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Reinhard Jirgls neues Stück in München
Großdimensionierte Zukunftsphantasien

Wie werden wir in 500 Jahren leben, sprechen, gehen? Davon handelt der Roman "Nichts von euch auf Erden" von Reinhard Jirgl. Er konstruiert eine Zukunft, in die sich die aktuelle Gegenwart mit ihren Flüchtlingswanderungen und dem Kampf gegen den Terror unaufwändig projizieren lässt. In den Münchner Kammerspielen wurde das Epos jetzt auf die Bühne gebracht.

Von Cornelie Ueding | 17.12.2015
    Die Münchner Kammerspiele in der Maximilianstraße.
    Die Münchner Kammerspiele zeigen Reinhard Jirgls Epos "Nichts von euch auf Erden" (imago/ecomedia/robert fishman)
    Zufall oder nicht: Am Premierentag des 7. Teils des lange erwarteten Mega-Science-Fiction-Blockbusters von Star Wars hatte in München auch Reinhard Jirgls Romanepos um einen Krieg der Welten seine Theaterpremiere. Offenbar haben großdimensionierte Zukunftsphantasien in Zeiten innerer Brüchigkeiten und Ängste Konjunktur. Aber nicht nur im Vergleich mit dem Hightech-Produkt aus Hollywood wirkt die extraterrestrische Versuchsanordnung im Labor der Münchner Kammerspiele eher wie eine vorweihnachtliche Bastelarbeit, in der mit etwas Plexiglas, staksigen Antennenfühlern und ausladenden Stoffbahnen eine Odyssee im Weltraum nachgespielt wird.
    Wir befinden uns im 25. Jahrhundert. Die seit zwei Jahrhunderten systematisch betriebene Besiedlung des Planeten Mars steckt in der Krise. Im Rahmen von zwei Projekten zur erdähnliche Umgestaltung des Mars sollen Marsbewohner vorübergehend wieder auf der Erde angesiedelt werden. Denn es ist geplant, die Ausrichtung der Achse des Mars durch gewaltige Sprengungen um gut zwei Grad zu optimieren. Wir ahnen es bereits, der Korrekturversuch unter dem Codenamen URANUS wird zum Rohrkrepierer – der Mars zerbirst, die Erde wird von Explosionstrümmern getroffen: Am Ende schwimmen wir wieder – Erdlinge und Marsianer oder was an Materieteilchen von ihnen übriggeblieben ist in der Ursuppe zwischen Mikroben, Amöben, Mikroben, Flechten... Apokalypse pur.
    Endlos wiederholte Miniaturgebärden
    Doch zuvor geht es noch, 5 Akte und gut 3 Stunden lang, um weit mehr: es geht schlicht um die Rettung der Menschheit: Von einer fledermausartigen Königin-der-Nacht-Gestalt, deren Gewand im eigenen Beleuchtungs-Gestänge aufgespannt ist, wird der unruhig zappelnde Held - ja, so etwas wie den jungen Helden gibt es in dieser Science-Fiction-Welt wundersamer Weise doch noch - in einer Mission Impossible auf den Mars geschickt. Dort angekommen, wechselweise malträtiert bzw. mit biosynthetischen Implantaten imprägniert wieder verwendbar gemacht, endet er schließlich, nach Durchlaufen dieser extraterrestrischen Gehirnwaschanstalt zum "Bösen" gedreht, als glücklicher "Überläufer".
    Und was hätte es schon zu retten gegeben? Während die Marskolonisten zu gnadenlosen Invasoren verkommen waren, hatten sich die zurückgebliebenen Erdbewohner in leblose, sterile, hedonistische "Holovisions"wesen , in "Detumeszenz"-Lemuren zurückverwandelt: Zu Beginn der von Felix Rothenhäusler inszenierten Aufführung berauschen sie sich, in Eurythmie-artigen Posen narzisstisch in seichtem Wasser plätschernd, an der eigenen Lethargie. Wobei "berauschen" schon wieder falsche Assoziationen weckt: so emotionslos, vom Publikum abgewandt, reihen sie die Worte, begleitet von endlos wiederholten Miniaturgebärden, dass nur ihre Indifferenz beim Zuschauer ankommt. Selbst wenn diese Konstellation als eine Chiffre für das antriebslos sich abschottende Europa unserer Tage gedacht sein sollte.
    Mischung aus Gezucke und Grimassieren
    Also brutale Kolonisatoren – versus schlaffe Hi-tech-Mutanten? Wenn der Autor davon spricht, dass die Menschen in 400 Jahren "anders denken, atmen, gestikulieren und laufen werden als wir heute", sollte das sichtbar werden, wenn man schon die fragwürdige Mühe einer Adaption des Stoffes für die Bühne auf sich nimmt. In der "Kammer" kommt freilich keiner über eine Mischung aus Statik und Gestrampel, Gezucke und Grimassieren hinaus. In seinen "Hinweisen zur Inszenierung" rät der Autor verständlicherweise von jeglichem Realismus ab, will aber auch "keine Karikaturen", "keine Comedy-Effekte", "kein Einfühl-Theater".
    Nein, einfühlen konnte man sich beim besten Willen nicht, und es war auch so wenig komisch, dass einem nicht mal das Lachen im Halse steckenbleiben konnte. Die Wissenschafts-Karikaturen, die da über die Bühne staksten und hampelten, brachten leider gar nichts von jener versiert schrägen, artifiziell-subversiven Sprachmaschinerie herüber, die Jirgels poetischen Science-Slam in Buchform so faszinierend macht.