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Reinhard Grimmer u.a. (Hrsg.): Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS. Verlag das Neue Berlin

Es ist interessant, sich vorzustellen, unsere nächste Neuerscheinung wäre gar keine, sondern schon vor ungefähr 10 Jahren veröffentlicht worden. Vermutlich wäre ein Sturm der Entrüstung durch das gerade wiedervereinigte Land gebraust. Warum sich heute ehemalige hochrangige Stasi-Kader bemüßigt fühlen, den zahllosen analytischen Arbeiten über das MfS nun noch eine weitere umfangreiche Abhandlung sozusagen aus der Täterperspektive hinzuzufügen, darüber kann man nur spekulieren. Karl Wilhelm Fricke sagt Ihnen, ob das zweibändige Werk Neues bringt und ob es seinem selbstgestellten wissenschaftlichem Anspruch gerecht wird.

Karl Wilhelm Fricke | 27.05.2002
    Es ist interessant, sich vorzustellen, unsere nächste Neuerscheinung wäre gar keine, sondern schon vor ungefähr 10 Jahren veröffentlicht worden. Vermutlich wäre ein Sturm der Entrüstung durch das gerade wiedervereinigte Land gebraust. Warum sich heute ehemalige hochrangige Stasi-Kader bemüßigt fühlen, den zahllosen analytischen Arbeiten über das MfS nun noch eine weitere umfangreiche Abhandlung sozusagen aus der Täterperspektive hinzuzufügen, darüber kann man nur spekulieren. Karl Wilhelm Fricke sagt Ihnen, ob das zweibändige Werk Neues bringt und ob es seinem selbstgestellten wissenschaftlichem Anspruch gerecht wird.

    Ein zwei Bände umfassendes, voluminöses Werk über die so genannte Abwehrarbeit des MfS, verfasst von zwanzig ehemaligen Stasi-Nomenklaturkadern, von elf Generälen, fünf Obersten und vier Oberstleutnants - das macht allemal neugierig und gespannt. Wer sich durch die 1.248 Druckseiten quält – der hölzerne Stil macht die Lektüre in der Tat zur Qual -, der ist am Ende enttäuscht.– auch wenn Peter-Michael Diestel, letzter DDR-Innenminister, heute Rechtsanwalt, in einem als Plädoyer aufgeschminkten, höchst provokativen Vorwort behauptet:

    "An keiner Stelle des Buches ist zu erkennen, dass sich die Autoren für ihr Tun, Handeln und Unterlassen, für das jahrelange Wirken des östlichen Geheimdienstes rechtfertigen wollen."

    Wer das schreibt, kann das Konvolut nicht gelesen haben, denn abgesehen davon, dass die DDR-Staatssicherheit kein Geheimdienst, sondern eine Geheimpolizei war, ist es genau umgekehrt. Die Stasi-Selbstdarstellung ist Selbstverklärung und Selbstrechtfertigung zugleich, Apologetik pur sozusagen. Das war freilich zu erwarten. Allein die vier Herausgeber - zugleich Koautoren - garantieren schon jene Parteilichkeit, die zu SED-Zeiten in pseudo-wissenschaftlichen Werken gang und gäbe war. Sie sind sich treu geblieben – die Herausgeber Reinhard Grimmer, ehemals Oberst in der ZAIG – der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe im MfS -, Werner Irmler, einst Generalleutnant und Chef der ZAIG, ferner Willi Opitz, zuletzt Generalmajor und Rektor der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam-Eiche, sowie Wolfgang Schwanitz, ehedem Stellvertreter des Ministers im Rang eines Generalleutnants und ein paar Wochen lang Chef des Amtes für Nationale Sicherheit, der kurzfristigen Nachfolgeorganisation des MfS unter der Regierung Hans Modrow. Jeder von ihnen schmückt sich übrigens mit einem Doktortitel, erworben auf der Basis wissenschaftlich fragwürdiger Kollektiv-Dissertationen an der Potsdamer Kaderschmiede, woraus sich wohl auch erklärt, dass sich ihr Werk über weite Strecken wie Studienmaterial der einstigen Stasi-Hochschule liest. Mit seiner Kernthese will das Werk dem MfS im Nachhinein den Schein der Rechtsstaatlichkeit verleihen:

    "Das MfS war ein Organ des Ministerrates, ein Schutz-, Sicherheits- und Rechtspflegeorgan der DDR unter Führung der SED. Seine Entstehung und sein Wirken vollzogen sich im Rahmen der Staats- und Rechtsordnung der DDR."

