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Reis

So also sehen die Buddenbrooks, sieht die Geschichte vom Untergang einer Familie auf chinesisch aus. Nackte, kalte Prosa. Bilder von Geilheit und Dekadenz. Jäh abstürzendes Miteinander. Gewalt von martialischer Lakonie. Jade, Opium und Zähne aus purem Gold in einer Welt, versinkend im Schlamm ihrer selbst.

Armin Huttenlocher |
    "Erst als die Lampions angezündet waren und die Kinder mit einer Schale Glücksnudeln für Misheng aus der Küche kamen, ließ er sich sehen. ... Rund um den Tisch war gedämpftes, freudloses Schlürfen zu hören, als sich die Familie aus der Reishandlung im trüben Lampenlicht Mishengs Glücksnudeln widmete. Das Geburtstagskind, das von seinem Vater eine Ohrfeige bekommen hatte, sah aus wie ein schlechtgelaunter Erwachsener. Es war sein zehnter Geburtstag, und er war todunglücklich."

    Schon einmal, in seiner - hierzulande mehr durch die Kinoverfilmung bekannt gewordenen - Erzählung "Die rote Laterne" hat der heute 34jährige Autor Su Tong bewiesen, daß er zu den bedeutendsten gesellschaftskritischen Schriftstellern im nach-maoistischen China gezählt werden muß. Mit provokativer Entschlossenheit rührt er an unantastbare Werte, seziert er Rituale, Hierarchien und Instanzen chinesischer Kultur, reißt er Fassaden ein und Abgründe auf, hält er auch in seinem ersten großen Roman "Reis" einer teuflisch traditionsverbundenen Gesellschaft den Spiegel vor.

    China in der Zeit zwischen den beiden großen Hungersnöten Anfang der 20er und Anfang der 30er Jahre dieses Jahrhunderts. Wulong, Sohn verarmter und vom Hungertod bedrohter Reisbauern, flieht vom Land in die Stadt, wo er Obdach, Arbeit und Nahrung findet im Hause des Reishändlers Feng und dessen Töchter Quiyun und Zhiyun.

    "Das Verhältnis zwischen den beiden Schwestern aus der Reishandlung verwirrte Wulong: sie stritten sich wie Straßenkatzen. Oft zerriß ihr Streit die beklemmende Stille im Laden, und Wulong fragte sich dann, warum niemand hinging und ihnen die stinkenden Mäuler stopfte."

    Getreten von der einen, betört von der anderen, besessen von der Sinnlichkeit des Reises und der massenhaften, körperlichen Nähe dieser lange entbehrten Frucht, getrieben vom Instinkt um jene Macht, die sich mit dem Besitz von Reis in dieser Kultur verbindet, schafft Wulong es vom Lakaien zum Schwiegersohn, vom Mittellosen zum Erben des familiären Imperiums, schließlich zum Herrscher über Verbrechen und Prostitution in der Stadt.

    "Das Herz schlug ihm bis in den Hals. Das blendende Licht der Welt war auf ihn gerichtet. Der leere Fluß und der verlassene Hafen vertrieben mit ihrer Reinheit und Frische die düsteren Gedanken, die er hierher mitgebracht hatte. Er betrachtete forschend das Ufer. Es mußte Blutspuren geben. Man bringt einen Typ nicht um, ohne Blut zu vergießen. Im Gehen inspizierte er den Boden, aber er entdeckte nur Asche, Fettflecken und Papierschnipsel. ... Ich wollte, ich hätte sein Gesicht im Augenblick seines Todes sehen können. Hat er sich auf die Knie geworfen und um sein Leben gebettelt? Hat er geahnt, wer an seinem Tod schuld ist?"

    Ein Aufstieg als Werk der Wollust und als Weg der Zerstörung. Wulong ist das Zündholz, das entfacht, was allenthalben schwelt. Ein Bettlerkönig, der sich selbst zur dreieinigen Ratte aus Berechnung, Gier und Gefühlskälte krönt. Am Ende werden Opfer und Täter nicht mehr zu unterscheiden und auch der Absturz des Besinnungslosen besiegelt sein.

    Su Tongs Roman ist eine Parabel, zusammengeführt im Bild des Reises, dem Symbol von Reinheit, Fruchtbarkeit und Leben, göttlichem Schicksal, menschlichem Werden, irdischer Vergänglichkeit. Ein Gleichnis, das auf drastische Weise Klischees vorführt - und als Bruchstücke einer scharf und unbestechlich fokussierten Wirklichkeit entlarvt.

    Gnadenlos schreiten Held und Erzählung voran. Es gibt kein Links, kein Rechts, kein Halten, schon gar kein Entrinnen. Manches mag man auch ohne den allzu verräterischen Klappentext ahnen, doch nichts vermindert den Sog, der einen als Leser mit in die Abgründe dieses furios schockierenden Buches zieht. - Nicht einmal die passagenweise unglaublich ungelenke, von schiefen Bildern, historischen Fehlern und kulturellen Mißverständnissen strotzende Übersetzung, bei der man sich fragt, ob man nun auch schon bei Rowohlt am Grundsätzlichen spart. Es kann einfach nicht angehen, daß in einem derart renommierten und engagierten Hause Literatur von solcher Qualität erkannt und eingekauft, dann aber im Stich gelassen wird.

    Allen Ernstes spricht der Übersetzer Peter Weber-Schäfer in seiner Übertragung einer Handlung, die wohlgemerkt in den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts spielt, davon, ein bestimmtes Kräuterelixier sei gut für Blutgefäße und "Energiekreislauf", oder, an anderer Stelle, man werde dem neuangekommenen Lakaien ordentliche Schuhe statt seiner "Plastikschluffen" kaufen. Ununterbietbarer Tiefpunkt schließlich dürfte - im Zusammenhang mit dem Entschluß des negativen Helden der Parabel, sich seine natürlichen Zähne durch ein Gebiß aus reinem Gold ersetzen zu lassen - der Satz sein:

    "Die Totalextraktion war ein langwieriger und monotoner Prozeß."

    Beispiele, die keine Erbsenzählerei darstellen, sondern in diesem Falle ein unendlich fortsetzbares, die Lektüre begleitendes und die dem Roman eigentlich innewohnende, subtil schizophrene Melodik immer wieder jäh zerstörendes Element. Der Rowohlt Verlag täte wahrlich gut daran, das Buch für die zweite Auflage aufmerksam zu überarbeiten, bevor dann in Bälde wohl die Verfilmung in die Kinos kommt, die im Moment noch die chinesischen Zensurbehörden strapaziert.