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Reinhard Müller, Menschenfalle Moskau - Exil und stalinistische Verfolgung

Ich hatte bisher nur die faulige Luft der untergehenden Weimarer "Demokratie" geatmet und dann den Blutgeruch des Hitlerstaates. Endlich war ich jenem verhassten Bereich entronnen und sah zum ersten Mal die Werktätigen nicht als Erniedrigte und Verfolgte, sondern als Herren ihres eigenen Landes... Das verlieh mir ein bisher gänzlich fremdes Daseinsgefühl, nämlich das der machtgeschützten Sicherheit.

Brigitte van Kann |
    Die spätere Literaturwissenschaftlerin Trude Richter schrieb das, nachdem sie 1934 von KPD und Komintern ins sowjetische Exil beordert worden war. Ihr "Daseinsgefühl" dürfte sich wesentlich verändert haben, als sie zwei Jahre später verhaftet und ohne Prozess zu zwanzig Jahren Straflager und Verbannung verurteilt wurde. Bis 1957 kämpfte sie in sowjetischen Lagern ums Überleben, und erst nach einer Petition von Anna Seghers wurde ihr die Ausreise in die DDR erlaubt. Ein Einzelfall, der für viele Schicksale steht, von Exilanten, die in die "Menschenfalle Moskau" geraten waren.

    "Ab 1937 wurde die Angst zu einer Massenerscheinung. (...) Verwandte und Bekannte von Verhafteten wagten nur schüchterne Bitten, bestanden nicht auf ihren Forderungen. (...) Die Menschen hörten auf, einander zu besuchen. Es gehörte zu den Aufgaben der 'Organe', die Gesellschaft zu spalten, die Beziehungen zwischen den Menschen zu zerstören. Je schlimmer, je bedrückender die Atmosphäre der Angst, desto besser für die Macht. Die Angst aus jener Zeit wurde zu unserem beständigsten Gefühl."

    Diese alles durchdringende, lähmende, die Menschen isolierende Angst, die der russische Schriftsteller Daniil Granin beschrieben hat, erfasste in den Jahren des stalinistischen Terrors nicht nur die Bürger der Sowjetunion. Sie bestimmte auch das Leben der politischen Emigranten, die gehofft hatten, im sowjetischen Arbeiter- und Bauernstaat Zuflucht vor der faschistischen Bedrohung zu finden. Stattdessen erwartete die meisten von ihnen Gefängnis, Folter und Tod.

    Der Historiker Reinhard Müller, Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, hat in der Hamburger Edition, dem Hausverlag des Instituts, eine umfangreiche Studie über Exil und stalinistische Verfolgung, über die "Menschenfalle Moskau", so der Titel des Buches, vorgelegt. Reinhard Müllers Untersuchung stützt sich, anders als bisherige Arbeiten über das Schicksal der deutschen politischen Emigranten, auf die seit dem Kollaps des Sowjetimperiums 1990/91 geöffneten Moskauer Archive. Auch wenn viele Dokumente zur sogenannten "Wollenberg-Hoelz-Verschwörung", die exemplarisch im Zentrum der Untersuchung steht, absurderweise noch immer als "Staatsgeheimnis" gelten und nicht eingesehen werden konnten ? so erlaubte das erforschte Material doch neue Einblicke in die Mechanismen der "Menschenfalle Moskau", die ihren paranoiden Prämissen mit eiserner Logik folgte und sich durch Verfahrensaufwand und bürokratische Perfektion den Anschein von Rechtlichkeit gab.

