Jeder Verlag kennt das Dilemma: man entdeckt den vierten oder fünften Roman eines ausländischen Schriftstellers und steht vor der Frage, ob man die früheren auch noch übersetzen lassen soll. Der Wagenbach Verlag hat sich im Fall des Franzosen Tanguy Viel - nach den guten Kritiken zu seinem Roman "Unverdächtig" - dafür entschieden. Nun also der Roman "Das absolut perfekte Verbrechen", der in Frankreich fünf Jahre vor "Unverdächtig" erschien. In beiden Romanen geht es um den Traum vom großen Geld. Beide spielen an der bretonischen Küste. Beide sind stilistisch und vom Plot her ungewöhnlich versiert und von hoher atmosphärischer Dichte. Und doch spürt man die Entwicklung, die Tanguy Viel in diesen fünf Jahren gemacht hat. "Unverdächtig" - veröffentlicht mit 33 Jahren - wirkt reifer, existentiell tiefgründiger. "Das absolut perfekte Verbrechen" - veröffentlicht mit 28 - ist dafür unterhaltsamer, man könnte auch sagen: burschikos verspielter. Ins Visier nimmt Tanguy Viel die Unterwelt der Hafenstadt Brest.
"Am Anfang stand, glaube ich, das Vorhaben, einen Gangster-Clan zu beschreiben, der einen Überfall macht. Ich fühlte mich wie ein zehnjähriger Junge, der sich mit dem Stoff amüsieren wollte. Natürlich habe ich viele Filme gesehen und die mythologische Materie benutzt, die es bereits gab. Der Roman sollte eine Art Hommage werden. Aber natürlich war ich mir meiner Arbeit bewusst. Und diese Bewusstheit führte dann schon mal an die Grenzen des Parodistischen. Man kann den Roman, denke ich, auch als Parodie lesen."
Parodistische Effekte entstehen schon deshalb, weil Tanguy Viel die im Kino zelebrierten Mafia-Gesten auf Provinz-Niveau herunterschraubt. Pierre, der Ich-Erzähler, und seine Kumpel versuchen sie zwar bis ins Detail nachzuahmen. Doch sind sie eben nur abgehalfterte, überdrüssige, versoffene Unterweltfiguren, die eigentlich nur noch auf den Tod des Onkels, ihres bettlägerigen Bosses, warten. Als der endlich auf dem Friedhof liegt, möchte Pierre aus dem gefährlich gewordenen Geschäft aussteigen: zumal das letzte Raubprojekt irrwitzig erscheint. Für die Silvester-Nacht 1991/92 stand der Einbruch in das Spielcasino von Brest zur Debatte. Marin, der gerade drei Jahre hinter Gittern gesessen hat, will das große Ding jedoch unbedingt drehen. Es soll "das absolut perfekte Verbrechen" werden - und abspringen ist da schon aus Gründen der Familienehre nicht möglich.
"Literarische Ambition ist mit jedem Satz verbunden. Jeder Satz sollte so intensiv sein wie eine Einstellung im Kino. Das Problem des Stils stellte sich also ständig. Denn ich musste Bewegung in die Sätze bringen, in ihre Melodie, in die Art, wie die Elemente des Dekors angeordnet sind, die Handlungsmomente, die Wahrnehmungen. Ich wollte eine Mischung schaffen, der es gelingt, der Bewegung des Kinos nahe zu kommen."
Besonders viel Bewegung gibt es im zweiten Romanteil, der den Überfall auf das Casino beschreibt. Denn hier hat Tanguy Viel die Perspektive gedoppelt. Pierre erzählt das Verbrechen im Rückblick: während der gerichtlichen Nachstellung der Tat. Am Spieltisch hatte er sich nach hohen Verlusten lautstark beim Casino-Direktor beklagt, dass ihm Geld aus der Jackentasche entwendet worden sei:
"Das Ziel des Spiels bestand nun darin, dass er mich hinaufbat, um das unter uns zu regeln, und genau das geschah an dem echten Abend, mit dem echten Direktor, und ein Schauspieler versuchte das jetzt für die Rekonstruktion nachzustellen: das peinliche Berührtsein, die hoch getragene Nase, das pomadisierte Haar, der weiße Anzug, die polierten Schuhe, aber er war nicht glaubwürdig. Ich machte den Richter darauf aufmerksam, wie die Wahrheit uns entglitt, wegen dieses Schauspielers, der gewiss sein Bestes tue, aber man konnte es ihm nicht abnehmen. Ich musste dem Richter erklären, in welcher Sackgasse wir uns verrannten, wenn wir die Szene so nachspielten, dass es ein Spiel mit Strategien, mit Verzögerung, voller präziser innerer Struktur war, eine Uhrmacherarbeit, wenn Sie so wollen, sagte ich zum Richter."
Zur Ironie der Geschichte gehört, dass wir es wirklich mit einem "absolut perfekten Verbrechen" zu tun haben. Nicht mitbedacht hat Pierre jedoch den menschlichen Faktor: das von langer Hand geplante Nachspiel, kurz, den Verrat. Dafür muss er sieben Jahre ins Gefängnis. Zeit genug, die Rache in der Phantasie vorzubereiten.
