Dienstag, 16. April 2024

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Reihe: Fragen nach Identität
Die Nation - vereinend und trennend zugleich

Die Nation wird wieder beschworen. In Russland, in Polen, in der Türkei, aber auch in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Das große "Wir" soll wieder Sinn stiften, damit der Einzelne nicht verloren geht. Aber es grenzt auch aus. Dabei sind Nationen nichts Gegebenes, nichts, was immer schon war.

Von Philipp Schnee | 30.12.2017
    Die Nationalfahne von Deutschland und die Flagge der Europäischen Union wehen im Wind
    Die Nationalfahne von Deutschland und die Flagge der Europäischen Union. Kann es eine europäische Identität überhaupt geben? (dpa/picture alliance/Patrick Pleul)
    Wir sind Papst. Wir sind Weltmeister. Wir sind Export-Weltmeister. Was ist das, dieses nationale "wir", zu dem, ja - eben "wir" - gerne, nicht nur in Schlagzeilen, zusammengepackt werden?
    "Etwas, was Habermas mal Zwangssolidarisierung von Fremden genannt hat: Das heißt, dieses 'wir' der Nation ist etwas, wo ich mich plötzlich gemein fühle mit jemandem, mit dem ich eigentlich nichts teile, weder die Klasse, noch den Ort, wo ich wohne. Und trotzdem weiß ich, diese Person gehört derselben politischen Ordnung an ..."
    Der Historiker Christan Geulen möchte den Nationalismus und die Nation, so wie sie idealtypisch gedacht wurden, retten vor denjenigen, die heute "Nationalisten" genannt werden:
    "Eigentlich ist Nation eine sehr moderne Form der Gemeinschaft, bei der es eben nicht um vorgängige Zugehörigkeiten geht, der Abstammung, der Sprachen, der gemeinsamen Geschichte oder Ähnlichem, sondern eigentlich nur um den politischen Willen, eine Gemeinschaft zu bilden und sich gemeinsam in demokratischer Form nach dem Prinzip der Volkssouveränität zu regieren. Das ist der ursprüngliche Gedanke der Nation."
    Nationen als "Meistererzählung" mit langer Traditionslinie
    Sehr schnell hat sich dieser Begriff aber mit anderen Vorstellungen aufgeladen. Heute, so Geulen, würde die Nation häufig ganz anders verwendet:
    "Als irgendwie merkwürdiges volk-bevölkerungs-rasseartiges Phänomen, dem man irgendwie qua Natur zugehört und bestimmte Menschen qua Natur nicht zugehören."
    Nationen sind nichts Gegebenes, nichts, was immer schon war. Die Nation kann sein, muss aber nicht. "Imagined Community", vorgestellte Gemeinschaft, nennt das die Geschichtswissenschaft. Im 19. Jahrhundert, der Hochzeit des europäischen Nationalismus, als viele Nationen geformt wurden, wurden auch die jeweils eigenen Nationalgeschichten geschaffen: als schlüssige "Meistererzählungen", mit langen Traditionslinien, die weit in die Vergangenheit weisen. Der Kanon einer charakteristischen Nationalkultur mit Liedern, Mythen, Musik und Tanz wurde etabliert, manche Nationalsprache erstmals kodifiziert.
    "Das Kollektiv, das durch die Nation entsteht, ist kein natürliches Kollektiv."
    Kermani: "Der Nationenbegriff ist künstlich"
    Der Schriftsteller Navid Kermani hat sich intensiv mit der Nation, mit Heimatgefühl und Patriotismus auseinandergesetzt, insbesondere in einer viel beachteten Rede 2012. "Vergesst Deutschland – eine patriotische Rede" war der Titel, auch als Buch publiziert. Und damals wies er auch auf die Gefahren hin, die die weitverbreiteten Vorstellungen einer territorialen, religiösen, sprachlichen und ethnisch homogenen Nation bergen.
    "Der Nationenbegriff, gerade hier in Deutschland, ist künstlich, weil die realen Menschen innerhalb dieses geografischen Raumes, des Sprachraumes, waren sehr viel vielfältiger und der Nationenbegriff hat das eingeebnet. Und das macht die Sprengkraft aus. Wer als Nation sagt 'Wir', der definiert damit auch, dass andere nicht zu dieser Nation gehören."
    Das "Wir" der Nation grenzt aus. Das "Wir" der Nation ebnet - nach innen – ein. Aber in dieser Kollektividentität kann der Einzelne auch aufgehen. Dem Einzelnen bietet sie Gemeinschaft, wenn auch eine "imagined community". Woher kommt der neue Wunsch nach nationaler Identität? Bieten Kollektive, Gruppenidentitäten wie "Nation" in einer immer häufig als unübersichtlich wahrgenommen Welt Orientierung, dienen sie der Komplexitätsreduktion?
    Geulen: "Nationalistische Gruppen sind transnational aktiv"
    Christian Geulen, der als Professor für Geschichte an der Universität Koblenz-Landau lehrt, beobachtet, dass unter dem Label "Nationalismus" Themen angesprochen werden, die eigentlich wenig mit dem sogenannten "Vaterland" zu tun haben. Familienpolitik und Lokales, Geschlechterrollen und Religion. Geulen nennt das "transnationalen Nationalismus":
    "Zum Teil sieht man ja an den neuen nationalistischen Gruppen und Parteien, dass sie selber transnational aktiv sind und durchaus in einer globalisierten Welt leben, dann aber trotzdem von Heimat, von Abgeschlossenheit, von Homogenität reden. Daher würde ich diese Nationalismen als komplementäre Momente dieses Globalisierungsprozesses ansehen, aber nicht als das genaue Gegenteil."
    Wie also die Gefahren eines ausgrenzenden Nationalismus vermeiden, ohne den Wunsch und das Bedürfnis vieler nach "Gemeinschaft" zu ignorieren? Navid Kermani schlug 2012 den antipatriotischen Patrioten vor, den "Nestbeschmutzer" aus Vaterlandsliebe:
    "Da könnten Sie jetzt eine lange Reihe von Antideutschen aufzählen, die zugleich große deutsche Patrioten waren. Die ihre Loyalität dadurch unter Beweis gestellt haben, indem sie das Eigene sehr selbstkritisch betrachtet haben. Und der erste und vielleicht auch radikalste unter all diesen großen deutschen, patriotischen Antideutschen war sicherlich Lessing."
    Kermani plädierte damals auch für eine stärkere europäische Identität. Aber wäre das nicht nur eine Nationalidentität auf höherer Eben, mit denselben gemeinschaftsstiftenden, aber auch ausgrenzenden und homogenisierenden Effekten? Christian Geulen:
    "Wir tendieren immer wieder dazu, so etwas wie ein European Nation-Building in Gang zu setzen, und hoffen darauf, dass sich irgendwann eine europäische Identität bilden kann. Das kann aber auf der Grundlage von bereits existierenden Nationalstaaten nicht sein. Und hier könnte man neu überlegen, welche Art der politischen Vergemeinschaftung notwendig ist, welche überhaupt realistisch ist und zwar in Relation zu, aber auch in Abgrenzung zu den Dingen, die wir aus dem Nationalismus der letzten 250 Jahre gelernt haben."