    In die "Menschenfalle Moskau" waren auch die Brechtschauspielerin Carola Neher und Zenzl Mühsam, die Witwe des 1934 im KZ Oranienburg ermordeten Anarchisten Erich Mühsam, gegangen. Carola Neher, die der KPD nahe stand, war ihrem Mann nach Moskau gefolgt; die im Prager Exil mittellos und isoliert lebende Zenzl Mühsam hatte sich von der Hoffnung auf Veröffentlichung der Arbeiten ihres Mannes ködern lassen, obwohl sie im Grunde wusste und schrieb: "... Seine Arbeiten passen für Russland nicht". Der Autor vermutet, dass die KPdSU bestrebt war, sie als Witwe eines prominenten Faschismusopfers propagandistisch einzusetzen, und dass die Partei darüber hinaus auf den Nachlass Erich Mühsams reflektierte, in dem man Enthüllungen, wohl die eigenen Parteigenossen betreffend, vermutete. Nach zwanzig Jahren Gefängnis, Lagerhaft und Verbannung wurde Zenzl Mühsam in die DDR entlassen, wo die SED die Schwerkranke kurz vor ihrem Tod 1962 dazu brachte, die Rechte an Mühsams Werk der Ostberliner Akademie der Künste zu übertragen ? ein schmutziger Triumph des kleinen Bruders. Carola Neher wurde 1937 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, sie starb 1942, mit 38 Jahren, in einem Gefängnis in der Nähe der Stadt Orenburg im südlichen Ural.

    Vorgeworfen hatte man sowohl Zenzl Mühsam als auch Carola Neher Kontakte zur sogenannten "Wollenberg-Hoelz-Gruppe", der eine "konterrevolutionäre, terroristische, trotzkistische Verschwörung" zur Last gelegt wurde. Entlang des Leidenswegs von Zenzl Mühsam und Carola Neher und der Schicksale der angeblichen Mitglieder dieser konstruierten Verschwörung entwirrt der Autor ein komplexes Geflecht aus Partei- und NKWD-Direktiven, Kaderakten, Denunziationen und Verhörprotokollen. Auf diese Weise legt er das Räderwerk des stalinistischen Terrors frei, die Funktionsweise dieser willkürlich zupackenden, ihre Opfer dann um so unerbittlicher zermalmenden Maschinerie, die im Falle der deutschen Kommunisten im Moskauer Exil fest mit den "Verfolgungsbürokratien" von Komintern und KPD verzahnt war.

    Für Leser, die bereits wissen, dass der Fluchtpunkt Moskau für viele Politemigranten die Endstation war, werden diese Zusammenhänge das eigentlich Neue und Erschreckende sein ? die sich aus der "mikrohistorischen" Analyse der Archive ergebende enge Verflechtung von NKWD, KPD und Komintern bei der Verfolgung angeblicher Feinde in den Reihen der deutschen Kommunisten. Deren Schicksal in der Sowjetunion liest sich wie die letzte, blutige Konsequenz aus einer jahrelangen Abrichtung zum treuen Parteisoldaten, zur alltäglichen Bespitzelung der eigenen Genossen. Der Kommunist Ernst Fischer, beim Exekutivkomitee der Komintern selbst mit der Kaderüberprüfung befasst, erinnerte sich:

    "Ich wusste nicht, dass jeder der alten Kommunisten keineswegs nur der war, als der er mir gegenüberstand, sondern zugleich ein Kaderbericht, unaustilgbare Vergangenheit: rechte Abweichung, linke Abweichung, Versöhnler, Sozialrevolutionär, Menschewik, Trotzkist (...). Also hatte jedes Wort, das er sprach, zugleich einen verborgenen Sinn, bezog sich nicht nur auf das, was zur Diskussion stand, sondern auch auf vergangene Diskussionen, Rügen, Verwarnungen, Niederlagen, Bußübungen, die 'Selbstkritik' genannt wurden."

    Wovon Bücher wie Manès Sperbers Trilogie "Wie eine Träne im Ozean" oder Vasilij Grossmans Roman "Leben und Schicksal" eine Ahnung gaben, wird in "Menschenfalle Moskau" noch einmal beglaubigt: die ungeheuerliche Tatsache, dass Fememorde an abtrünnigen oder andersdenkenden Parteimitgliedern im In- und Ausland, in der Regel als Unfall getarnt, zur Praxis des sowjetischen Geheimdienstes gehörten.

