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Reise nach Samarkand

Das Werk des Japaners Yasushi Inoue, der 1907 auf Hokkaido geboren wurde und 1991 in Tokio starb, erscheint seit 1964 im Suhrkamp Verlag. Viele seiner Erzählungen und Romane handeln von historischen Ereignissen; immer ist die Handlung, so verschiedenartig sie auch sein mag, ein Gleichnis auf die menschliche Existenz. Inoues Helden - beispielsweise in den Romanen "Der Sturm", "Die Höhlen von Dun-Huang", "Die Eiswand" oder "Das Tempeldach" streben mit großer Willensantrengung ein Ziel an, das sie jedoch niemals ganz erreichen. Inoues literarische Philosophie, ganz verborgen in äußerer Handlung, zeigt, daß bei allem, was der Mensch anstrebt immer ein Rest von Unerfülltheit bleibt. Leben ist ein Wechselspiel von gewinnen und verlieren, und am Ende steht unabänderlich der Tod.

Jürgen Wolf | 26.01.1999
    "Reise nach Samarkand" berichtet von den sogenannten "Westlanden", jenem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, das an Afghanistan, Pakistan, China und die Mongolei grenzt. 1965 reiste Inoue zum ersten Mal in das Land seiner Kindheitsträume und besuchte Westturkestan mit den Städten Taschkent, Samarkand und Buchara. Allerdings ist das Buch nicht in erster Linie der Reisebericht eines Schriftstellers. Aus zuverlässigen Quellen erzählt Inoue die Geschichte der "Westlande". Er berichtet von den Feldzügen Alexander des Großen, von den Überfällen durch die Araber und von den Eroberungszügen des allmächtigen Mongolenfürsten Dschingis Khan.

    Inoue macht sich auf akribische Weise auf die historische Spurensuche, und gerade darin liegt die große Schwäche seines Textes. Er ermüdet den Leser mit allzu vielen Daten, Fakten und Namen von Herrschern, Kriegern und Forschern. Eindrücke von Landschaft, Städten, Tempeln und Basaren wirken daneben wie vereinzelt aufblinkend in einem dunklen Historien und Schlachtenhimmel. Aus isolierten Fakten entsteht eben noch lange kein lebendiges, gegenwärtiges und schillerndes Bild von zentralasiatischen Fürstentümern, wie der Klappentext vollmundig ankündigt. Es verwundert, daß der Suhrkamp Verlag gerade diesen Titel aus dem immerhin 1979 schon 32 Bände umfassenden Erzählwerk dieses großen Schriftstellers ausgewählt hat.

    Zu einiger Lebendigkeit findet Inoue erst in dem Kapitel "Die Poesie der Westlande", in dem er die Spuren von Kollegen, den berühmtesten Poeten des Landes, verfolgt. Hier blitzt auf, was den Erzähler und Romancier Inoue so sehr auszeichnet. Es ist die große Kunst der schlichten Vergegenwärtigung längst vergangener Ereignisse. Er beschreibt das erste Zusammentreffen des buddhistischen und konfuzianischen Meisters Yeh-lü Chu-ts'ai und Dschingis-Khans, der gerade das Chin-Reich erobert hat. Dschingis-Khan ist von der unabhängig-furchtlosen Perönlichkeit des gerade 26jährigen Meisters so sehr beeindruckt, daß er den gelehrten Poeten bis zu seinem Tode zum persönlichen Ratgeber macht. Inoue zitiert auch Prosagedichte von Chu-ts'ai aus der "Sammlung eines nachdenklichen Dieners". In unverkennbarer ostasiatischer Symbolik handeln sie von Natur, Heimweh, Trunk und Vergänglichkeit.

    Im zweiten Teil dieses Kapitels erzählt Inoue kurz die Geschichte der Unionsrepublik Usbekistan, der Hauptstadt Taschkent und des allgegenwärtigen Dichters Nizamadin Ali Schir, der sich später "Nawa'i", der "Melodiöse", nennt. Geboren wurde er 1441 als Sohn einer Adelsfamilie türkischer Abstammung im Nordwesten des heutigen Afghanistan, und nach Jahren im Exil brach er Anfang 1501 auf einer Siegesfeier plötzlich tot zusammen.

    Auch seine Gedichte aus der berühmten Anthologie "Worte eines Vogels" singen von Wein, Welt- und Herzschmerz. Am Ende von "Reise nach Samarkand" ist Inoue wieder ganz bei seinen unverkennbaren Geschichten. Sie erzählen von der Vergänglichkeit des Großen wie auch des Kleinen in dieser Welt. In aller Behutsamkeit zeigen sie außerdem seine liebende Anteilnahme an Lebendigem und die gleichzeitige Sehnsucht nach längst Vergangenem.