Es waren diese mit schwach verbrämten Ideologien erzogenen, ehrgeizig-aggressiven jungen Männer, die täglich mit den Geldern von Millionen anderer Leute ihre Macht- und Renommierspiele trieben. Zweifellos geht es in der Wall Street um Erfolg im Börsenspiel, aber bei der Betrachtung der großen Spiele der vergangenen Dekaden, der Hypothekenblase und der Sparkassenplünderung der achtziger, den feindlichen Übernahmen und der Internetblase der neunziger Jahre, festigt sich der Eindruck, dass das eigentliche Vergnügen der Wall-Street-Banker erst bei der Auslotung der Grenzen des Spiels beginnt, bis hin zu bewusster Regeldurchbrechung. Diejenigen, die neue Grenzen entdecken oder auch über sie hinausschießen und dabei neue Gewinnquellen erschließen, sind die wahren Pioniere und die wahren Helden der Wall Street: Sie werden gefeiert, und ihren kreativen Innovationen huldigt die Wall Street so lange, wie die Erfolge anhalten.
Die "kreativen Innovationen", das waren zuerst die Raubzüge der "raiders", der Firmenpiraten, die große Aktienpakete aufkaufen, um so in den Besitz ganzer Unternehmen zu kommen. Diese Gesellschaften wurden gnadenlos "filetiert", gewinnbringende Betriebsteile profitabel veräußert und der Rest stillgelegt. Was in den Achtzigern als anrüchige Praxis begonnen hatte, wurde spätestens mit Anfang der Neunziger zum lukrativen Geschäft seriöser Investmentbanken: Die Deregulierung unter Präsident Reagan erlaubte nicht nur fristlose Massenentlassungen, sondern machte vor allem die Anti-Trust-Gesetze rückgängig. Der "Fusionitis" waren keine Grenzen mehr gesetzt. Analysten prognostizierten in teuer bezahlten Gutachten "Synergieeffekte", Banker verdienten Milliarden mit der Finanzierung von Firmen-Übernahmen, die sich im günstigsten Falle als Klotz am Bein, meist aber als Ursache verheerender Verluste herausstellten. Das Energieunternehmen Enron dagegen perfektionierte mit der Übernahme von Konkurrenten und der Gründung von Scheinfirmen ein System der Schuldenverschiebung, das jahrelang die Bilanz des Mutterkonzerns im Glanz unerwarteter Gewinne erstrahlen ließ. Dividenden wurden selbstverständlich nicht gezahlt, denn mit dem Pochen auf "shareholder value" dachten Finanzjongleure an der Wall Street und mit ihnen die Manager nur noch an das Eine: den möglichst schnellen Anstieg der Aktienkurse. Dieser einzige und angeblich wahre Erfolgsindikator aber ließ sich wunderbar manipulieren, manchmal kriminell mit getürkten Großaufträgen oder in den meisten Fällen ganz legal über Kredite. Und genau da blitzt bei Blomert die Einsicht auf, dass ein entscheidender Grund für den neuerlichen Wandel des Kapitalismus das veränderte Kräfteverhältnis zwischen "Finanzbranche und produktiven Unternehmen" sei. Nicht nur der "heiße Atem junger Analysten und Finanzjournalisten" sondern vor allem die anonyme und permanente Drohung einer feindlichen Übernahme sitze den Firmenchefs im Nacken und zwinge sie zu kurzfristigen Erfolgen. Diese Analyse klingt schon substanzieller als moralgetränkte Brandreden wider "Habgier und Eigeninteresse". Letztere gelte es nur einzugrenzen, damit – so der von Blomert zitierte Politologe John Ruggie – der Kapitalismus "funktioniert". Da nämlich meint man herauszuhören, dass eine Weltwirtschaft ganz ohne Krisen möglich sei. Vielleicht mit jener "Normalität", der Robert Merton mit mathematischen Modellen und einer 20 Millionen Dollar teuren Computer-Ausstattung nachjagte? Sein Risiko-Fond LTCM registrierte jede "Abweichung" auf den Weltmärkten, investierte bei einem Eigenkapital von "nur" vier Milliarden über sagenhafte Kredithebel eine Billion Dollar in Erwartung einer langfristigen Rückkehr zur "Normalität" – und war binnen kurzem pleite:
Die bisherige Finanztheorie erklärte Merton zu einer Disziplin, die ihre deskriptive Phase noch nicht hinter sich gelassen habe und nicht viel mehr geliefert habe als eine Sammlung von Anekdoten, vermischt mit Daten aus der Geschichte der Buchhaltung. Als Merton 1997 den Nobelpreis für Ökonomie erhielt, lobte der Economist den Preisträger: Er habe aus einem Ratespiel eine Wissenschaft gemacht. Mertons Innovation war die dynamische Hegung von Portfoliorisiken.
