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Reise unter den Augenlidern

Literatur solle den Leser angreifen, ihn aufstören, an ihm rütteln, ihn berühren. Das unterscheide sie von der bloßen Unterhaltung, schreibt die Lyrikerin Ulrike Draesner in einem Beitrag für die Literaturzeitschrift "Lettre". Der Anspruch, den sie nicht nur an ihre Gedichte, sondern in ebenso starkem Maße an die eigene Prosa richtet, ist hoch, manchmal geradezu schwindelerregend. Das war schon bei ihrem ersten Roman "Lichtpause" zu spüren, der im vergangenen Jahr erschien. Er handelte von dem tödlichen Unfall einer Elfjährigen. Die Stimme des sterbenden Mädchens rekapitulierte in Form eines artistischen Monologs eine scheinbar ganz normale Kindheit mit all ihren Zwängen und Verletzungen.

Katrin Hillgruber |
    Auch in den zehn kurzen Prosastücken des Bandes "Reisen unter den Augenlidern" steht die Sprache unter Spannung. Sie verschwestert sich gleichsam mit dem Körper, dem weiblichen vorzugsweise. "Sprache entwirft und wirft mich als Körper", heißt es an einer Stelle. Das weibliche Geschlecht erscheint als das leiblichere, zugleich als das reflexivere. Kommt das, weil Mädchen traditionell Aggressivität aberzogen wird, weil Wut sich nicht schickt? Es entsteht der Eindruck, dass Gegenwehr gegen die männlich bestimmten Verhältnisse nur auf sprachlicher Ebene möglich sei. Solche Stereotypen, und seien sie noch so kunstvoll verpackt, hinterlassen ein gewisses Unbehagen.

    Die Autorin schafft um jede ihrer Figuren ein energetisches Zentrum, nicht selten um den Preis der Verrätselung. So wie in der ersten Episode, in der sich ein Paar völlig der Ästhetik der Videokamera unterordnet. Die Worte verlieren hier ihren Wert. In einer Geschichte über Zwillingsschwestern hingegen schmiegt sich die Diktion dem eingeschränkten kindlichen Wortschatz an und erweitert sich gleichzeitig ins Lyrische, mit sich polsterndem weißen Löwenmaul und Spuckefäden, die von den Bergen hängen. Diese Bildsprache führt zu den unmittelbaren kindlichen Erfahrungen zurück. Ulrike Draesner schildert, wie sie in ihren Erzählungen ein Panorama der Lebensalter und entsprechenden Empfindungen entwirft:

    "Es ist ein Frauenbogen, der eigentlich dabei einsetzt bei der Frage nach einem Kind, ein Kind selbst zu sein, ein Kind zu bekommen, dann über die Pubertät geht zu einer Frau, die vielleicht in ihren Zwanzigern ist, in einer Beziehung steckt, an Bulimie beziehungsweise Magersucht leidet und über verschiedene Stationen dann am Ende herauskommt bei einer alten, vielleicht 80-, 90jährigen, die einen ziemlich verrückten Monolog hält im Jahre 2040 oder 2050 in einem Altersheim. [...] Ich glaube, dass es nach wie vor einen sehr, sehr großen Unterschied macht, ob man als Mann oder Frau oder als Mädchen oder Junge in diese Gesellschaft hineingeboren wird. Es macht sprachlich einen Unterschied, natürlich auch von all den Verhaltensmustern, die an einen herangetragen werden, und von den Rollenmustern innerhalb der Geschlechterkonstellation. Die ändern sich zwar, ändern sich in viele verschiedene Richtungen. Es ist so, dass die Frauen, die in den "Reisen unter den Augenlidern" auftreten, immer wieder mit Männern konfrontiert sind, die ihnen gegenüber in einer Position sind, in der sie scheinbar oder wirklich etwas zu sagen haben. Und ganz auffällig natürlich in der Situation der alten Frau, die sich Ärzten gegenübersieht beziehungsweise einen Sohn hat oder ihn phantasiert, auch darüber bestimmten möchte, was jetzt mit ihr geschieht. Genauso aber auch in der Situation der Frau, die an Magersucht leidet. Sie hat eine Art doppeltes Gegenüber. Auch in diesem Wortsinn von "gegen" und "über", zum einen ihren Freund, der ihren Körper ansieht, ihn kritisiert, und natürlich die Gesellschaft und der gesellschaftliche Druck, der ausgeübt wird über das Aussehen, wie man sich verhält, was man essen darf, wie man aussehen kann. Und auch ganz offensichtlich sehen die Regulative da für Frauen noch mal strenger aus als für Männer, auch, wenn auch jetzt allmählich sozusagen ein gewisser Ausgleich stattfindet und immer Männer an Magersucht erkranken."