    In Wirklichkeit wurden Staat und Recht in der DDR prinzipiell als Herrschaftsinstrumente der SED definiert – folglich auch das MfS, das "Schild und Schwert der Partei" sein sollte, Partei-Geheimpolizei zur Durchsetzung und Sicherung des kommunistischen Machtanspruchs. Erich Mielke hat das als Minister für Staatssicherheit hundertmal beschworen – zuletzt 1985:

    "Die Macht der Arbeiterklasse ist das Allerwichtigste. Danach haben wir immer gehandelt – und so wird das auch in Zukunft sein. Die zielklare Führung durch die Partei der Arbeiterklasse ist die entscheidende Grundlage aller unserer Erfolge in der 35jährigen Entwicklung des Ministeriums für Staatssicherheit zu einem im Volke fest verwurzelten, vom Klassenfeind gehassten kampfstarken Organ der Diktatur des Proletariats."

    Von Bindung an das Gesetz und rechtsstaatlicher Kontrolle war das MfS meilenweit entfernt. Das Sammelwerk vereinigt in sich neunzehn Kapitel, zumeist von zwei oder mehr Autoren gemeinsam verfasst. Thematisch spannt sich der Bogen von grundsätzlich angelegten Erklärungsversuchen zum Scheitern des MfS in der Endzeit der DDR oder zur Sicherheitspolitik der SED bis zu fachspezifischen Fragestellungen, die aus den Arbeitsfeldern der wichtigsten Hauptabteilungen und selbständigen Abteilungen im Apparat des MfS abgeleitet werden.

    "Hauptaufgaben und Methoden der Abwehr" "Die Zusammenarbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern" "Operative Ermittlung und Beobachtung" "Zur Spionageabwehr" "Funkelektronische Abwehr und Aufklärung" "Zur Sicherung der politischen Grundlagen der DDR" "Gegen das Verlassen der DDR, gegen Menschenhandel und Bandenkriminalität" "Abwehr von Terror und anderen Gewaltakten" "Zur Militärabwehr" "Die Untersuchungsorgane des MfS" "Der Untersuchungshaftvollzug des MfS".

    So die Überschriften der hauptsächlichen Kapitel, deren Informationsgehalt minimal ist, gemessen jedenfalls an ungezählten Büchern, die seit 1990 über die Staatssicherheit gedruckt worden sind. Namentlich die wissenschaftlichen Publikationen der Forschungsabteilung der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen sind ergiebiger. Nicht zufällig beziehen sich selbst die Autoren des Sammelwerkes häufig auf sie als Quellen. Insoweit können sie also gar nichts Neues bieten. Allenfalls einige originale Details aus ihrem Insider-Wissen sind interessant – das Eingeständnis etwa, dass Erich Honecker selber gelegentlich durch "zentrale Weisung" in operative Entscheidungen der Staatssicherheit eingegriffen hat. Den Anspruch, ein wissenschaftliches Werk vorgelegt zu haben, lösen die Autoren nur bedingt ein. Ihre Wahrheit ist selektiv. Vieles, was bei redlicher Aufarbeitung hätte offenbart werden müssen – etwa die stalinistischen Verfolgungen und Menschenraubaktionen der fünfziger Jahre oder gravierende Menschenrechtsverletzungen – verschweigen sie. Wissenschaftlich durchaus diskutable Darstellungen wechseln sich mit langatmigen Ausführungen ab, die nichts als Agitation und vielfach bewusste Unwahrheit sind. Mit Vehemenz behaupten sie zum Beispiel, die Staatssicherheit habe mit dem anonymen Heer ihrer Inoffiziellen Mitarbeiter keine flächendeckende Überwachung realisieren wollen. Zitat:

    "Die absurde Behauptung von der 'flächendeckenden Ausforschung des gesamten DDR-Staatsvolkes’ wird auch nicht plausibler, wenn sich deren Kolporteure auf die Nutzung operativ-technischer Mittel und Methoden , wie beispielsweise die Telefon- und Postkontrolle durch das MfS, berufen."

