Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Reise an den Rand Europas

"Ich bin ein beutegieriger Nomade", sagt der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk. In seinem "Tagebuch danach geschrieben" lässt er die vergessenen und versunkenen Winkel Südosteuropas als eine faszinierende Welt aufleuchten.

Von Lerke von Saalfeld | 15.01.2013
    Der polnische Schriftsteller und Essayist Andrzej Stasiuk ist ein fanatischer Reisender, ein Vagabund, ein neugieriger Spurensucher in den Verästelungen der Geschichte und den davon geprägten Landschaften und Menschen. Dabei interessiert ihn nicht der Westen Europas, nie käme er auf die Idee, zum Beispiel Holland zu durchstreifen, seine Ziele liegen in der südöstlichen Ecke Europas, wo für ihn die Verwerfungen und Zerrüttungen des Kontinents greifbar und sichtbar sind. Er erkundet die Niemandsländer Europas mit wachem Blick und oft gemischten Gefühlen. So hat er mit dem ukrainischen Schriftsteller Jurij Andruchowytsch die Tatra durchwandert; sein jüngstes Prosawerk – "Tagebuch danach geschrieben" – führt auf den Balkan, nach Albanien und in die Länder des einstigen Jugoslawien, Bosnien, Herzegowina, Kroatien, den Kosovo, Montenegro und Mazedonien.

    Ich habe ein schlechtes Gewissen, wann immer ich die Drau oder die Donau überquere. Wenn ich in die Gegend fahre, ist mir so, als würde ich mich anschleichen. Wenn ich zurückfahre so, als würde ich mich verdrücken. Ich habe ein idiotisches Schuldgefühl, so als wäre ich diesen Gegenden zu irgendetwas verpflichtet. Dabei zieht mich einfach der balkanische Verfall an, und ich versuche dieses zerreißende Gefühl zu beschreiben. Schuldig bin ich ihnen gar nichts.

    Stasiuk lässt sich treiben, wie in einem ewigen Strudel durchquert er die Länder, ohne dass ein Plan zu erkennen ist. Er lässt sich verlocken, besucht Orte wieder, die er früher schon einmal besucht hat, in der Hoffnung, nichts möge sich verändert haben. Immer wieder scheint er vom Weg abzukommen, denn es gibt weder eine Chronologie seines Tagebuchs noch eine feste Route. Der Schriftsteller mäandriert durch die Landschaften und Städte, wenn ihm etwas missfällt wie die quirligen, aufgetakelten Badeorte am Meer, dann steigt er schnell in sein Auto und sucht das Weite. Er schreibt von "wir", aber wer seine jeweiligen Begleiter sind, bleibt meist offen. Ein Begleiter ist allerdings konstant, der Krieg:

    Ich quälte mich und fluchte. Später erschien mir das alles in den Träumen. Ich hatte keine anderen Träume, nur Sarajevo, Bajram Curri oder die verbrannten Häuser irgendwo an der bosnischen Grenze. Selbst wenn irgendwo gar kein Krieg gewesen war, spürte ich in den Träumen doch eine Unruhe. Ich nahm sie mit. Ich war durchdrungen von ihr. Denn Unruhe erfüllt diese Gegenden, sie liegt in der Luft, man kann sie einatmen wie den Rauch einer Zigarette. Alles dort ist zerbrechlich. Es kann jeden Augenblick zerfallen. Denn selbst wenn kein Krieg ist, keine erneute Teilung, keine Abspaltung, keine neue Freiheit und Unabhängigkeit, dann ist da doch die Zeit, die Paranoia der Veränderungen und der Wahn, es möge so sein wie überall – sie legen Dynamit und jagen ihre ganze Vergangenheit und Gegenwart in die Luft.

    Das erste Kapitel des Tagebuchs beschreibt die Reisen durch Albanien. Angekommen in der Hafenstadt Durres, die der Autor wie den Vorhof zur Hölle empfindet, erfasst ihn totale Erschöpfung, denn das Land nimmt ihn mit Haut und Haaren gefangen, in seiner Schönheit wie in seinen abstoßenden Unerträglichkeiten, in seinem lächerlich-rührenden Versuch, modern zu werden, und in seiner tief verwurzelten Archaik:

    Ich mochte dieses Land, auch wenn es Sturheit erforderte. Ich hätte es gegen nichts getauscht. Ich kam hierher, um zu gucken. Um manchmal wütend zu werden, manchmal Angst zu bekommen. Ich mochte dieses Land mehr als andere Länder und war froh, dass es so weit entfernt war. Dass die Flüge unerschwinglich teuer sind, keine Züge dorthinfahren und man sich zweitausend Kilometer weit mit dem Auto quälen muss. Ich mochte seinen Gestank und die von der Hitze aufgedunsenen toten Esel am Straßenrand. Mich störte hier nichts, es sei denn, ich hatte gerade einen Kater.