"Es ist nicht so, dass ich das Reale nicht mag oder ihm in meiner Arbeit keinen hohen Stellenwert einräumen möchte. Doch jedes Mal, wenn ich mich frage, was ich über das Reale schreiben könnte, ergreift mich eine Art Panik. Reine Beschreibung, Realismus sind nicht meine Stärken. Der einzige Ausweg ist jedes Mal, sich vorzustellen, was beim Denken passiert, wie das Gehirn funktioniert, wenn es versucht, das Reale zu betrachten. Und ein Gehirn, das arbeitet, produziert letztlich nicht Reales sondern Mögliches."
Und genau hier liegt der literarische Reiz des Romans "Das absolut perfekte Verbrechen". Nehmen wir zum Beispiel die Szene, als Pierre nach seiner Freilassung den Spitzel verfolgt, der ihn sieben Jahre zuvor verraten hat. Beschrieben wird die Jagd aus der Perspektive seiner Mutmaßungen darüber, wie der Verfolgte wohl reagiert: in welchen Momenten ihn die Angst verstört, welche Fluchtmöglichkeiten er in Erwägung zieht, und wann er glaubt, seinen Verfolger abgehängt zu haben und sich in trügerischer Sicherheit wähnt. Mit anderen Worten: der Verfolgte ist nur selten sichtbar. Die Verfolgung findet vor allem in Pierres Vorstellung statt: bis er seinem Opfer wie aus dem Nichts entgegentreten kann.
"Am Ende des Buches soll man den Eindruck haben, dass der Erzähler endlich von etwas befreit ist: von einer Erinnerung, einer Last, auch von dem Gefühl, von anderen beherrscht worden zu sein. In dieser Hinsicht ist er kein Verlierer: doch nicht etwa, weil er ein guter Gangster ist, sondern weil er seine Geschichte erzählt. Das Aufschreiben seiner Geschichte gestattet es ihm, ein anderes existentielles Niveau zu erreichen."
"Das absolut perfekte Verbrechen". Bei der Lektüre dieses Romans stehen wir als Leser unter ständigem Déjà-vu-Beschuss. Zahllose Kinobilder und -motive werden in atmosphärisch hoher Verdichtung reaktiviert. Der Reiz von Tanguy Viels Prosa liegt dabei darin, dass er sie nicht einfach kopiert, sondern perspektivisch variiert. Es ist jedenfalls kein Wunder, dass seine Romane im Pariser Verlag "Les Éditions de Minuit" erscheinen. Dort stehen noch viele andere stilistisch begabte Autoren unter Vertrag: von Jean Echenoz bis hin zu Eric Laurent. Für Krimi-Liebhaber, die neben raffinierten Plots auch literarische Filigranarbeit schätzen, dürften Tanguy Viels Romane jedenfalls die absolut perfekte Lektüre sein.
Tanguy Viel: Das absolut perfekte Verbrechen
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009, 152 Seiten, 16,90 Euro
"Am Anfang stand, glaube ich, das Vorhaben, einen Gangster-Clan zu beschreiben, der einen Überfall macht. Ich fühlte mich wie ein zehnjähriger Junge, der sich mit dem Stoff amüsieren wollte. Natürlich habe ich viele Filme gesehen und die mythologische Materie benutzt, die es bereits gab. Der Roman sollte eine Art Hommage werden. Aber natürlich war ich mir meiner Arbeit bewusst. Und diese Bewusstheit führte dann schon mal an die Grenzen des Parodistischen. Man kann den Roman, denke ich, auch als Parodie lesen."
Parodistische Effekte entstehen schon deshalb, weil Tanguy Viel die im Kino zelebrierten Mafia-Gesten auf Provinz-Niveau herunterschraubt. Pierre, der Ich-Erzähler, und seine Kumpel versuchen sie zwar bis ins Detail nachzuahmen. Doch sind sie eben nur abgehalfterte, überdrüssige, versoffene Unterweltfiguren, die eigentlich nur noch auf den Tod des Onkels, ihres bettlägerigen Bosses, warten. Als der endlich auf dem Friedhof liegt, möchte Pierre aus dem gefährlich gewordenen Geschäft aussteigen: zumal das letzte Raubprojekt irrwitzig erscheint. Für die Silvester-Nacht 1991/92 stand der Einbruch in das Spielcasino von Brest zur Debatte. Marin, der gerade drei Jahre hinter Gittern gesessen hat, will das große Ding jedoch unbedingt drehen. Es soll "das absolut perfekte Verbrechen" werden - und abspringen ist da schon aus Gründen der Familienehre nicht möglich.