    Von "totaler flächendeckender Überwachung" war selbst DDR-offiziell am Zentralen Runden Tisch in Ost-Berlin im Januar 1990 die Rede. Und Mielke hat in mehreren Reden einst die umfassende Zielsetzung beim Einsatz Inoffizieller Mitarbeiter unumwunden gefordert:

    "Die gründliche Klärung der Frage 'Wer ist wer?’ in jedem Verantwortungsbereich – darin eingeschlossen auch die Feststellung, auf wen sich die Partei verlassen kann – ist und bleibt eine politisch-operative, äußert bedeutsame Aufgabenstellung. Und das gilt für alle operativen Diensteinheiten."

    Das haben die Autoren einfach verdrängt. Noch einmal Mielke in unverwechselbarer Rhetorik:

    "Noch einmal wiederhole ich: Wir müssen alles erfahren! Es darf an uns nichts vorbeigehen (...) Das ist eben die Dialektik des Klassenkampfes und der Arbeit der Tschekisten."

    Viele Thesen und Legenden in der Stasi-Enzyklopädie ließen sich entkräften oder widerlegen – speziell auch die penetrant wiederholte Version der Autoren von der Rechtmäßigkeit und Gesetzlichkeit im Handeln des MfS. Tatsächlich ist Rechtsbruch hundertfach zu belegen. Was speziell Mielkes Rechtsverständnis anbelangt, so genügt zur Charakterisierung ein einziges Zitat im Originalton:

    "Wir sind nicht davor gefeit, dass auch mal ein Schuft unter uns sein kann. Wir sind nicht gefeit dagegen. Leider. Wenn ich das schon jetzt wüsste, dann würde er ab morgen schon nicht mehr leben. Ganz kurzer Prozess. Aber weil ich Humanist bin, deshalb habe ich solche Auffassung (...) Und das Geschwafel, von wegen und so weiter ... nicht hinrichten und nicht Todesurteil – alles Käse, Genossen."

    Selbstverständlich distanzieren sich die Autoren von derlei Auffassungen nicht, im Gegenteil, sie berufen sich in ihrer Argumentation auf Mielkes Reden und Dienstanweisungen, die sie seitenlang zitieren. Empören muss allerdings der Tatbestand, dass sich auch schuldhaft belastete Stasi-Schergen wie Karli Coburger und Gerhard Niebling in dem Sammelwerk zu Wort melden. In ihren frühen Dienstjahren haben sie als Vernehmungsoffiziere im MfS-Untersuchungsapparat an schwerwiegendem Unrecht mitgewirkt – selbst an politisch motivierten und vollstreckten Todesurteilen. Dass sie noch heute ihr schändliches Tun als rechtens zu legitimieren suchen, zeugt von besonderem Zynismus. Fazit: Das Werk bietet wenig Neues. Es dokumentiert eher die anachronistische Denkweise uneinsichtiger Stasi-Altkader, die jenseits allen Unrechtsbewusstseins höchstens ein paar Fehler und Irrtümer eingestehen - und die heute noch bedauern, dass ihnen die totale Vernichtung ihrer Akten nicht gelungen ist. Ihr Weltbild ist ein Feindbild geblieben.

    Karl Wilhelm Fricke über: Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS. Herausgegeben von Reinhard Grimmer und anderen im Verlag Das Neue Berlin, 2 Bände, 668 und 580 Seiten stark zum Preis von 54 EUR.