Der merkwürdige Doppelsinn des Wortes "Hegung" – eine Abgrenzung durch Gesetzesschranken bei gleichzeitiger "Pflege" der Spekulationsrisiken – böte den Ansatz für tiefergehende Erkenntnisse, aber Blomert kapriziert sich auf die schillernde Oberfläche, auf illustre Namen. Kaum einer der mittlerweile üblichen Verdächtigen fehlt. Vom "unabhängigen Analysten" Benjamin Grubman, der laut Untersuchungsausschuss weder unabhängig war noch zu analysieren verstand, bis zur Enron-Managerin Rebecca Mark, die für mehrere Millionen Dollar Jahresgehalt völlig überflüssige Wasser- und Kraftwerksprojekte planen ließ, reicht die lange, mit durchaus überzeugenden Indizien gespickte Liste der Angeklagten. Viele von ihnen sind längst verurteilt. Von Blomert werden sie noch einmal kräftig abgekanzelt, ein wenig in der Art von Rudolph Giuliani, dem als New Yorker Staatsanwalt bereits 1989 weniger der Sinn nach juristischem Prozess und forensischer Aufklärung als nach moralischer Selbstreinigung stand:
Die Handlungen dieser Leute sind nicht einfach mit Geldgier zu erklären. Sie haben mehr, als sie in ihrem Leben jemals ausgeben können. Ab einem bestimmten Punkt wird ihnen Verbrechen zur Gewohnheit, das Motiv ist die Sucht nach Glanz und Ruhm.
Jemand wie der Währungsspekulant George Soros, der nur im richtigen Sinne, etwa als Mäzen im Neuen Europa "stiften geht", entkommt diesem Verdikt. Für Blomert dürfte Soros, der so manche demokratisch gewählte Regierung ins Wanken brachte, ein Exponent des besseren, nach "rheinischem" Vorbild kooperativ und leicht paternalistisch organisierten Kapitalismus sein. Diese "aufgeklärte" Marktwirtschaft wird, folgt man dem programmatischen Manifest des Schlusskapitels, in Europa auferstehen wie ein Phoenix aus der Asche, aus dem kümmerlichen Rest der zuhauf "verbrannten" Milliardengewinne einer "New Economy". Die Frage, ob nicht viele der so sensationell angeprangerten Finanzierungs- und Bilanzierungstricks, aber auch so manch skandalöse Strategie in Sachen "shareholder value" längst in die alltäglichen Praxis eines ganz gewöhnlichen Kapitalismus abgesunken sind, scheint Blomert nicht weiter von Belang. Bliebe also nur noch zu klären, warum nicht die als Deregulierer verteufelten konservativen Politiker Thatcher und Reagan, sondern ihre sozial-demokratischen Nachfolger Blair und Clinton weitaus besser "funktionierten", das Große Aktienspiel aktiver unterstützten als ihre ideologisch verbohrten Vorgänger. Der "bessere" Kapitalismus rückt nach der Krise vielleicht näher, aber eine Frage der Ehre oder gar der Ethik ist er ganz bestimmt nicht.
’Die Habgierigen; Firmenpiraten, Börsenmanipulation: Kapitalismus außer Kontrolle’, von Reinhard Blomert, erschienen im Verlag Antje Kunstmann. Das Buch hat 198 Seiten und kostet 17.90 Euro.