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Reihe: Späte Reue
"Es geht um Wirtschaft"

Mit dem "Kongo-Tribunal" hat der Schweizer Theaterregisseur Milo Rau einen Gerichtsprozess auf die Theaterbühne gebracht. Er sollte klären, wer die Verantwortung für ausbeuterische Verhältnisse in Afrika heute trägt. Reenactment ist Milo Raus Mittel im Kampf um die Erinnerungspolitik - und um gerechtes Wirtschaften.

Milo Rau im Gespräch mit Karin Fischer | 01.04.2018
    Porträt von Milo Rau, Theaterregisseur und Autor
    Milo Rau, Theaterregisseur und Autor (International Institute of Political Murder )
    Karin Fischer: Es tut sich was beim Thema "Aufarbeitung der Kolonialgeschichte". Abgesehen davon, dass das Humboldt-Forum zum Treiber dieser Aufarbeitung werden könnte; abgesehen davon, dass der französische Präsident Emmanuel Macron gar die Rückgabe von geraubten Kunstgütern versprochen hat. Im neuen Koalitionsvertrag wird die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte neuerdings zum "demokratischen Grundkonsens" gezählt – und in einem Atemzug mit der Aufarbeitung der NS-Terrorherrschaft und der SED-Diktatur genannt.
    Wir sprechen in einer kleinen Reihe über Ostern mit Experten zu diesem Thema. Milo Rau hat mit Hilfe von Theater im weiteren Sinne diese Aufarbeitung geleistet, mit einem einzigartigen Reenactment-Projekt "Hate Radio", in dem es um den Völkermord in Ruanda ging, und mit dem "Kongo-Tribunal", das den Kolonialismus vor Gericht brachte, vor allem aber auch den Neo-Kolonialismus dieser Tage. Milo Rau, wie steht es Ihrer Meinung nach mit der "offiziellen" Aufarbeitung der Kolonialgeschichte in Deutschland?
    Milo Rau: Gar nicht so schlecht, muss man eigentlich sagen. Es wird sehr viel beispielsweise über den Genozid an den Herero gesprochen, der sich Anfang des Jahrhunderts abgezeichnet hat. Ich glaube, was ein bisschen hinterherhängt – und das ist das, was wir mit dem Kongo-Tribunal versucht haben zu machen -, sind die aktuell in der Weltwirtschaft tätigen Gesetze des, könnte man sagen, Neokolonialismus. Der Kolonialismus endet ja nicht mit beispielsweise der Unabhängigkeit des Kongo 1959. Die Firmen sind nach wie vor da, die Verträge werden gehalten, sie werden durch die Weltbank sogar verschärft und es gibt beispielsweise keine kongolesischen Firmen mehr, die Gold, also Coltan abbauen. Das sind alles ausländische Firmen. Also der Kongo ist quasi eine Freihandelszone.
    Neo-koloniales Wirtschaften
    Das ist eine Sache, die beginnt mit der Berlin-Konferenz 1884/85 und verschärft sich eigentlich bis heute. Da wurde nie eine Industrie aufgebaut, da werden die Rohstoffe rausgeholt so wie damals der Kautschuk, und ich glaube, das ist eine Sache, die man viel grundsätzlicher angehen muss, als dass man ein paar Schädel zurückgibt, was auch wichtig ist, diese ganze Debatte um die Ausstellung im ehemaligen Stadtschloss und so weiter, was muss da restituiert werden von diesen Knochen, die einfach geklaut wurden, von diesen Kunstwerken, die geklaut wurden und in exotisierenden Kontexten ausgestellt. Das muss aufgearbeitet werden, aber ich glaube, man muss auch auf der wirtschaftlichen Ebene, auf der Realität, in der wir leben, in der wir jetzt miteinander sprechen, ich glaube, das sind Ebenen, auf denen man noch mal sehr viel tiefer graben muss.
    Vertreter der afrikanischen Volksgruppen Herero und Nama stehen am 12.10.2017 bei einer Anhörung im Verfahren gegen die Bundesregierung wegen des Völkermords im heutigen Namibia vor dem US-District Court in New York (USA).
    Vertreter der Volksgruppen Herero und Nama bei einer Anhörung im Verfahren gegen die Bundesregierung wegen des Völkermords im heutigen Namibia vor dem US-District Court in New York (picture alliance / dpa / Johannes Schmitt-Tegge)
    Fischer: Sie haben gesagt, es wird viel über die Herero gesprochen. Es scheint mir aber doch auch noch blinde Flecken zu geben. Das Thema "Aufarbeitung der Kolonialgeschichte" ist in Deutschland nicht so präsent, wie es mir derzeit in Frankreich zum Beispiel zu sein scheint. Wo liegen denn da noch die "blinden Flecken"? Lassen Sie uns vielleicht noch ein bisschen bei der Geschichte selber bleiben.