    Im zweiten Kapitel stehen die Reisen durch das ehemalige Jugoslawien im Mittelpunkt, auch wenn Stasiuk zwischendurch immer wieder Abstecher nach Albanien unternimmt. An namenlosen Orten, in trostlosen Gegenden, bei Sauwetter und in verödeten Landstrichen entdeckt der Autor die verzaubernde Atmosphäre von Vergangenheit und Gegenwart am Rande Europas, die ihn fesselt und in Bann zieht. Gemütlich oder erholsam ist nichts an seinen Streifzügen; unruhig und aufgekratzt versucht er zu begreifen, was sich hier in den neunziger Jahren abgespielt hat. Krieg, Krieg, Krieg. Die Menschen sind davon gezeichnet, die meisten schweigen, aber der Geruch der Angst liegt in der Luft. Und dennoch versteht es Stasiuk, in poetischen Bildern und Wahrnehmungen die vergessenen und versunkenen Winkel Südosteuropas als eine faszinierende Welt aufleuchten zu lassen.

    Und immer wieder fragt sich der Autor, warum unterzieht er sich diesen Strapazen, warum ist er so magisch angezogen von Menschen und Landschaften, die kein europäischer Normalbürger aufsuchen würde. Die Antwort erfolgt im dritten Kapitel des Tagebuchs, es ist sein Heimatland Polen, wo Andrzej Stasiuk zurückgezogen im Südosten, in den Niederen Beskiden, fernab vom städtischen Getümmel lebt, wo der Schriftsteller zusammen mit seiner Frau Monika Snaidermann einen kleinen feinen Verlag betreibt. Das neue Polen ekelt ihn an, wo Billigreisen nach Tunesien, Computer-Chips oder Unterhosen im Dutzend Pack mit US-Sternchen drauf die Bürger begeistern, die in einer leeren Zeit leben und deshalb umso bereitwilliger allem Ramsch des Westens huldigen. Und gleichzeitig als politisch geschundenes Land ein Märtyrertum für sich beanspruchen, das Stasiuk zum Kotzen findet und ihn anwidert:

    Als beneideten sie die Juden um ihr Feuer, neidisch waren sie ja schon immer, auf alles. Auf den Mercedes der Deutschen, auf das Geld der Juden und ihren Ruhm, weil die sich öffentlichkeitswirksam verbrennen ließen. Deshalb fahre ich nach Srebrenica, um über all das nachzudenken. Über mein Vaterland, das nach einem Massaker giert, aber nicht mehr den Mut des Balkan hat und alte Leichen beweinen muss. Es holt sie aus den Gräbern und tischt sie uns auf. Es wartet auf irgendeine Gelegenheit, um sich die Haare zu raufen, Tontöpfe zu zerdeppern, sich in Geheul zu ergehen. Und wieder Tunesien, wieder Chips. Postmodernismus und Nekrophagie. Ahnenkult digital in HD-Format. Multimediales Massaker-Museum. Supermarkt und nationaler Voodoo. Deshalb fahre ich in die Heimat der Vampire. Ich bin ein beutegieriger Nomade, deshalb zieht es mich in den Osten.

    Die Begeisterung und Faszination der ersten beiden Kapitel weicht einer tiefen Verbitterung im letzten Abschnitt des Tagebuchs. In einem wütenden Monolog, fast ohne Absatz, macht der Schriftsteller seinem Zorn Luft über sein verdammtes Vaterland Polen. Aber eines ist sicher, die Kraft der Worte, der Bilder kann niemand zerstören, dafür sorgt dieser begnadete und lebenshungrige Sprachkünstler Andrzej Stasiuk:

    Ich fuhr nach Hause zurück, zum tausendsten Mal mit dem gleichen Gefühl, dass ich wie durch eine Wüste fahre und Geschichten erzählen, Bilder beschwören muss, um nicht vom Weg abzukommen, um an mein Ziel zu finden. Unter dem großen Himmel, mit diesen Erzählungen, die wie schwächelnde Feuer sind nachts auf der Ebene, wenn der Wind weht. Mehr konnte ich nicht tun. Mehr nicht.

    Andrzej Stasiuk: Tagebuch danach geschrieben.
    Aus dem Polnischen vor Olaf Kühl
    edition suhrkamp, 175 S., 15,50 Euro