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Reine Glaubenssache?

Das bislang erfolgreichste Theaterstück des 1971 in Thun geborenen Schweizer Autors Lukas Bärfuss trägt einen ebenso viel versprechenden wie irre führenden Titel – "Die sexuellen Neurosen unserer Eltern". Landauf-landab spielen die Theater diese krude Story von der Selbstfindung eines psychisch gestörten Mädchens, von dessen Eltern (und deren sexuellen Neurosen) wir nur als Echo in den Lebens-um-wegen des Kindes etwas erfahren. Dieser Autor verwirrt gern – "Der Bus" heißt das jüngste Stück, das er für das Hamburger Thalia Theater geschrieben hat. Dort ist es nun uraufgeführt worden.

Von Michael Laages |
    Kaum zu glauben: dass da eine glaubt. Rückhaltlos und hingegeben scheint sie sogar auf Wunder zu hoffen – das Mädchen Erika hat, wie sie sagt, "eine Liebesgeschichte mit Gott"; und von ihm erhielt sie den dringenden Auftrag, ins polnische Tschenstochau zu reisen, um dort die "Schwarze Madonna" anzubeten. Doch nun sitzt Erika, im übertragenen wie im wörtlichen Sinne, im völlig falschen Bus.

    Die Menschen, denen sie im klapprigen Uralt-Gefährt des Reiseleiters namens Hermann begegnet, würden statt an irgendein höheres Wesen allemal eher an die Wahrheit der Börsenwerte glauben. Auch derlei irdische Verheißungen allerdings könnten diesen Todgeweihten nichts mehr nützen, Erlösung von vielerlei privatem Elend ist ihr wahres Ziel. Und so fahren sie denn auch zu einer sehr speziellen Kur - sie haben Hermann beauftragt, den Bus (den Hermann –wie unter Truckern üblich- auch "Hermann" taufte) irgendwann und irgendwo in irgendeine tiefe, tödliche Schlucht stürzen zu lassen. So finster die abgründige Fabel, so abgründig hell scheint in ihr die erleuchtete Erika zu strahlen – "Das Zeug einer Heiligen" billigt der Schweizer Autor Lukas Bärfuss dieser wie aus der Zeit gefallenen Erscheinung zu im neuen Stück "Der Bus", das als Auftrag des Hamburger Thalia Theaters entstand und dort von Stephan Kimmig uraufgeführt worden ist.

    Keiner der sinnentleerten Zeitgenossen im Bus der lebenden Toten erträgt die Herausforderung, die in der Wiederkehr der großen Gewissheit liegt, dass da ein Gott ist, der hilft – bestenfalls den blutigen, den rächenden Erlöser können sie sich noch vorstellen. Erika aber sagt: Kniet hin vor dem Herrn und lasst ihn in Euer Herz; dann wird alles gut! Und obwohl nie ganz klar ist, ob ihr wirklich zu glauben wäre, ist die Kraft erstaunlich, die von ihr ausgeht: Hermann jedenfalls, diesen rabiaten Dienstleister, der sie zu Beginn aus dem Bus wirft, ihr eine Hand bricht und sogar das Grab aushebt, in dem die Bus-Crew die Schwarzfahrerin final entsorgen will, diesen Raubauz kriegt Erika rum. Im beunruhigendsten Augenblick hockt Hermann, von Erleuchtung umflort, im gleißenden Licht - und weiß nicht, wie ihm geschieht.

    Da aber scheint den Autor (und in jedem Fall den Regisseur!) mit einem Schlage und aus schwer erfindlichen Gründen aller Mut verlassen zu haben. Denn nun folgt eine eher alberne Love-Story zwischen der flüchtenden Erika und einem eremitischen Hippie-Tankwart, der als versoffener Öko-Desperado am liebsten Raps-Diesel verkauft. Dank zahlreicher Schnäpse aus dem Benzinkanister ist die sonderbare Heilige fast bereit, diesen Schrat zu ehelichen – gelangt dann aber schließlich doch nach Tschenstochau und erklärt dort Hobby-Pilgerinnen, wo es die besten Heiligenbildchen gibt. Dass sie im Text ausführlich gegen schwarzafrikanische Ikonen-Fälscher und böse Islamisten hetzt, unterschlägt die Uraufführung wohlweislich. Aber warum nur?

    So dicht ist doch dieser Text einem der wichtigsten Forschungsgegenstände gegenwärtiger Gesellschaften auf der Spur: mit der Frage, ob Glauben auch uns wieder nützen könnte; und wenn ja, wozu – angesichts der massiven Religionsbehauptungen, die aus anderen Religionen mit fundamentaler und zuweilen terroristischer Unvorhersehbarkeit und Härte auf uns ein stürzen. Theater reagiert darauf doch noch viel zu selten, die Berliner Volksbühne tat es vor Jahren, die Münchner Kammerspiele tun es jetzt; im günstigsten Fall entdeckt sogar mal ein Theater (wie gerade das kleine Berliner Maxim-Gorki mit dem "Wundermädchen von Berlin") einen alten Text wieder, der schon zu Zeiten des Ersten Weltkriegs von der beunruhigenden Kraft des Glaubens erzählt wie Bärfuss jetzt. Die ganze Stärke aber und alle Beunruhigung, die im "Bus" versammelt ist, ließe sich doch erst in einer Aufführung entwickeln, die den Exzess des Fundamentalismus zulässt, der hier auf Schritt und Tritt und Szene um Szene lauert. Abermals schreibt Bärfuss radikal knappe Szenen, oft nur wenige Wortwechsel lang – als Blitz-Gewitter schmerzhafter Momente könnten sie durchaus auf das Publikum herein brechen. Diesem Motiv des Autors folgt die Hamburger Uraufführung dezidiert nicht; noch die Bühne von Katja Hass, abstrakt wie die Außenhaut eines gestrandeten "Raumschiffs Orion", wird nie zum Alptraum-Raum, der dieser Wald der finstren Geister doch sein könnte.

    So bleibt denn die Hamburger Reise im "Bus" eher launig; und auch dem Thalia-Star Fritzi Haberlandt ist das nötige Leuchten eher fern. Einzig Werner Wölbern als letztlich bekehrter Busfahrer kommt den Zerrissenheiten nahe, die der Text doch zwingend einfordert. Er ist auch komisch – doch eben vor allem ein Spiel vom Fragen nach den Fundamenten, die uns bleiben. Und dem Fundamentalismus, der darauf baut – weitere Versuche folgen; nächsten Donnerstag schon am Berner Stadttheater.