    Rau: Ich glaube, ein Grund ist, dass Deutschland sich nie als Kolonialmacht verstanden hat und dass natürlich der Genozid an den europäischen Juden alles überstrahlt. Die NS-Geschichte hat da eigentlich die Aufarbeitung zu 90 Prozent eingenommen. Dann gab es immer noch so eine kleine Gegensparte, zehn Prozent noch Herero und andere Verbrechen der Kolonialzeit. Tatsache ist auch, dass Deutschland natürlich im Vergleich zu Frankreich nie eine große Kolonialmacht tatsächlich war und auch nur sehr kurz, nur eigentlich Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts. Mit dem Ersten Weltkrieg ist das dann auch schon wieder vorbei. Und, dass diese Spanne dann überschrieben wurde durch spätere Verbrechen des Nationalsozialismus.
    Kampf um Erinnerungspolitik
    Das kommt jetzt zurück. Gerade die Herero-Geschichte ist natürlich sehr stark diskutiert momentan. Vielleicht dazu eine interessante Anekdote, die sich abgespielt hat in der General Assembly, ein Weltparlament, das ich in Berlin veranstaltet habe vor zwei Monaten. Da hatten wir einen AKP-Anhänger, einen türkischen AKP-Anhänger, der den Genozid an den Armeniern geleugnet hat. Dann habe ich ihn rausgeschmissen als Veranstalter. Ich wollte nicht, dass das in meiner Verantwortung geschieht. Dann ist aber auch der Vizepräsident dieser General Assembly, der ehemalige namibische Landwirtschaftsminister gegangen, und ich habe ihn gefragt, was ist denn los. Dann hat der gesagt, die Türkei ist das einzige Land, die den Genozid an den Herero anerkannt hat und die uns finanziell in der Aufarbeitung unterstützt.
    Da findet ein Kampf statt - natürlich kann man strategisch verstehen, warum die AKP das macht -, ein Kampf um Erinnerungspolitik. Die Türken sagen, okay, ihr haltet uns den Genozid an den Armeniern vor; dann reden wir doch mal über den Genozid an den Herero. Und es ist sehr gefährlich, wenn diese Fragen zu politischen Spielsteinen werden, und das sind sie natürlich auch. Deshalb ist es sehr wichtig, dass die Länder selber, die Verantwortlichen selber sich dessen annehmen, in diesem Fall jetzt Deutschland zum Beispiel.
    Schein-Argumente gegen Restitutionsforderungen
    Fischer: Wir wissen, welches Elend der Kolonialismus über Afrika gebracht hat und wie lange Entschuldigungen auch gedauert haben. Entschädigungen - und die Rückgabe von Kunst beispielsweise wäre in einem solchen Rahmen ja auch denkbar - werden bisher immer abgelehnt, mit Hinweis auf fehlende Ansprechpartner vor Ort oder den mangelnden Schutz der wertvollen Kunstwerke dort. Das ist, wenn ich Sie richtig verstehe, eine Binnensicht, die Sie aber nicht akzeptieren würden?
    Rau: Nein, ich akzeptiere die nicht. Ich habe vor ein paar Tagen ein interessantes Interview gehört, vielleicht sogar auf Ihrem Sender, wo ein Betroffener gesagt hat, es ist ja absurd, dass der Dieb des Autos sagt, ich gebe Dir das Auto nicht zurück, weil Deine Garage nicht perfekt ist. Und das geht nicht, das ist zynisch. Diese Dinge müssen natürlich restituiert werden. Im Übrigen sind die überhaupt nicht gut aufbewahrt worden. Die ganzen Kunstgegenstände und vor allem auch die Gebeine und die Schädel, um die es sehr oft geht, die sind in Kellern über ein Jahrhundert hinweg vergammelt. Davon ist das Allermeiste weder beschriftet, noch irgendwie gut aufbewahrt worden. Das sind absurde Argumente, hinter denen natürlich die Angst steht, dass wenn man anfängt zu restituieren, dass am Ende dann alles weg ist, und da kann man quasi nicht nachgeben, will man nicht nachgeben.
    Schwarze Arbeiter sitzen, stehen und laufen auf einer hügeligen Oberfläche am Rande der Mine. Die Luft ist staubig. Einige Arbeiter halten Schaufeln in den Händen.
