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Reise durch russische Klanglandschaften

Nowosibirsk liegt im Zentrum Westsibiriens. Mit 1,5 Millionen Einwohnern nach Moskau und St. Petersburg die drittgrößte und eine der jüngsten Millionenstädte Russlands -gleichzeitig mit mehreren Theatern, Museen und einem großen Konzerthaus das kulturelle Zentrum Sibiriens. Hier ist das Novosibirsk Academic Symphony Orchestra Zuhause, das trotz weltweiter Konzertreisen anders als etwa die traditionsreichen St. Petersburger Philharmoniker bei uns immer noch erstaunlich unbekannt ist. Zu Unrecht, wie gleich zwei Einspielungen beweisen, die aus Anlass seines 50-jährigen Bestehens in diesen Wochen bei dem Label "audite" erschienen sind.

Von Sylvia Systermans |
    Die erste Aufnahme mit Werken von Sergej Rachmaninow leitete der Gründer und Chefdirigent des Orchesters Arnold Kats. Werke von Prokofjew und Tschaikowsky spielte das Novosibirsk Academic Symphony Orchestra unter Thomas Sanderling ein, seit 2002 ständiger Gastdirigent des Orchesters. Eine ausgesprochen farbenprächtige Reise durch russische Klanglandschaften.

    * Musikbeispiel: Sergej Rachmaninow - 4. Satz "Allegro vivace" (Ausschnitt) aus der Sinfonie Nr. 2 e-moll, op. 27

    Der Beginn des vierten Satzes, Allegro vivace aus der zweiten Sinfonie von Sergej Rachmaninow in einer Einspielung mit dem Novosibirsk Academic Symphony Orchestra.

    Seine Gründung verdankt das Orchester einem Regierungsbeschluss aus dem Jahr 1956 "zur Belebung des sibirischen Kulturlebens". Unter seinem künstlerischen Leiter der ersten Stunde, Arnold Kats, Professor am staatlichen Konservatorium in Novosibirsk und Gastdirigent von Orchestern wie dem Concertgebouw Orchestra Amsterdam und dem Israel Philharmonic Orchestra, entwickelte es sich rasch zu einem erstklassigen Klangkörper. Konzerttourneen führten zunächst durch die ehemalige Sowjetunion und 1978 zur ersten Reise ins westliche Ausland. Heute kann sich das Orchester über 5000 Konzerte auf die Fahne schreiben, darunter Auftritte in Frankreich, Deutschland, Spanien, Österreich, Japan und in der Schweiz. Seinen Erfolg verdankt das Novosibirsk Academic Symphony Orchestra sicher nicht zuletzt seinem angenehm dunkel timbrierten Klang, wie er sich vor allem im düster verhaltenen Grollen der Pauken und dem geheimnisvollen Solo der Klarinette zu Beginn der Caprice Bohèmien von Rachmaninow entfaltet.

    * Musikbeispiel: Sergej Rachmaninow - aus: "Caprice bohèmien", op. 12

    Das Novosibirsk Academic Symphony Orchestra unter der Leitung von Arnold Kats, mit dem Beginn der Caprice bohèmien op. 12 von Sergej Rachmaninow.

    Als ständiger Gastdirigent steht seit 2002 Thomas Sanderling am Pult des sibirischen Orchesters. Sanderling begann seine Karriere bereits im Alter von 24 Jahren als Musikdirektor an der Oper in Halle. Nach seiner Übersiedelung in den Westen 1983 dirigierte er u.a. an der Deutschen Oper Berlin und der Finnischen Nationaloper. Dmitrij Schostakowitsch beauftragte ihn mit den ostdeutschen Erstaufführungen seiner 13. und 14. Sinfonie und mit der Weltersteinspielung seines letzten Orchesterwerks, der Michelangelo Suite. Womit sich vielleicht am direktesten die Brücke zu seinem Vater Kurt Sanderling schlagen lässt, einem der sicher tiefgründigsten Schostakowitsch-Interpreten des 20. Jahrhunderts.

    Das Potential des hervorragenden Novosibirsk Academic Symphony Orchestra bringt Thomas Sanderling auf seine Weise zum Tragen: mit ausgreifenden, aber nie unvermittelt gesetzten dynamischen Kontrasten und stringenten Tempi, die auch in den temperamentvoll pulsierenden Passagen des zweiten Satzes Allegro marcato aus Prokofjews fünfter Sinfonie B-Dur op.100 nicht ins Wanken geraten. Präzise artikulierte, in der Höhe strahlend helle Streicher und hervorragend intonierte Bläser überzeugen auch hier, in diesem effektvoll instrumentierten Werk von Prokofjew.

    * Musikbeispiel: Sergej Prokofjew - 2. Satz "Allegro marcato" (Ausschnitt) aus der Sinfonie Nr. 5 B-Dur, op. 100
    Das Novosibirsk Academic Symphony Orchestra unter Thomas Sanderling mit einem Ausschnitt aus dem zweiten Satz der fünften Sinfonie von Sergej Prokofjew.

    Zum fast volkstümlichen Tonfall seiner fünften Sinfonie ließ sich Prokofjew möglicherweise von seinem Ballett "Romeo und Julia" inspirieren. Aber nicht nur Prokofjew, auch Peter Tschaikowsky diente das Shakespearesche Drama als Vorlage für eines seiner erfolgreichsten Orchesterwerke, seine Fantasie-Ouvertüre "Romeo und Julia", aus der ich Ihnen zum Abschluss der "neuen Platte" noch einen Ausschnitt vorstellen möchte: das Allegro-Thema, mit seiner hämmernden Rhythmik Symbol der beiden verfeindeten Familien-Clans und die darauf folgende lyrische Melodie, Symbol der beiden Liebenden. Vielleicht eine der schönsten melodischen Erfindungen in der russischen Instrumentalmusik, die das Orchester mit großer Innigkeit, aber ohne überladene pathetische Geste intoniert.

    * Musikbeispiel: Peter Tschaikowsky - aus: Fantasie-Ouvertüre "Romeo und Julia" o. Op.

    "Rachmaninow: Sinfonie Nr. 2/Caprice bohèmien"
    Novosibirsk Academic Symphony Orchestra
    Leitung: Arnold Kats
    Label: Audite
    Labelcode: LC 04480
    Bestellnr.: 92.558

    "Prokofjew: Sinfonie Nr. 5/Rachmaninow: Romeo und Julia"
    Novosibirsk Academic Symphony Orchestra
    Leitung: Thomas Sanderling
    Label: Audite
    Labelcode: LC 04480
    Bestellnr.: 92.557