"Literarische Ambition ist mit jedem Satz verbunden. Jeder Satz sollte so intensiv sein wie eine Einstellung im Kino. Das Problem des Stils stellte sich also ständig. Denn ich musste Bewegung in die Sätze bringen, in ihre Melodie, in die Art, wie die Elemente des Dekors angeordnet sind, die Handlungsmomente, die Wahrnehmungen. Ich wollte eine Mischung schaffen, der es gelingt, der Bewegung des Kinos nahe zu kommen."
Besonders viel Bewegung gibt es im zweiten Romanteil, der den Überfall auf das Casino beschreibt. Denn hier hat Tanguy Viel die Perspektive gedoppelt. Pierre erzählt das Verbrechen im Rückblick: während der gerichtlichen Nachstellung der Tat. Am Spieltisch hatte er sich nach hohen Verlusten lautstark beim Casino-Direktor beklagt, dass ihm Geld aus der Jackentasche entwendet worden sei:
"Das Ziel des Spiels bestand nun darin, dass er mich hinaufbat, um das unter uns zu regeln, und genau das geschah an dem echten Abend, mit dem echten Direktor, und ein Schauspieler versuchte das jetzt für die Rekonstruktion nachzustellen: das peinliche Berührtsein, die hoch getragene Nase, das pomadisierte Haar, der weiße Anzug, die polierten Schuhe, aber er war nicht glaubwürdig. Ich machte den Richter darauf aufmerksam, wie die Wahrheit uns entglitt, wegen dieses Schauspielers, der gewiss sein Bestes tue, aber man konnte es ihm nicht abnehmen. Ich musste dem Richter erklären, in welcher Sackgasse wir uns verrannten, wenn wir die Szene so nachspielten, dass es ein Spiel mit Strategien, mit Verzögerung, voller präziser innerer Struktur war, eine Uhrmacherarbeit, wenn Sie so wollen, sagte ich zum Richter."
Zur Ironie der Geschichte gehört, dass wir es wirklich mit einem "absolut perfekten Verbrechen" zu tun haben. Nicht mitbedacht hat Pierre jedoch den menschlichen Faktor: das von langer Hand geplante Nachspiel, kurz, den Verrat. Dafür muss er sieben Jahre ins Gefängnis. Zeit genug, die Rache in der Phantasie vorzubereiten.
"Es ist nicht so, dass ich das Reale nicht mag oder ihm in meiner Arbeit keinen hohen Stellenwert einräumen möchte. Doch jedes Mal, wenn ich mich frage, was ich über das Reale schreiben könnte, ergreift mich eine Art Panik. Reine Beschreibung, Realismus sind nicht meine Stärken. Der einzige Ausweg ist jedes Mal, sich vorzustellen, was beim Denken passiert, wie das Gehirn funktioniert, wenn es versucht, das Reale zu betrachten. Und ein Gehirn, das arbeitet, produziert letztlich nicht Reales sondern Mögliches."
Und genau hier liegt der literarische Reiz des Romans "Das absolut perfekte Verbrechen". Nehmen wir zum Beispiel die Szene, als Pierre nach seiner Freilassung den Spitzel verfolgt, der ihn sieben Jahre zuvor verraten hat. Beschrieben wird die Jagd aus der Perspektive seiner Mutmaßungen darüber, wie der Verfolgte wohl reagiert: in welchen Momenten ihn die Angst verstört, welche Fluchtmöglichkeiten er in Erwägung zieht, und wann er glaubt, seinen Verfolger abgehängt zu haben und sich in trügerischer Sicherheit wähnt. Mit anderen Worten: der Verfolgte ist nur selten sichtbar. Die Verfolgung findet vor allem in Pierres Vorstellung statt: bis er seinem Opfer wie aus dem Nichts entgegentreten kann.
"Am Ende des Buches soll man den Eindruck haben, dass der Erzähler endlich von etwas befreit ist: von einer Erinnerung, einer Last, auch von dem Gefühl, von anderen beherrscht worden zu sein. In dieser Hinsicht ist er kein Verlierer: doch nicht etwa, weil er ein guter Gangster ist, sondern weil er seine Geschichte erzählt. Das Aufschreiben seiner Geschichte gestattet es ihm, ein anderes existentielles Niveau zu erreichen."
"Das absolut perfekte Verbrechen". Bei der Lektüre dieses Romans stehen wir als Leser unter ständigem Déjà-vu-Beschuss. Zahllose Kinobilder und -motive werden in atmosphärisch hoher Verdichtung reaktiviert. Der Reiz von Tanguy Viels Prosa liegt dabei darin, dass er sie nicht einfach kopiert, sondern perspektivisch variiert. Es ist jedenfalls kein Wunder, dass seine Romane im Pariser Verlag "Les Éditions de Minuit" erscheinen. Dort stehen noch viele andere stilistisch begabte Autoren unter Vertrag: von Jean Echenoz bis hin zu Eric Laurent. Für Krimi-Liebhaber, die neben raffinierten Plots auch literarische Filigranarbeit schätzen, dürften Tanguy Viels Romane jedenfalls die absolut perfekte Lektüre sein.
Tanguy Viel: Das absolut perfekte Verbrechen
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009, 152 Seiten, 16,90 Euro