Litauen lag weder damals im Brennpunkt des deutschen Interesses noch tut es dies heute. So ist nur wenig bekannt, dass die Ermordung des jüdischen Bevölkerungsteils dieses kleinen baltischen Landes seinerzeit rascher und gründlicher betrieben wurde als anderswo. Vielleicht war Litauen so etwas wie ein Testgelände, auf dem Einsatzkommandos, Polizeiverbände und Zivilverwaltung in Komplizenschaft mit der Wehrmacht erprobten, wie weit sie gehen konnten, ohne auf Widerstand in den eigenen Reihen zu stoßen, und wie schnell sie vorgehen konnten. Über das Mordgeschehen aus der Sicht der Täter informiert der Bericht eines SS-Führers. Es handelt sich um den im litauischen Kaunas stationierten Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD, SS-Standartenführers Karl Jäger. Er war zugleich Kommandeur des Einsatzkommandos 3. Sein Bericht, der als "Geheime Reichssache" klassifiziert war, trägt die Überschrift:
Gesamtaufstellung der im Bereich des EK 3 bis zum 1. Dezember 1941 durchgeführten Exekutionen.
Veröffentlicht wurde er bereits 1988 in dem Dokumentenband:
Schöne Zeiten. Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer". Herausgegeben von Ernst Klee, Willi Dreßen und Volker Rieß. Fischer-Verlag, Frankfurt.
Diesem Bericht, der in der internationalen Forschungsliteratur als Schlüsseldokument angesehen wird, lässt sich entnehmen, wie die Vertreter der deutschen Besatzungsmacht - unterstützt durch litauische Kollaborateure - in einer Serie von sogenannten "Aktionen", die sich nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion zunächst fünf Monate lang hinzogen, die Juden in den litauischen Städten und auf dem flachen Lande systematisch ermordeten. Litauen war bereits Ende 1941, wie Jäger seinen Vorgesetzten triumphierend meldete, weitgehend "judenfrei": 137.346 jüdische Männer, Frauen und Kinder wurden bis zu diesem Zeitpunkt ermordet - von insgesamt etwa 200.000 Juden, die damals in Litauen lebten.
Der "KdS Litauen" - also: der Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD - führte eine penible Buchhaltung über die unter seiner Verantwortung durchgeführten Mordtaten. Wir wissen daher ganz genau, an welchem Tag und an welchem Ort in Litauen wie viele Menschen erschossen wurden. Am liebsten hätte Jäger auch noch die vergleichsweise wenigen, am Jahresende 1941 noch am Leben gebliebenen litauischen "Arbeitsjuden" einschließlich ihrer Familien "umgelegt", wie er in seinem Bericht auftrumpfend festhielt. Aber Wehrmachts- und Zivilverwaltungsstellen waren ihm in den Arm gefallen, da sie beabsichtigten, die Arbeitskraft dieser Menschen in ihren Werkstätten auszubeuten. So blieben vorläufig noch je 15.000 Juden in den litauischen Großstädten Vilnius und Kaunas am Leben und 5.000 in der Stadt Siauliai. In Kaunas lebten im Sommer 1941 etwa 40.000 Juden. Einige konnten rechtzeitig vor dem deutschen Einmarsch in das Innere Russlands flüchten, andere auch später noch in die Wälder fliehen. Nahezu 20.000 fielen bereits 1941 den Mordaktionen zum Opfer; die anderen später. Nur wenige überlebten.
So lesen sich die technokratischen Bilanzen über die Judenmorde in Litauen. Eine fundierte geschichtswissenschaftliche Darstellung des Geschehens steht bis zum heutigen Tage aus. Der an diesem Thema interessierte Zeitgenosse muss sich mit wenigen, verstreut in Fachzeitschriften und Sammelbänden erschienenen Aufsätzen begnügen, die sich in der Regel mit der Täterperspektive auseinandersetzen.
Wer auch etwas über die andere Seite erfahren möchte, die der Verfolgten, Ermordeten und Überlebenden, dem bietet sich jetzt mit den Aufzeichnungen von Helene Hoffmann eine unverhoffte Chance. Es handelt sich nicht um ein Tagebuch im engeren Sinne, sondern um eine im Sommer 1944 begonnene und ein Jahr später beendete Niederschrift über das, was die Autorin in den Jahren 1941 bis 1944 in der litauischen Stadt Kaunas erlebte. Die Aufzeichnungen waren offensichtlich nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Es dauerte mehr als ein halbes Jahrhundert, bis man sie entdeckt hatte beziehungsweise ihr bedeutender Wert als historische Quelle erkannt wurde. Der Schriftsteller Reinhard Kaiser und Helene Holzmanns Tochter Margarete zeichnen gemeinsam für die Herausgeberschaft verantwortlich. Kaiser schrieb ein Nachwort sowie eine Kurzbiographie der Autorin und versah die Aufzeichnungen mit treffenden Hinweisen auf die Spezialliteratur.