    Opfer einer solchen "nassen Operation", wie dergleichen im NKWD-Jargon hieß, wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit der deutsche Kommunist Max Hoelz, im Reigen seiner Genossen eine eher schillernde und unangepasste Figur. Von den Mitgliedern der eigenen Partei verleumdet und in die Enge getrieben, beging er den verhängnisvollen Fehler, die Deutsche Botschaft in Moskau aufzusuchen, um seine Rückkehr in die Heimat zu erreichen. Während er auf ein innerparteiliches Reinigungsverfahren, eine so genannte Tschistka, wartete, kam er 1933 unter mysteriösen Umständen ums Leben. Alle Hinweise sprechen dafür, dass er vom NKWD ermordet wurde ? und damit posthum zusammen mit dem wegen abweichender Meinungen aus der Partei ausgeschlossenen und 1934 nach Prag geflohenen Erich Wollenberg zum Führer einer angeblich faschistisch-trotzkistischen, antisowjetischen, terroristischen Vereinigung gemacht werden konnte.

    Der Teilnahme an dieser fiktiven Vereinigung verdächtig war jeder aus dem Kreis der nach Moskau geflohenen deutschen Kommunisten, der mit einem der angeblichen Mitverschwörer verwandt, befreundet oder nur zufällig bekannt war. Das Prinzip der "Kontaktschuld" und der Sippenhaft, kennzeichnend für den stalinistischen Terror, wirkte sich unter den engen, wenig Rückzugsmöglichkeiten bietenden Bedingungen der Emigration umso verheerender aus: Bereits im März 1938 waren siebzig Prozent der KPD-Mitglieder in der Sowjetunion verhaftet.

    Den massenhaften Terror orchestrierte eine Flut von Denunziationen, mit denen deutsche Emigranten ihre ideologische Treue und Zuverlässigkeit unter Beweis stellen wollten. Die landläufige Meinung, ein Mann wie Herbert Wehner habe als Einzeltäter mit seinen Denunziationen Genossen "ans Messer geliefert", kann Reinhard Müller nach der "mikrohistorischen und systematischen Analyse der in Moskauer Archiven erschlossenen Dokumente" so allerdings nicht bestätigen. Er schreibt:

    "Diese isolierende Reduktion auf einen 'Täter', der wie Wehner für die Komintern und das NKWD Berichte lieferte, unterstellt ausschließlich den servilen 'Meldungen' einzelner Emigranten an die 'betreffende Stelle' und 'die Einrichtung', wie das NKWD genannt wurde, eine Initialrolle bei der Verhaftung und Verfolgung anderer. Hierbei ist aber die bürokratische Arbeitsteilung, Kooperation und permanente Amtshilfe der Kontroll-, Selektions- und Vernichtungsinstanzen von Kommunistischer Internationale und NKWD zu berücksichtigen und ? unter den Bedingungen atomisierter und lebensbedrohter Existenz ? zwischen Denunziationspflicht, überschießendem Meldeeifer des 'Parteisoldaten' vor der Verhaftung und verzweifelten Überlebensstrategien in Lubjanka-Folterverhören zu unterscheiden."

    Sorgfalt und Genauigkeit kennzeichnen Reinhard Müllers Analyse, deren Gegenstand ? wie immer, wenn die Grenzen zwischen Täter und Opfer fließend werden ? durchaus heikel ist. Zu einer moralischen Bewertung oder einem Wort der Empörung lässt der Autor sich an keiner Stelle hinreißen. Dem Leser steht es frei, sich sein Urteil zu bilden.

    Brigitte van Kann über Reinhard Müller, "Menschenfalle Moskau, Exil und stalinistische Verfolgung". Der Band ist in der Hamburger Edition erschienen, 500 Seiten zu 35 Euro.