    Die sogenannte Mudere-Mine am 28.5.2013 in der Demokratischen Republik Kongo, wo das Mineral Coltan abgebaut wird, das zur Herstellung von Handys benötigt wird. (AFP / Junior D. Kannah)
    Fischer: Was kann die Kunst tun? Wir sollten vielleicht einen Blick auf Ihre Theaterarbeit werfen und die Möglichkeiten des "Reenactment" beschreiben. Was für eine Theorie steht hinter diesen Projekten?
    Rau: Die zwei von Ihnen genannten, "Hate Radio" und "Kongo-Tribunal", sind sehr unterschiedlich. "Hate Radio" ist tatsächlich die Restituierung, eigentlich die Wiederaufführung eines Radiostudios, das eine sehr wichtige Rolle gespielt hat im Genozid an den Tutsi durch die Bevölkerungsmehrheit der Hutu 1994 in Ruanda. Da habe ich Schauspieler mit Opferhintergrund eingeladen, auf der Bühne zuerst auch in Ruanda selbst wirklich auf Sendung zu gehen mit einer Sendung dieser Radiostation.
    Kolonialzeit als Ursache heutiger Kriege
    Fischer: Ich habe das natürlich auch im Zusammenhang mit unserer Kolonialismus-Frage deswegen genannt, das "Hate Radio", weil ja Aktivisten wie Sie heutzutage davon ausgehen, dass die modernen Kriege auf dem afrikanischen Kontinent auch mittelbar immer eine Folge des vergangenen Kolonialismus sind.
    Rau: Ja klar sind sie eine Folge des Kolonialismus. In Ruanda ist das sehr klar. Durch die Konstituierung dieses Landes werden zwei ethnische Gruppen plötzlich in einen Raum gedrängt und daraus ergibt sich dann nach der Befreiung, aber auch schon vorher, indem die Kolonialmächte die Tutsis, die Bevölkerungsminderheit benutzen, quasi an ihrer Stelle teilweise zu herrschen, also Kollaboration. Das führt nachher zu einem Konflikt, der in diesen Genozid 1994 mündet, in Burundi übrigens aktuell immer noch am Laufen. Da ist es genau umgekehrt. Da ist immer wieder die Minderheit der Hutu durch die Mehrheit der Tutsi in Gefahr. Das sind Geschichten, die sind ganz klare Spätfolgen, auch indem natürlich durch diese rassistischen Theorien der Kolonialzeit überhaupt diese Ethnien festgeschrieben werden, um das ganze Verwaltungswesen zu vereinfachen.
    Wirtschaftliche Ausbeutung existiert weiter
    Ein anderer Grund ist: Warum sind die europäischen Mächte da? Warum gab es diese Berlin-Konferenz 1884? Das sind wirtschaftliche Gründe. Man wollte eigentlich diese Rohstoffe, die es da gab, ausbeuten und man wollte festlegen, wer, welche europäische Macht, welche Konzerne und so weiter in welchen Bereichen ausbeuten dürfen. Das waren Wirtschaftskongresse. Es wäre ja niemand nach Afrika gegangen einfach aus Interesse an Schädeln und Kunstgegenständen; das ist wirklich ein Nebenbereich. Es geht um Wirtschaft. Und da hat der Kongo, sage ich mal, das Pech, dass er zuerst Sklaven, dann Kautschuk, dann Uran, heute Coltan und Gold, immer das hatte, was die europäische Industrie braucht, aber nicht hatte. Das ist quasi, sage ich mal, die finstere, die Gegenseite dieser europäischen Industrie, die sehr sauber funktioniert, sehr gerecht funktioniert. Die findet in Zentralafrika statt. Man muss die zwei Dinge zusammendenken und deshalb kann man das auch nur ändern, indem man diesen Raum als einheitlichen demokratischen Raum zu denken beginnt, indem man die Betroffenen fragt, was sind denn für euch die besten Abbaubedingungen, wie können wir das organisieren, dass der Kongo beispielsweise an seinen Reichtümern Anteil hat, dass es da eine Sekundärindustrie gibt, dass es da Raffinerien gibt.
    Fischer: Und das "Kongo-Tribunal" knüpft natürlich an an diesen wirtschaftlichen Ausbeutungs- und Verwertungszusammenhängen, die es heute noch gibt, und hat Täter und Opfer im Ostkongo, in Bukavu, an einen Tisch gebracht und interessanter Weise so getan, als ob man, trotz Krieg, Terror, Massakern und weitergehenden Kolonialismus heute im 21. Jahrhundert, und der Ausbeutung von Bodenschätzen, wie Sie sie gerade beschrieben haben, Gerechtigkeit durch Sprechen herbeiführen könnte?