Helene Holzmann wurde 1891 geboren, wuchs in Jena auf, wurde Malerin - Schülerin von Max Beckmann -, Buchhändlerin, Kunst- und Deutschlehrerin. Ihr Vater Siegfried Czapski war der engste Mitarbeiter und Partner von Ernst Abbé in der Führung der Zeiss-Werke. Über dessen Wirken informiert ein - zufälligerweise im selben Jahr erschienener - Dokumentenband, den Andreas Flitner und Joachim Wittig herausgaben.
Helene Czapski war also eine gebürtige Deutsche, die einen jüdischen Elternteil hatte. Verheiratet war sie mit dem jüdischen Buchhändler Max Holzmann, der im litauischen Kaunas ein großes Geschäft betrieb. Da Helene aus Deutschland stammte und zum Protestantismus konvertiert war, galt sie in Kaunas als Deutsche, obwohl sie die litauische Staatsbürgerschaft angenommen hatte. Zur Familie gehörten die Töchter Marie und Margarete.
Bereits in den ersten Tagen nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Litauen wurde der Buchhändler Holzmann ohne irgend eine Begründung auf offener Straße verhaftet und wenig später ermordet. Nicht von Deutschen, sondern von so genannten litauischen Partisanen, bei denen es sich in Wirklichkeit um antisemitisch verhetzte Nationalisten handelte. Auch die ältere Tochter Marie wurde aufgegriffen und in einem der Forts von Kaunas eingesperrt. Man warf ihr vor, in dem so genannten Russenjahr 1940/41 - dem Jahr, in dem Litauen sowjetisch besetzt war - Mitglied des kommunistischen Jugendverbands Komsomol gewesen zu sein. Helene Holzmann sollte ihre älteste Tochter niemals wiedersehen. Auch sie wurde ermordet, und zwar während der so genannten "Großen Aktion" am 29. Oktober 1941, der in Kaunas 9.200 Menschen zum Opfer fielen. Nun war ihr noch die jüngere Tochter Margarete geblieben. Ein litauischer Bekannter, der um das Schicksal der Familie Holzmann wusste, sagte - offenbar in einem Anfall von Mitgefühl: "Dies Kind soll leben!", was für die Mutter ein Ansporn zum Durchhalten wurde. Tatsächlich gelang es ihr, die Tochter über die extrem entbehrungsreichen und bedrohlichen Kriegsjahre hinweg zu beschützen. Der Verlust von zwei Familienmitgliedern mobilisierte in ihr neue Kräfte, die sie in waghalsigen Rettungsaktionen insbesondere für jüdische Frauen und Mädchen einsetzte.
Helenes Holzmanns Aufzeichnungen bestechen durch Authentizität und Konkretheit. Sie schildert ihr eigenes, bedrohtes Leben und das ungezählter anderer Verfolgter unter der deutschen Besatzung. Während uns das Mordgeschehen in Karl Jägers Bericht als kaltes Zahlenwerk entgegentritt, gibt Helene Holzmann den Opfern ein Gesicht. Sie lässt uns begreifen, dass hinter der Anonymität der Mordbilanzen einzelne Menschen stehen, Männer, Frauen und Kinder, die nichts verbrochen hatten, die aber verfolgt und ermordet wurden, weil sie Juden waren. Wir lernen die Entrechtung der Juden aus deren Perspektive kennen, ebenso die Verhaftungen, die Morde auf offener Straße, die systematisch geplanten Massenerschießungen, die Ghettoisierung, auch die Normalität des Lebens außerhalb des Ghettos. Wir lesen differenzierte Urteile über deutsche und litauische Menschen, kaum eine Pauschalisierung. Hier beobachtet eine kluge Frau, die sich auszudrücken versteht.
Eine künftige Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg und die Judenmorde in Europa wird sich in der Verknüpfung der Täter- und der Opferperspektive zu bewähren haben. Bücher wie die Aufzeichnungen von Helene Holzmann werden dann einen ähnlichen Rang als Quelle beanspruchen dürfen wie die Dokumente der uniformierten deutschen und litauischen Täter.
Reinhard Kaiser und Margarete Holzmann (Hrsg.), "Dies Kind soll leben. Die Aufzeichnungen der Helene Holzmann 1941-1944". Der Band wurde in der Frankfurter Verlagsbuchhandlung Schöffling & Co veröffentlicht, hat 384 Seiten und kostet DM 44,-. Reinhard Kaiser ist auch der Herausgeber einer CD-Edition, die unter dem Titel "Dies Kind soll leben. Die Aufzeichnungen der Helene Holzmann 1941 bis 1944 und die Stimmen der Überlebenden" in Schöfflings Hör Bar erschienen ist. Verwiesen wurde auf den Band "Optik - Technik - Soziale Kultur. Siegfried Czapski, Weggefährte und Nachfolger Ernst Abbés. Briefe, Schriften, Dokumente". Dieses Werk wird von Andreas Flitner und Joachim Wittig im Rudolstadter Hain Verlag herausgegeben, hat 583 Seiten und kostet DM 49,90.