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Reinhard Blomert: Intellektuelle im Aufbruch

Das Heidelberger "Institut für Sozial- und Staatswissenschaften", zu Zeiten der frühen Weimarer Republik gegründet, ist heute nur noch Kennern der Geschichte der Soziologie ein Begriff, obwohl so berühmte Wissenschaftler wie Alfred Weber, Karl Mannheim oder Norbert Elias dort arbeiteten. Die erste umfangreiche jetzt erschienene Studie über dieses wissenschaftliche Projekt fragt sich im Vorwort, warum das so ist. Autor Reinhard Blomert kommt zu drei Antworten, zunächst sei die Tradition dieses Instituts durch den Nationalsozialismus unterbrochen worden, darüber hinaus habe Alfred Webers Bruder Max als Repräsentant der Heidelberger Soziologie eine besondere Dominanz erlangt, und zum dritten habe nach dem Zweiten Weltkrieg die Rückkehr des Frankfurter Instituts für Sozialforschung aus dem Exil und die hohe moralische Reputation der Zurückgekehrten die "innere Emigration" entwertet und sie einem Verdrängungsprozess unterworfen. Blomerts Studie "Intellektuelle im Aufbruch" versucht die Heidelberger interdisziplinäre Forschung der Zeit zwischen den Kriegen neu zu bewerten. Bernd Leineweber rezensiert sein Buch für uns:

Bernd Leineweber |
    Seit einiger Zeit lässt sich ein wachsender Bedarf an vorzeigbaren liberalen und demokratischen Traditionen in Deutschland beobachten, ein Bedürfnis vielleicht nach "Aufarbeitung" der deutschen Geschichte in einer ganz anderen Art als derjenigen, die durch die jüngere Vergangenheit immer noch aufgegeben ist. Die Jubiläen vor zwei Jahren zur achtundvierziger Revolution und letztes Jahr zu Goethe wurden mit einem Aufwand inszeniert, der ein Engagement für Erinnerung erkennen ließ, das etwa im Zusammenhang mit dem geplanten Holocaust-Mahnmal eher dürftig erscheint.

    Aber nicht nur Jahresfeiern, Ausstellungen und Museumsgründungen dokumentieren dieses geschichtliche Kontinuitätsbedürfnis, das die kulturelle Einheit Europas bzw. die sogenannte westliche Wertegemeinschaft unter Einschluss Deutschlands nach hinten zu schieben erlaubt, sondern auch die Geschichtswissenschaft selbst. Ein Beispiel dafür ist die wissenschaftsgeschichtliche Arbeit des Berliner Sozialwissenschaftlers Reinhard Blomert über die Heidelberger Sozialwissenschaften in der Weimarer Republik. Mit ihr soll, wie es im Klappentext des Buches heißt, "ein Kapitel deutscher Ideengeschichte in Erinnerung" gerufen werden, "das in Vergessenheit zu geraten drohte, aber gerade als Gegenentwurf zum linken und rechten Totalitarismus seiner Zeit neu entdeckt werden muss".

    Mit diesem umfangreichen Werk über das 1924 auf Betreiben von Alfred Weber in "Institut für Sozial- und Staatswissenschaften" umbenannte volkswirtschaftliche Seminar der Universität Heidelberg, an dem neben Alfred Weber so namhafte Wissenschaftler wie Emil Lederer, Karl Mannheim, Arnold Bergstraesser, Ernst Robert Curtius und Norbert Elias arbeiteten, liegt erstmals eine ausführliche Gesamtdarstellung des neben dem Kölner Institut für Sozialwissenschaften und dem Frankfurter Institut für Sozialforschung bedeutendsten sozialwissenschaftlichen Instituts der Weimarer Zeit vor.

    Mit seiner reich dokumentierten und sorgfältig recherchierten Arbeit hat Blomert eine Lücke geschlossen, zumal etwa zur Geschichte des Frankfurter Instituts seit langem mehrere Studien vorliegen und jüngst zwei neue erschienen sind. Auf dieses Institut nimmt Blomert mit einem spürbaren wissenschaftspolitischen Konkurrenzdenken Bezug, um zu erklären, warum das Heidelberger Institut nach dem Krieg nicht wieder zu Bedeutung gelangt ist:

    "Als in den fünfziger Jahren mit der Rückkehr des Frankfurter Instituts für Sozialforschung ein anderer ganzheitlicher Ansatz auftrat, der auf einer marxistisch gefärbten Grundlage das Bedürfnis nach einer einheitlichen Welterklärung abdeckte, konnte sich eine Heidelberger Soziologie-Tradition trotz einer großen Zahl von Schülerinnen und Schülern Alfred Webers nicht länger halten. Als rückkehrende Emigranten erwarben sich die Frankfurter im Bildungsbürgertum und in der Studentengeneration der sechziger Jahre die Reputation einer hoch angesiedelten moralischen Instanz, die die Position der inneren Emigration entwertete und einem Verdrängungsprozess unterwarf."

