Samstag, 20. April 2024

Archiv

Reisen in der Belle Époque
Das Musée du Bagage im elsässischen Hagenau

Drei bis sechs mal die Kleidung zu wechseln war in der sogenannten Belle Époque keine Seltenheit. Wer um 1900 allein oder mit seiner ganzen Familie verreisen wollte, brauchte darum vor allem eines: viele Koffer. Welcher Art und wie sich das Reisen seit damals verändert hat, davon erzählt das Musée du Bagage im elsässischen Hagenau.

Von Manfred Schuchmann | 15.01.2017
    Eine lederbezogene Truhe, mit der man früher durchaus auch auf Reisen ging.
    Eine lederbezogene Truhe, mit der man früher durchaus auch auf Reisen ging. (Imago)
    Ankunft im elsässischen Hagenau, nördlich von Straßburg. Vom Bahnhof in die Rue Saint-Georges sind es nur ein paar Schritte, auf denen uns das Geräusch des Rollkoffers begleitet. Der unvermeidliche Rollkoffer! Das universale Hintergrundgeräusch des Reisens, wo immer wir unterwegs sind.
    Die wenigen 100 Schritte hinüber in die Rue Saint-Georges Nr. 5 genügen, und wir finden uns zurückversetzt in eine Zeit, bevor es PVC und Nylon gab und also: keinen Rollkoffer.
    Die Rue Saint-Georges entführt uns in die Belle Époque des Reisens, als Madame ein taillenenges, bodenlanges Kleid trug und einen riesigen Hut; Monsieur stets einen dreiteiligen Anzug, die Uhrenkette fest im Knopfloch. Ja, es ist die Zeit von Dampfeisenbahn und Pferdedroschke - und von ungeheuer großem, unglaublich schwerem Gepäck! Das trug der ehrenwerte Berufsstand des porteurs.
    "Er bringt euch die Karre, um Ihre große Gepäcktruhe mitzunehmen. Die Karre läuft über den Bürgersteig und läuft und läuft, bis sie ein Fiaker trifft, und dann stellt er sie ab und der Koffer wird runtergeladen."
    Marcel Neiss ist selbst natürlich kein porteur, kein Gepäckträger, er spielt ihn nur. Marcel Neiss führt deutsche Besucher durch das Hagenauer Musée du Bagage in der Rue Saint-Georges Nr. 5.
    Musée du Bagage - das klingt von vornherein viel mondäner als die trockene Übersetzung Gepäckmuseum. Hier, in Hagenau, sind wir mitten in der Kulturgeschichte des Reisens um 19oo. Im richtigen Leben hat Marcel Neiss übrigens für die "DNA" geschrieben, die "Dernières Nouvelles d'Alsace", die größte Tageszeitung der Region. Denn Gepäckträger gibt es heute nicht mehr, genau wie Handkarren und Fiaker längst aus dem Straßenbild verschwunden sind. Wir reisen mit leichtem Gepäck und schleppen selbst.
    Sperrige Schätze
    "Dieser Koffer war ausschließlich für die Damenkleider, man musste sich damals drei- bis sechsmal pro Tag umkleiden - da musste man schon für sehr große Koffer sorgen."
    Ein schöner Koffer, ein sehr voluminöser Koffer, auf den Marie Rolland da zeigt: man könnte mühelos auch ein halbes Klavier darin verstecken. Marie Rolland ist malletier, Koffermacherin, eine der letzten ihrer Art. Und sie ist Sammlerin von über 700 Koffern, Kisten, Truhen und aller Arten von Transportbehältnissen, die leicht aus der Mode gekommen sind. Rund 200 ihrer sperrigen Schätze hat sie dem Musée du Bagage in Hagenau zur Verfügung gestellt. Das Museum ist im Parterre eines Palais untergebracht, das ehedem die Hagenauer Filiale der Bank von Frankreich beherbergte - stilvoll historistisch. Im Foyer empfängt uns ein dekorativer Heißluftballon, soll heißen: hier darf die Fantasie entschweben.
