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Reihe: Fragen nach Identität
Steckt Deutschland im Identitätskonflikt?

Der Einfluss fremder Kulturen, die vermeintlich den historisch gewachsenen Wertekonsens in Deutschland überlagern könnten, macht vielen Menschen Angst. Doch was meint man, wenn man "wir Deutsche" sagt? Gibt es überhaupt so etwas wie eine kulturelle Identität?

Von Oliver Kranz | 23.12.2017
    Deutschlandfahne an einem Wohnungsfenster
    Was meinen wir, wenn wir von deutscher Identität, deutschen Werten und deutscher "Leitkultur" sprechen? (imago / Hartwig Lohmeyer)
    Wenn Gayle Tufts "Jingle Bells" singt, wippt ihr Publikum im Takt. Der Song gehört längst zur deutschen Folklore. Vor 50 Jahren wurde noch vor einer Amerikanisierung der deutschen Kultur gewarnt.
    "Das hat sich mit dem Amerikanischen so ergeben, dass das den Leuten so vorkommt, als wäre das schon ihr Eigenes", sagt Dina Emundts, Professorin am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. "Da sind die schon von Kindheit auf dran gewöhnt. Wenn die sich ihre Geschichte erzählen, ist das von dem Amerikanischen schon gar nicht mehr loszulösen."
    Permanente Aneignungs- und Abschottungsprozesse
    Ein einfaches Beispiel dafür, wie sich kulturelle Traditionen wandeln. Es laufen permanent Aneignungs- und Abschottungsprozesse. Deshalb ist es kaum möglich von einer kulturellen Identität zu reden. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff trotzdem verwendet - meist um das Eigene vom Fremden zu unterscheiden.
    Und das Bedürfnis, sich abzugrenzen hatten Menschen schon immer. Schon die alten Griechen bezeichneten Fremde als Barbaren. Als im 18. Jahrhundert in Europa die Idee des Nationalstaats Raum gewann, begann auch die Philosophie, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Dina Emundts verweist auf Hegel.
    "Bei Hegel ist eines der Grundthemen, dass man sowas wie Identität überhaupt nicht ausbilden kann, wenn man sich nicht als Teil einer Gruppe bzw. einer größeren Gesellschaft sieht und dass das tatsächlich auch als Identifikationsprozess beschrieben werden muss. Es sind verschiedene Arten von Identitäten, aber dynamisch gedacht und nicht im Sinn von dass die statisch sind und eine Einheit bilden."
    Wir sind viele
    Laut Hegel definieren sich Menschen durch die Rolle, die sie in einem Staat, einer Berufsgruppe oder Familie spielen. Diese Idee wurde von vielen anderen Philosophen und später auch von Psychoanalytikern weiter gedacht. Heute weiß man, die menschliche Identität wird nicht nur durch die Zugehörigkeit zu Gruppen, sondern auch durch ganz individuelle Persönlichkeitsmerkmale bestimmt.
    Wer Gayle Tufts fragt, wer sie ist, bekommt folgende Antwort: "Ich bin eine Frau, eine Weiße, heterosexuell, ich habe keine Kinder, meine Eltern sind tot, es gibt viele Kategorien."
    Natürlich auch die Kategorie der Nationaliät. Gayle Tufts lebt zwar seit 26 Jahren in Berlin und hat kürzlich die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, aber sie fühlt sich als Amerikanerin.
    "Wir Amerikaner sind very outgoing, wir sind ein bisschen lauter. Wir duzen und siezen nicht. Wir sind ein bisschen mehr familiär in diesem Sinn oder leger."
    "Prozesse des Identifizierens"
    Und solche nationalen Besonderheiten sind von jeher ihr Thema. In ihrer aktuellen Show "Very Christmas" blickt Gayle Tufts mit einem Augenzwinkern auf die Deutschen.
    "Wir denken alle: Deutschland, das Land der Dichter und Denker. Aber am zweiten Weihnachtsfeiertag eine ganze Nation liegt auf dem Sofa in einem kollektiven Koma und schaut Sissi-Filme."
    Gute Pointe - auch wenn "Sissi-Filme" längst in der Mottenkiste verschwunden sind. Mehrheitsfähige Idole sind heute rar geworden. Die Angebote der Medien sind so vielfältig, dass sich die kulturellen Vorlieben der Menschen immer weiter auffächern. Dina Emundts spricht deshalb nicht von Identität, sondern von "Prozessen des Identifizierens".
    "Und die sind für unser Selbstverständnis wichtig und oft, glaube ich, vermischt sich das, dass man, wenn man von kultureller Identität spricht, meint, man braucht da unbedingt ein einheitliches Gebilde, was sich von anderen unterscheidet und wo man klar sagt: Was gehört dazu, was gehört nicht dazu."
    Nicht-Existenz der kulturellen Identität?
    Die Globalisierung hat längst dazu geführt, dass nicht nur Waren und Dienstleistungen um die Erde reisen, sondern auch kulturelle Trends. Sich dagegen abzuschotten, ist weder möglich noch wünschenswert. Doch das heißt nicht, dass Menschen auf ein Wir-Gefühl verzichten müssen.
    "Man kann schon so etwas wie soziale oder rechtliche Verhältnisse, mit denen man sich identifizieren kann und kulturelle auch ein Stück weit verschieden gestalten und zum Beispiel das Kulturelle vielfältiger gestalten und das Rechtliche eher einheitlicher gestalten. Und dann könnte man sagen, dass diese Identifikation trotzdem mit dieser Gesamtgruppe möglich ist, obwohl sehr viel kulturelle Vielfalt dabei ist."
    Dina Emundts liegt mit dieser These ganz auf der Linie des französischen Philosophen François Jullien, der gerade ein Buch über die Nicht-Existenz der kulturellen Identität veröffentlicht hat.
    "Was da gesagt wird und, wie ich finde, überzeugend gesagt wird, ist, dass es eben nicht so etwas gibt, wie eine statische Entität, dass es aber trotzdem für mich als Mensch wichtig ist, mir sowohl europäische als auch in anderen Schichten oder Gruppen zugehörige Sachen, mich mit denen zu identifizieren und mir die anzueignen, dass das für mein Selbstverständnis und meine eigene Identität wichtig ist, das scheint mir eben auch ein wichtiger Punkt zu sein."
    Anders gesagt: Nicht Identität ist wichtig, sondern Prozesse des Identifizierens.
    Gayle Tufts sagt es so: "Es wird immer sehr individuelle Sachen geben. Das ist toll. Ein bestimmten Lokalpatriotismus ist für mich okay. Aber vielleicht es gibt doch etwas, was wir haben miteinander zu tun. Vielleicht haben wir einen Weg zu finden, was uns verbindet, als was uns unterscheidet."