    Offenbar ist Blomert der Ansicht, dass die Frankfurter ihren Ruf nicht ihren wissenschaftlichen Leistungen - denn was soll eine "einheitliche Welterklärung" schon sein -, sondern dem moralischen Bonus verdankten, den sie als Emigranten hatten. Demgegenüber standen diejenigen, die wie Alfred Weber die NS-Zeit in Deutschland unter Verlust ihrer Ämter und Funktionen überstanden hatten, als Opfer da. Blomert scheint nicht auf den Gedanken gekommen zu sein, dass eine Kultursoziologie wie die von Alfred Weber auf die drängenden Fragen der Nachkriegszeit keine Antworten zu geben hatte, obwohl er selbst schreibt:

    "Die Wertewelt der zwanziger Jahre wirkt auf uns nach dem Zeitenbruch von 1933 bis 1945 fremd, die Rede vom 'Geist' und der 'Idee' einer Sache ist unverständlich und unzugänglich geworden. Nur noch in politischen Sonntagsreden finden wir die 'Idee der Universität' oder den 'Geist der Wissenschaft' beschworen. Schon den Schülern von Alfred Weber aus der zweiten Nachkriegsperiode fiel es schwer, Webers Schriften zu lesen: Wollten sie ihren verehrten Lehrer verstehen, mussten sie sich die Grundlagen der pantheistischen Goethereligion des klassischen Bürgertums erst mühevoll neu erschließen."

    Die Unverständlichkeit, von der Blomert hier spricht, geht zum Teil allerdings auf das Konto seiner eigenen mühevollen Erschließung, nicht nur was den Pantheismus betrifft. Sondern indem er mit der etwas schlichten Unterscheidung von Ernst Cassirer zwischen "substantialistischem" und "funktionalistischem" Denken Ordnung in die verschiedenen gesellschafts- und kulturtheoretischen Ansätze am Heidelberger Institut zu bringen versucht, sind diese manchmal nicht wiederzuerkennen. Was die Sozialwissenschaften nach dem Krieg anging, so war es nicht ihre Verständlichkeit, sondern die Art und Weise, wie sie sich der Katastrophe stellten, die über ihre Akzeptanz entschied. Die Frankfurter haben im übrigen nicht erst nach der NS-Zeit, sondern spätestens seit der Übernahme des Instituts durch Horkheimer im Jahr 1931 ihre Forschungen mit allem Nachdruck den gesellschaftlichen Ursachen des "nicht geglückten Epochenwandels" gewidmet, der nach Blomert auch im wissenschaftlichen Bereich "die Kämpfe der Zwischenkriegszeit kennzeichnete". Dieses Fragen nach den langfristigen gesellschaftlichen, tief in der deutschen Kultur begründeten und nicht nur politischen und wirtschaftspolitischen Ursachen des Versagens der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Machtergreifung war es, das die Attraktivität dieses Instituts in der frühen Bundesrepublik ausmachte.

    Demgegenüber war am alten Heidelberger Institut, das freilich kein reines Forschungsinstitut, sondern als Universitätsinstitut weniger einheitlich organisiert war, der Gestus des Neuanfangs vorherrschend, des "Aufbruchs", wie Blomert im Titel seines Buches sagt. In einem liberalen Geist wurde die nach Max Webers Tod von Emil Lederer am Institut herausgegebene Zeitschrift Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik von einem stark deutschnational ausgerichteten Wissenschaftsorgan zu einem weltoffenen Diskussionsforum verändert, ein den modernen Verhältnissen entsprechendes Institut für Zeitungswesen gegründet, es wurden Forschungsmittel von der Rockefeller-Stiftung angeworben, was zu einer Internationalisierung der Forschung beitrug, und im Heidelberger Institut wurde der Deutsche Akademische Austauschdienst gegründet, was dem gleichen Zweck diente. Vor allem auch von Alfred Weber selbst wurden der europäische Gedanke und eine Politik der Aussöhnung mit Frankreich gefördert. In demselben liberalen und versöhnlichen Geist wurden die wissenschaftlichen Diskussionen unter Zulassung aller politischen Standpunkte geführt, solange keine Parteipolitik im Hörsaal betrieben wurde. Als Forum für politische Meinungsäußerungen wurden soziologische Diskussionsabende mit Studenten eingerichtet.