    "Das ist das Büro, das tragbare Büro, das Sir Arthur Conan Doyle bestellt hat, um überall schreiben zu können." - "Das Ganze ist aus Pappelholz gearbeitet, schön biegsam, auf einem Schiff zum Beispiel wird so ein Kofferbüro ziemlich durchgeschüttelt - aber das hält es aus. Dann gibt es hier eine Schublade für die Schreibmaschine, oder dort für wichtige Dokumente."
    Und eine Schublade für das nächste "Sherlock-Holmes"-Manuskript, eine ausklappbare Schreibplatte mit Kerzenhalter, Tintenfass, Papierschere, Füller und Stiften - kurzum: ein Wunderwerk der Koffermacher-Kunst. Schade nur, dass es kein nächstes Sherlock-Holmes-Manuskript mehr gab: Sir Arthur Conan Doyle, der weltberühmte Krimi-Autor, verstarb kurz vor der Auslieferung seines herrlichen Reise-Büros der französischen Firma Goyard!
    Marie Rolland lässt die Schlösser einer großen Reisetruhe aufschnappen: lederbezogenes Holz, hölzerne Leisten rundherum, mit Messingnieten beschlagen, edel und robust. Nebenan ein Koffer in dunkelblau, wachsgetränkte Leinwand schützt ihn gegen Regen. Dann eine kühlschrankgroße Reisekommode mit 3o niedlichen Schubladen, ganz in Leder und Samt - einzig angefertigt für 3o Paar Damenschuhe auf Reisen. Und schließlich ein weltbekanntes Markenzeichen: LV steht seit 1896 für Louis Vuitton und verdankt sein Design einer Badezimmerkachel:
    "Vuitton liebte die Kacheln im Badezimmer seines Hauses. Er hat sich das Muster abgeschaut, das wir heute für 'typisch Vuitton' halten, leicht vereinfacht und mit seinem Monogramm LV versehen - um sich von anderen Koffermachern zu unterscheiden." - "Man kann sich ja nicht vorstellen, wie damals die reichen Leute unbedingt aus der Masse, aus dem Pöbel sich rausheben wollten, noch viel mehr als heute. Die wollten unbedingt, dass man merkt, sie gehören nicht zu der Masse."
    Reisen: Eine Frage des Geldes
    Dazu hätte es seinerzeit keines Markenzeichens bedurft: Reisen konnte sich sowieso nur leisten, wer genügend Geld in der Brieftasche hatte. Ein Lehrer verdiente 5o Francs im Monat, ein einziger Koffer kostete mindestens das Doppelte! Und wenn die "grande bourgeoisie" auf Reisen ging, hatte sie pro Familie samt Dienerschaft Dutzende Koffer dabei - für Wäsche, Kleider, Hüte, Schuhe (alles drei bis sechsmal am Tag zu wechseln!), eine kleine Kofferkommode für den Schmuck von Madame, ein faltbares Büro für Monsieur, das halbe Badezimmer und die halbe Küchenausstattung, Picknickkörbe, Sonnenschirme ..... und das Ganze noch einmal in Puppengröße für die lieben Kleinen. Alles zu bestaunen im Musée du Bagage.
    Ein Koffer für Entdecker
    Wie bescheiden, wie demokratisch nimmt sich dagegen unser Rollköfferchen aus - nur mit dem Nötigsten bestückt! Ach ja, sollte das letzte Hotelzimmer in Hagenau gerade ausgebucht sein. Marie Rolland hat in ihrer Sammlung auch für den Notfall eine Lösung parat:
    "Hier haben wir den Koffer für Entdecker, die ein bisschen höher schlafen wollten als gerade auf dem nackten Boden. Ein 2-Meter-Bett lässt sich in einen Koffer von gerade mal 7o Zentimetern falten."
    Eine leichte Matratze eingeschlossen: das Kofferbett aus dem Hause LV und dem Jahre 1868 war für den Abenteurer mit dem gewissen Komfortanspruch gedacht. Wir demokratischen Rollkoffer-Besitzer können derlei Extravaganzen natürlich nicht aus der Tasche zaubern, wir begnügen uns mit einem halb nostalgischen, halb amüsierten Blick zurück auf die Welt des Reisens in der Belle Époque.
    Au revoir et bon voyage!