    Rau: Ja, nicht durch Sprechen. Wir hatten ja Anwälte und Richter aus Den Haag und aus dem Kongo. Es wurden zwei Minister entlassen, der Gouverneur wurde entlassen. Daraus ist jetzt eine Kampagne geworden. Es gibt fünf neue Kongo-Tribunale, zusammen mit Den Haag. Es wird jetzt institutionalisiert.
    Fischer: Theater wird echte Gerichtsbarkeit?
    Rau: … wird jetzt echte Gerichtsbarkeit, wird institutionalisiert, weil wir leben in einer absurden Zeit. Die Absurdität ist, dass es kein Weltwirtschaftstribunal, aber eine Weltwirtschaft gibt, dass es kein Gesetz gibt, das angerufen, oder ein Tribunal, eine Institution gibt, die angerufen werden kann von Leuten, die beispielsweise von großen Firmen vertrieben werden - gegen die Bodenrechte, die existieren. Das gibt es nicht, dieses Tribunal. Deshalb haben wir es geschaffen und ich glaube, wir leben in einer Zeit, wo man anfangen muss, bevor es tatsächlich zu spät ist, die Weltwirtschaft, die jenseits der Menschenrechte in diesen Bereich hereinzubringen.
    Die Ansicht einer Bühne, über der ein Plakat "Verité et Justice" schwebt, hinten eine Karte des Kongo mit Schrift "Das Kongo Tribunal" in drei Sprachen
    In diesem Theatersaal spielte Milo Raus "Kongo-Tribunal". (IIPM)
    Hier in Deutschland haben wir Rechtssicherheit. Wenn man Braunkohle findet unter dem Deutschlandfunk, dann werden nicht einfach alle Deutschlandfunk-Redakteure erschossen und das Haus gesprengt, sondern dann beginnt ein 20jähriger Vorgang und am Schluss wird vielleicht der Deutschlandfunk umgesiedelt.
    Fischer: Umgezogen!
    Rau: Ja! Das kann ja sein. Im Kongo gibt es aber diesen Vorgang nicht und die muss man schaffen, diese Vorgänge. Die müssen global werden.
    Profitierende Länder tragen Mitverantwortung
    Fischer: Wenn ich Sie richtig verstehe, klagt das "Kongo-Tribunal", das ja nach Bukavu auch noch in Berlin, in den Sophiensälen stattgefunden hat, aber auch vor allem auch die Zuschauer an: Wir sind schon lange eigentlich Mit-Täter, die sich nicht mehr raushalten sollten. Ist der Westen, ist das Publikum, ist jeder Einzelne von uns zu satt, zu reich, zu sicher? Müssten wir uns mehr engagieren für Europa, für die Demokratie, für den Kongo? Was ist Ihre Botschaft für hier?
    Rau: Es gibt da tatsächlich eine Verantwortung: Das ist Diffusion. Es gibt den Endabnehmer. Es gibt den Grund, warum diese Rohstoffe auf diese Weise abgebaut werden, damit sie hier billig verarbeitet und billig verkauft werden können. Das ist zum Beispiel eine Frage des Preises. Man kann dem Produzenten mehr bezahlen, wenn das Endprodukt, das iPhone, der Computer und so weiter einfach entsprechend mehr kostet oder so viel kostet, wie er eigentlich wert ist.
    Wir produzieren unter jeglichem Preis, der human wäre, und das ist tatsächlich etwas, was in unserer Hand liegt und wo es schon sehr viele, sagen wir mal, Parallelindustrien und so weiter gibt. Es gibt ja Fair Phones, die teurer sind, die auf eine andere Weise produziert werden. Da gibt es schon ein Bewusstsein, das wächst. In der großen Masse ist das aber natürlich nicht angekommen.
    Ich sage es mal ganz einfach: Unsere Demokratie funktioniert, dass jeder ein Handy haben kann. In dem Moment, wo das nicht mehr so ist, wo es teurer wird, gibt es wieder eine Klassengesellschaft. Dann reimportieren wir diese Probleme. Dann haben wir plötzlich wieder Klassenleute, die ein Handy haben und die keins haben. Dann haben wir hier wieder Konflikte. Und diese Konflikte wollen wir aus Europa raushalten, aber sie werden uns einholen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.