    Aber dieser im Heidelberger Institut neu geschaffene und bewusst gepflegte liberale Geist der Verständigung und Toleranz, des Ausgleichs und der Aussöhnung, den Blomert hervorhebt und der zurecht der Erinnerung wert ist, hatte doch seine Grenzen. Ein Menschen- und Gesellschaftsbild im Sinne des westlichen Liberalismus, seiner individualistischen und pluralistischen Grundwerte, seines Demokratieverständnisses und seiner Staatsauffassung wurde von kaum einem Mitarbeiter des Instituts vertreten. Im Gegenteil, Alfred Weber und die Mehrheit seiner Mitarbeiter blieben einem deutschen Sonderweg nach Art des Gegensatzes zwischen deutscher Kultur und westlicher Zivilisation treu. Auch hielt Alfred Weber an der Idee eines spezifisch deutschen, antirationalistischen und antibürokratischen Demokratie- und Staatsverständnisses fest, dessen wesentlicher Grundzug nicht die demokratische Wahl der Regierenden ist, sondern ein Gefolgschaftsverhältnis zwischen Führern und Geführten. Diese Idee teilte er mit seinem Bruder Max, wenn er auch den Akzent mehr auf die kulturell-geistige Übereinstimmung zwischen der mit Führungsaufgaben betrauten Elite des Volkes und den Führenden setzte, während Max Weber eher auf Legitimation durch charismatische Führungsqualitäten setzte.

    Diese dezidierte Ablehnung des westlichen Liberalismus, die in dieser Form freilich nicht von allen Vertretern des Instituts geteilt wurde, schon gar nicht von Karl Mannheim und Norbert Elias, wird auch von Blomert anerkannt. Aber in seinem Bestreben, das Heidelberger Institut als privilegierten Rahmen für die Entstehung moderner, noch heute anerkannter Forschungsansätze wie der von Karl Mannheim begründeten Wissenssoziologie und vor allem der historischen Soziologie von Norbert Elias darzustellen, gelangt er zu einer eigenartigen Konstruktion der Geschichte der Weimarer Republik: er konstruiert diese Geschichte unter dem Aspekt des "Aufbruchs", der über die NS-Zeit hinausweist, nicht des "Zusammenbruchs", der die NS-Herrschaft möglich gemacht hat. Damit erklärt sich auch die merkwürdige Kategorienwahl für den Untersuchungszeitraum, der im Untertitel des Buches als "Zwischenkriegszeit" bezeichnet wird, obwohl die Zeit nach 1933 in die Untersuchung gar nicht einbezogen ist. Wenn Blomert im Hinblick auf die Jahre 1933 bis 1945 noch merkwürdiger von einem "Zeitenbruch" spricht, wie wir in dem obigen Zitat gehört haben, dann drängt sich der Eindruck auf, dass hier eine bestimmte Geschichtspolitik betrieben wird: geführt von so dürren chronologischen Kategorien wie "Zwischenkriegszeit" und "Zeitenbruch", soll sich das historische Bewusstsein durch die NS-Zeit gleichsam nicht weiter aufhalten lassen, sondern sich auf die Fortsetzung des Aufbruchs hinein in die Geschichte der Bundesrepublik konzentrieren. Diese Geschichte wiederum versteht Blomert im wesentlichen als eine Geschichte der "Verwestlichung":

    "Vertreibung und Zerstörung der Lebensgrundlagen der kulturellen Elite 1933, propagandistische Feldzüge gegen Intellektualismus und Kritik im Nationalsozialismus hatten den Entfaltungsraum für das Sonderbewusstsein einer Bildungsschicht zurückgeschnitten und nahezu vernichtet. Doch der Bruch mit dieser Wertewelt konnte nicht rückgängig gemacht werden, Bildung und Kultur waren nicht mehr als eigenständige Werte oberhalb der Welt der Zivilisation und Gesellschaft zu erhalten, als die nach 1945 einsetzende Verwestlichung das Ranggefüge der gesellschaftlichen Werte erneut veränderte."

    Auf die - wenn auch unbewusste und ungewollte - Mitwirkung des "Sonderbewusstseins" dieser prototypisch von Alfred Weber verkörperten Bildungsschicht an ihrer eigenen Vernichtung kommt Blomert nicht zu sprechen. Wieder einmal bleibt der Nationalsozialismus das Namenlose und Unbekannte und seine Zeit ein geschichtlich weißer Fleck, ein "Zeitenbruch" eben. Damit reproduziert Blomert auf eigentümliche Weise das namenlose Unverständnis, das viele Angehörige dieser Bildungsschicht ihrer Vernichtung durch den Nationalsozialismus selbst entgegenbrachten. Die "innere Emigration" rivalisierte mit dem Opferstatus der äußeren Emigration, viele reklamierten liberale Positionen, deretwegen sie verfolgt wurden, und machten sich blind für die Tatsache, dass sie selbst in den Prozess verstrickt waren, der zum Untergang führte. Nur indem er diese Tatsache außer acht lässt und die Heidelberger Sozialwissenschaften nur von ihrem Anfang und nicht auch von ihrem Ende her diskutiert, gelingt es Blomert, eine liberale Tradition in der ersten deutschen Republik zu konstruieren, auf die sich die zweite deutsche Republik berufen kann.

    Reinhard Blomert: Intellektuelle im Aufbruch, Karl Mannheim, Alfred Weber, Norbert Elias und die Heidelberger Sozialwissenschaften der Zwischenkriegszeit". Erschienen ist der 466seitige Band im Hanser Verlag und kostet 49.80 DM.