    Die Frauen und Mädchen, von denen berichtet wird, benutzen ihren Körper häufig als Symbolfeld, um sichtbar zu machen, was sie nicht aussprechen können. Dabei kann es geschehen, dass dieser Sprach-Körper eine eigene Dynamik entwickelt. Am deutlichsten wird der Bezug von Körper und Sprache in dem erwähnten Text "Magern", einem Kapitel aus Ulrike Draesners geplantem Roman "Lück". "Magern" handelt, wie unschwer zu erraten ist, von den Krankheitsetappen einer Magersüchtigen, von ihrer Gefühls- und Gedankenwelt, die sich immer mehr auf das Thema Essen oder Nicht-Essen verengt - keine unbedingt neue Materie.

    Die Frage, die sich bei dieser Art von programmatischer Prosa stellt, ist eine grundsätzliche: Wie hält die Autorin das Gleichgewicht zwischen Handlung und Reflexion? Wie lassen sich derart intensive innere Monologe wie jener der Magersüchtigen in einen narrativen Spannungsbogen integrieren? Je dünner die Protagonistin in "Magern" wird, desto knapper fallen die Sätze aus. Die Sprache ahmt in ihrem Gestus die Besessenheit der Kranken nach, vor allem durch die Wiederholung bestimmter Leitmotive und Leitsätze. Für Ulrike Draesner hat die Diskussion über den lyrischen Charakter ihres Stils und dessen in Zweifel stehende Verträglichkeit mit einem klassischen Erzählverlauf in erster Linie eine ideologische Dimension:

    "Das ist wirklich eine Frage: Was suche ich als Leser in einem literarischen Text? Was würde ich selbst gerne lesen, wovon würde ich mich auch überraschen lassen. Welches Verhältnis zwischen Sprache, Rhythmus und Handlungstransport darf oder muss es geben. Und ich finde, dass die Vorstellungen darüber, wie Prosa aussehen soll, also wie ihre Handlungshaltigkeit ist, sehr, sehr stark ideologisch sind, sehr festgelegt eigentlich, bestimmt auch durch die Diskussion, diesen Feuilletonstreit der letzten Jahre, darauf, dass man sozusagen eine gewisse Handlungsdichte, ich sag’ mal etwas polemisch Actiondichte erwartet und eigentlich sehr wenig bereit ist, viel weniger als bei Gedichten, sich darauf einzulassen, dass die Sprache selbst Handlung sein kann, psychische, innere Handlung. Und dass sich natürlich darüber, wenn eine Figur ständig bestimmte Wörter wieder benutzt, ständig bestimmte Rhythmen benutzt in ihrer Sprache über sich selbst, dass sie damit etwas sagt über ihre psychische Struktur und über die Drehungen, die da stattfinden. [...] Ich habe nicht die Konzeption: Ich habe eine bestimmte Handlung vor Augen, weiß sie vom Anfang bis zum Ende und schreibe jetzt sozusagen diese Handlung aus und gieße sie in Sprache. Ich habe eine ganz andere Vorstellung davon, wie das zusammenhängt, dass das wirklich ein inneres Verhältnis zueinander bildet. Und die Handlung entsteht zum Teil über die Sprache, so wie auch Erinnerung sehr häufig beim Sprechen über die Sprache entsteht, was man leicht daran merkt, wenn man scheinbar ein- und dieselbe Erinnerung einmal auf deutsch, und einmal auf englisch oder auf französisch oder so was erzählt, und plötzlich verändert sich die Geschichte, die man erzählt."

    Die "Reisen unter den Augenlidern" lassen sich thematisch nicht auf die Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen reduzieren. Die Geschichte "Wir: :Wir" markiert die Ankunft der aus München stammenden Erzählerin Ulrike Draesner im Ost-Berliner Prenzlauer Berg. Dort hat sie sich aufgemacht, die örtlichen Identitäten zwischen sanierten Hinterhöfen und "Rudis Resterampe" mit ihrem poetischen Sezierbesteck zu erkunden. Solche Ausflüge in die Wirklichkeit jenseits von zwischenmenschlichen Konflikten wirken befreiend. Man möchte mehr davon lesen.