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Reise ins Reich der Toten

Juan Preciado wird von seiner sterbenden Mutter auf die Suche nach seinem Vater geschickt, von dem er nur den Namen kennt: Pedro Páramo. Es ist eine Reise ins Reich der Toten, auf der dem Sohn durch Stimmen und Gesichter die Geschichte des Dorfes Comala widerfährt.

Rezensiert von Hans-Jürgen Schmitt | 14.12.2008
    "Los murmullos", das Gemurmel, das Stimmengewirr, sollte Juan Rulfos Roman ursprünglich heißen, der dann als Pedro Páramo 1955 herauskam, alsbald Weltruhm erreichte und heute in über dreißig Sprachen übersetzt ist. Ich habe im Verlauf der Jahre Rulfos Roman drei oder vier Mal gelesen, als könnte ich ihm die Tiefe seiner Geheimnisse wieder neu entlocken. Es ist vor allem dieses Raunen, dieses gespensterhafte Stimmengewirr und Geräusch einer Totenwelt, das nach der Lektüre immer im Gedächtnis haften blieb.

    Dieses Dorf ist voller Echos. Mich schrecken sie nicht mehr. Ich höre die Hunde heulen und lass sie heulen. Und an windigen Tagen sieht man, wie der Wind Blätter herumwirbelt, obwohl es hier, wie du siehst, keine Bäume gibt. Es muss einmal welche gegeben haben, woher kämen sonst die Blätter?
    Und das Schlimmste ist, wenn du die Menschen reden hörst. Als kämen die Stimmen aus irgendeiner Ritze, aber doch so klar, dass du sie erkennst.


    Ganze 300 Seiten haben Juan Rulfos Ruhm begründet, der Roman Pedro Páramo und ein Band Erzählungen Der Llano in Flammen, beide erschienen in den fünfziger Jahren in Mexiko. Danach hatte Rulfo sich der Fotografie und dem Film zugewandt und zum ungläubigen Erstaunen seiner Leserschaft bis zu seinem Tod 1986 geschwiegen. Auf dem Lateinamerika-Festival "Horizonte" in Berlin 1982 erklärte Rulfo auf die ewige Frage "Wann kommt das nächste Buch" kurz und bündig:

    "Ich schreibe nur, wenn mich meine Vorstellungskraft dazu drängt; ich beute nicht mein eigenes Leben für die Literatur aus."

    Unter den vielen Berufen, die Rulfo ausübte, war wohl der eines Vertreters für Goodrich-Reifen der wichtigste für sein Werk, Mexiko intensiv kennenzulernen. Es gibt Ausstellungen seiner Fotografien, die wie seine Prosa einen unauslöschlichen Eindruck von den Menschen und der Landschaft Jaliscos, wo Rulfo 1918 geboren wurde, hinterlassen: ein von Armut gezeichnetes Leben, eine Natur im Extrem zwischen tropischer Küstenvegetation, vulkanischen Bergketten und ewig sengender Hitze in der sandigen Hochebene des Llano. Und über allem eine große Verlassenheit und Einsamkeit – eine Atmosphäre, wie sie auch sein Roman "Pedro Páramo" ausstrahlt.
    Der "Held" des Romans, Juan Preciado, der auf der Suche nach seinem Vater ist, hat ein exemplarisches mexikanisches Schicksal: Er ist Waise, wie sein Schöpfer Juan Rulfo Waise war. Rulfo stammte aus einer begüterten Familie, die während der Revolution alles verlor. Rulfos Großvater starb, als Juan vier Jahre alt war, sechs ist er, als sein Vater von einer plündernden Bande ermordet wird. Vier Jahre später stirbt die Mutter; dann sterben zwei Brüder des Vaters, dann der Großvater väterlicherseits vor Kummer über den Tod des ältesten Sohns, Juans Vater. Zu diesem Verlöschen fast einer ganzen Familiensippe sagte Rulfo: Zwischen 1922 und 1930 habe er nur den Tod kennen gelernt. Der Tod ist auch das Thema dieses überaus bildträchtigen, poetischen Romans:

    "Wach auf, Pedro!", sagte man ihm.
    Die Stimme rüttelte an den Schultern. Macht, dass sich der Körper streckt. Die Augen öffnen sich ein wenig. Man hörte die Wassertropfen aus dem Steinfilter in den randvollen Krug fallen. Man hörte schleppende Schritte...Und das Weinen.
    Das weckte ihn: ein leises, dünnes Weinen, das, vielleicht weil es so dünn war, durch das Dickicht des Traums zu dem Ort dringen konnte, wo der Schrecken nistet. (...)
    "Warum weinst du, Mama?", fragte er. Denn sobald er die Füße auf den Boden gestellt hatte, erkannte er das Gesicht seiner Mutter.
    "Dein Vater ist gestorben", sagte sie.
    Draußen auf dem Hof die Schritte, wie von Menschen, die im Kreis gehen. Stumme Geräusche. Und hier diese Frau, an der Schwelle stehend; ihr Leib ließ es nicht Tag werden...Wieder das leise, aber durchdringende Weinen und der Schmerz, der ihren Körper krümmte.
    "Man hat deinen Vater getötet."
    "Und wer hat dich getötet, Mutter?"


    In der legendären Hanser-Broschur erschien Pedro Páramo bereits 1958, drei Jahre nach der mexikanischen Originalausgabe, bevor, ebenfalls bei Hanser, ein Jahr später, die "Labyrinthe", die phänomenalen Prosastücke von Jorge Luis Borges publiziert wurden. Zwei Juwelen der lateinamerikanischen Literatur, die Publikum und Kritik begeisterten.
    Marianna Frenk-Westheim, die mit ihrem Mann, dem Kunsthistoriker Paul Westheim, vor den Nazis aus Berlin nach Mexiko emigriert war, hatte mit ihrer Übersetzung den Nimbus Juan Rulfos im deutschen Sprachraum etabliert. Sogar "Volk und Welt", der DDR-Verlag mit internationalem Programm, hatte Rulfo, wenn auch spät, in den 80er Jahren, veröffentlicht.
    Die Neuübersetzung des Pedro Páramo nach 50 Jahren durch Dagmar Ploetz ist kein grundsätzlich neuer, anderer Rulfo, aber in punkto Knappheit und Lakonie ein Gewinn,- die herausragenden Stileigenschaften dieses "Totenromans", wie ihn Carlos Fuentes einmal genannt hat.

    "Ich bin nach Comala gekommen, weil mir gesagt wurde, dass hier mein Vater lebt, ein gewisser Pedro Páramo. Meine Mutter hat mir das gesagt. Und ich habe ihr versprochen, ihn gleich nach ihrem Tod aufzusuchen. Ich habe ihr die Hände gedrückt, um das zu bekräftigen, denn sie lag im Sterben und ich hätte alles versprochen. "Versäume nicht, ihn zu besuchen", trug sie mir auf, "er heißt so und so. Ich bin sicher, dass es ihn freuen wird, dich kennen zu lernen." Und da konnte ich nicht anders, ich sagte, ja, das würde ich tun, und ich sagte es so oft, dass ich es auch dann noch sagte, als ich meine Hände nur mit Mühe aus ihren toten Händen befreien konnte."

    Das Heimatdorf Comala, das Juan Preciado als Bild der Sehnsucht mit den Augen der Mutter von der Passhöhe aus zu sehen bekommt, ruft die Totalität eines erbarmungslosen Lebens auf dem Lande wach. Schon kann er sich kaum aus den Händen der sterbenden Mutter lösen, beginnt er seine Wanderschaft.
    Dass die Zeit in dieser erzählten Totenwelt stillsteht, lässt sich an dem sehr reduziert verwendeten Präteritum, also der Erzählzeit, festmachen. Die Vergangenheit ist eine düstere, aktuelle Schattengegenwart. Die unerhörte poetische Dichte dieser Prosa ergibt sich nicht aus einer konsekutiven Geschehnis-Abfolge, sonder durch Diskontinuität der kaleidoskopartig aneinander gesetzten Passagen aus Dialogen, Stimmen, Gesprächen, Selbstgesprächen, knapp angerissenen Naturbildern, Momentaufnahmen aus einem Totenreich, die die schemenhaften Figuren in achronischen Zeitsprüngen wie außerhalb der Historie zeigen.
    Der Ort Comala bekommt zwar am Rande die Wirren der Mexikanische Revolution und dann die des Cristero-Aufstands zu spüren, der die Nation teilte und unzähliges Leid brachte, weil die Regierung sich gegen die Kirche gestellt hatte. Doch Comalas Bewohner sind geschichtslose Wesen. Der Roman selbst ist also alles andere als eine historische Fabel.
    Wovon handelt er? Juan Preciado wird von seiner sterbenden Mutter auf die Suche nach seinem Vater geschickt, von dem er nur den Namen kennt: Pedro Páramo. Es ist eine Reise ins Reich der Toten, auf der dem Sohn durch Stimmen und Gesichter die Geschichte des Dorfes Comala widerfährt. Es ist dies die Geschichte eines mächtigen Großgrundbesitzers, der immer auf der Seite der Gewinner zu stehen scheint, sich jedes Recht, auch über Leben und Tod, als sein Recht herausnimmt. Aber auch der ist bereits tot, als der Sohn ihn zu suchen beginnt, zerbrochen schließlich an Susana, einer Liebe, die unerwidert blieb und für die er sich durch Bluttaten rächt, die sein Verwalter ausführt, wie in folgendem zynischen Gespräch angedeutet:

