

"Zeigen, welche Werte gelten sollen"

Dies seien ebenso gefährliche Prozesse des Verschwimmens, wie sie in der so genannten Querdenker-Bewegung festzustellen seien:
"Auf diesen Demonstrationen sind sicher viele Einzelpersonen mit ihren tatsächlichen Anliegen der Existenzsicherung et cetera, aber auf der anderen Seite sind es Gruppen, die mit einer politischen Zielrichtung diese Demonstrationen immer mehr in den Griff zu bekommen scheinen. Solche Normalisierungsprozesse sind meine größte Sorge: Alles, was als normal gilt, kann man zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr problematisieren. Da ist es gut, wenn sich große Teile der Gesellschaft entgegenstemmen – vor allem auch auf großen Demonstrationen, um zu zeigen, welche Normen und welche Wertvorstellungen eigentlich in der Gesellschaft gelten sollen. Dazu gehören die Gleichwertigkeit von Menschen und ihre psychische und physische Unversehrtheit."
DLF-Denkfabrik 2021 - Auf der Suche nach dem "Wir"
Wenn sich eine Gesellschaft nicht mehr auf grundlegende Werte einigen kann, entzieht sie sich selbst den Boden – sei es in der analogen Welt oder im digitalen Raum. Wenn wir uns nicht mehr einig sind, was wahr und was falsch, was gut und was böse ist, dann können wir uns nicht mehr sinnstiftend miteinander auseinandersetzen. Wie viel Differenz halten wir aus und wer baut Brücken für den notwendigen Diskurs und Zusammenhalt?