    "Wusstest du, Fulgor, dass sie die schönste Frau ist, die je auf Erden gelebt hat? Ich glaubte schon, ich hätte sie für immer verloren. Aber jetzt will ich sie nicht noch einmal verlieren. Verstehst du mich, Fulgor? Sag ihrem Vater, er soll weiter in seinen Minen arbeiten. Und dort... in diesem Gebiet, wo nie einer hinkommt, wird des wohl ein leichtes sein, den Alten verschwinden zu lassen. Meinst du nicht?
    "Kann sein."
    "Es soll sein. Sie muss ein Waisenkind werden. Es ist doch unsere Pflicht, so jemanden zu beschützen.
    Meinst du nicht auch?"
    "Ich sehe keine Schwierigkeiten."
    "Dann also los, Fulgor, los."


    Das klingt nach einer realistischen Erzählung. Doch von Anbeginn wird die Szenerie des Romans für Juan Preciado gespenstisch: Blätter treiben durch die Straßen, ohne dass es Bäume gibt, Pferde galoppieren ohne Reiter und vom Vater hat er nur den Namen. Nachdem ein Eseltreiber ihm den Weg nach Comala gewiesen hatte, der, wie sich später für ihn herausstellt, ebenfalls ein Sohn von Pedro Páramo und längst gestorben war, gelangt er in die Hauptstraße, in der die leeren Häuser von Unkraut überzogen sind.

    "Wie hatte der Kerl gesagt, dass dieses Kraut hieß?" "Capitana, Señor. Eine wahre Plage, sie wartet nur darauf, dass die Leute wegziehen, und schon macht sie sich in den Häusern breit. Sie werden noch sehen."
    Als ich eine Straßenmündung kreuzte, sah ich eine Frau, in ihr Umschlagtuch gehüllt, doch dann war sie verschwunden, als habe es sie nie gegeben. Ich setzte mich wieder in Bewegung, und meine Augen spähten weiter in die Hauseingänge hinein. (...) Und obwohl da keine Kinder spielten, es keine Tauben und keine blauen Dächer gab, spürte ich, dass das Dorf lebte. Und wenn ich nichts als Stille hörte, dann nur, weil ich die Stille noch nicht gewöhnt war, weil mein Kopf wohl voller Geräusche und Stimmen war.


    Die Begründung, wie und warum Juan Preciado Stille "hört" – wird immer wieder in genialen Rulfo'schen Paradoxiebildungen bild-und hörbar vorgestellt! In der folgenden Szene hört Juan Preciado den Schrei eines Erhängten, der, wie ihm dann von einer der toten Gestalten erklärt wird, tatsächlich schon vor langer Zeit in diesem Raum, wo sich Juan befindet, erhängt worden war:

    Nein, es war unmöglich, die Tiefe des Schweigens zu ermessen, die jener Schrei schuf. Als wäre alle Luft von der Erde entwichen. Nicht ein Geräusch; kein Atemzug, kein Herzklopfen; als sei sogar das Bewusstsein verstummt. Und als die Pause vorüber und ich mich wieder beruhigt hatte, kam erneut der Schrei und war eine ganze Weile zu hören." Lasst mir wenigstens das Recht zu strampeln, das jeder Erhängte hat!"

    Je weiter sich der suchende Held auf das Dorf einlässt, desto mehr wird er einer der Ihren aus dem Schattenreich. Als die Frau, bei der er unterkommt, ihm sagt, er, Juan, werde von ihr als ihr Sohn betrachtet und nicht als der seiner Mutter Dolores und hinzufügt: "Auf einem der Wege zur Ewigkeit hole ich deine Mutter ein", kommentiert Juan:

    Ich glaubte, die Frau sei verrückt. Später glaubte ich gar nichts mehr. Ich fühlte mich in einer fremden Welt und ließ mich treiben. Mein Körper war schlaff geworden, er knickte einfach ein, hatte sich aufgegeben, und jeder konnte mit ihm spielen, wie mit einer Lumpenpuppe.

    Ab Seite 75 ist es dann soweit: Juan Precidao wird vom Chor der Stimmen aus der anderen Welt "erdrückt"! Wieder schafft Rulfo eine große, gespannte Dichtigkeit der Szene, indem er die Ohnmacht- bzw. Todeszene auf der Plaza, wo ihn das inzestuöse Geschwisterpaar Dorotea und Donis aufliest, auf drei Prosaseiten immer wieder leicht variierend erzählt. Aber die Todesszene beginnt zunächst in einem wirkungsmächtigen Bild. Juan liegt im Bett bei Dorotea, deren Leib sich auflöst:

    Die Hitze hat mich kurz vor Mitternacht geweckt. Und der Schweiß. Der Körper dieser Frau, aus Lehm gemacht, von Erdkrusten umgeben, löste sich auf, als zerfließe er zu einer Lehmpfütze. Ich meinte, im Schweiß, der von ihr troff, zu schwimmen, und mir fehlte die Luft zum Atmen. Also stand ich auf. Die Frau schlief. Aus ihrem Mund kam ein blubberndes Geräusch, einem Röcheln sehr ähnlich.
    Ich ging auf die Straße, um Luft zu schnappen. Aber die Hitze verfolgte mich, und ich wurde sie nicht los.
    Es gab einfach keine Luft, nur die lahme, reglose Nacht, aufgeheizt von der Glut des August (...)
    "Willst du mir weismachen, dass du erstickt bist, Juan Preciado. Ich habe dich auf der Plaza gefunden, weit weg von Donis' Haus, und er war auch dabei und sagte, du stellst dich nur tot. Zu zweit haben wir dich in den Schatten der Arkaden geschleift (...) Und du siehst ja, wir haben dich begraben."
    "Du hast recht, Doroteo. Du hast doch gesagt, dass du Doroteo heißt?" "Das ist egal. Mein Name ist zwar Dorotea, aber das ist egal."
    "Es stimmt, Dorotea. Mich hat das Geflüster umgebracht."


    Gespenster - das sind seine vermeintlichen Totengräber –, haben kein Geschlecht, darum ist es Dorotea egal, ob sie Doroteo oder Dorotea genannt wird. Und Juan Preciado gibt am Ende der langen Todesszene die Erklärung seines Hinscheidens ins Reich der Toten:

    Ein gleichmäßiges Rauschen, ton-und klanglos, wie wenn der Wind nachts durch die Zweige eines Baumes fährt und man weder Baum noch Zweige sieht, nur ein Raunen hört. Genau so. Ich habe keinen Schritt mehr getan. Ich spürte, wie es sich mir allmählich näherte und umkreiste, ein Summen wie von einem dichten Bienenschwarm; bis es mir gelang, ein paar fast lautlose Wörter zu unterscheiden: "Bitte für uns." Das sagten sie zu mir. Da erstarrte mein Herz. Darum habt ihr mich tot aufgefunden.

    Juan Parecido, so scheint es, trifft auf Dorfbewohner von Comala, deren Besonderheit darin besteht, dass sie schon tot sind. Sie sind tot, sie sind aber nicht sehr weit gekommen, seit sie tot sind. Er sieht sich von Gespenstern umgeben, die bereits der Vorhölle angehören, also vom Leben zwar entfernt sind, ohne jedoch wirklich den Tod zu erlangen. So sagt Dorotea auf Juans Frage, dass er nicht den Himmel zu sehen bekomme:

    Der Himmel ist so hoch und meine Augen so ohne Blick, dass ich schon zufrieden war zu wissen, wo die Erde ist. Außerdem habe ich alles Interesse am Himmel verloren, seitdem mir Pater Rentería versichert hat, dass ich nie und nimmer hineinkommen würde. Dass ich das Himmelreich nicht einmal aus der Ferne zu sehen bekäme...Wegen meiner Sünden nämlich, aber er hätte es mir nicht sagen dürfen. Das Leben ist schon so mühsam genug. Das Einzige, was einen noch auf den Beinen hält, ist die Hoffnung, dass man nach dem Tod an einen anderen Ort gebracht wird; wenn einem dann aber die Tür verschlossen wird und nur noch die Hölle offen steht, dann wäre man besser gar nicht geboren...Für mich, Juan Preciado, ist der Himmel hier, wo ich jetzt bin."
    "Und deine Seele? Wohin glaubst du, ist die gegangen?"
    "Die muss auf der Erde herumirren, wie so viele andere, und Lebende suche, die für sie beten."


    Hier zeigt sich: Die Religiosität, wie sie Rulfo in der Welt Comalas darstellt, ist eine Welt ohne Transzendenz. Das Jenseits ist versperrt. Rulfos Figuren sind gläubig, aber es hilft ihnen nicht zur Erlösung. Der Pater Rentería ist selbst ein Sünder, der die Absolution nicht mehr erteilen darf; er betet die Heiligen vor sich hin wie beim Schäfchenzählen zum Einschlafen, wie er sich selbst eingesteht. Vor allem hat er Pedro Páramo bei dessen Beutezügen nach Land und Frauen nachgegeben; dieser hat sich immer das Heil mit barer Münze vom Pater erkauft und so der hemmungslosen Auspowerung des Landes Vorschub geleistet.

    Ein nicht geringer Teil des Romans ist dem Thema Liebe gewidmet. Aber in welchen Formen! Die inzestuöse, die nächtliche Verführung, die mit Gewalt erzwungene. Susana ist die einzige Figur des Romans, die sich durch ihre Verrücktheit Pedro Páramo widersetzt und ihn dadurch besiegt.

    Er machte sich mehr Gedanken um Susanna San Juan, die nur in ihrem Zimmer lag und schlief oder sich schlafend stellte. Die vergangene Nacht hatte er stehend zugebracht, gegen die Wand gelehnt, und hatte im bleichen Licht der Nachtischlampe Susanas unruhigen Körper beobachtet, das schweißnasse Gesicht, die Hände, die in den Laken wühlten und das Kissen zusammendrückten, bis ihr die Kraft ausging.
    Seitdem er sie zu sich nach Hause geholt hatte, hatte er keine anderen an ihrer Seite verbracht als diese Nächte voller Pein, voll endloser Unruhe. Und er fragte sich, wann das ein Ende nähme...
    Er glaubte sie zu kennen. Und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, genügte es denn nicht zu wissen, dass sie das Wesen war, das ihm auf Erden das Liebste war?...
    Doch wie sah die Welt von Susana San Juan aus? Das war eines der Dinge, die Pedro Páramo nie erfuhr.


    Der Leser Rulfos jedoch erfährt Susanas erotische Gefühle durch ihre Stimme, die nur Juan Preciado murmelnd im Reich der Toten vernimmt.
    Man hat wohl verschiedentlich gesagt, Juan Rulfo bilde das Idiom der mexikanischen Campesinos nach. Er hat aber für die Dialoge und Selbstgespräche eine Kunstsprache geschaffen, die in ihrer natürlichen Knappheit Ton, Atem und Farbe des mexikanischen Spanisch spüren lässt, so dass man meinen könnte, so spräche die Landbevölkerung.

    Als Juan Rulfo 1982 in Berlin auf dem Lateinamerika-Festival drei kurze Erzählungen mit Günter Grass als deutschem Rezitator lesen wollte, stellte er fest, dass er seine Brille nicht dabei hatte, und lieh sich die von Grass mit der Bemerkung, jetzt lese er mit den Augen seines Meisters! Doch zunächst war nicht die Stimme des Schöpfers der Blechtrommel zu vernehmen, sondern die unverwechselbare mexikanische Intonation Rulfos, die uns einmal mehr in murmelndem suggestivem Ton, den geheimnisvollen mündlichen Duktus seiner Prosa bestätigte, die nun in der Neuübersetzung von Dagmar Ploetz wieder zu einem Leseabenteuer wird.