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Reisender wider Willen

Selten begegnet man in der Literatur nach Auschwitz einem literarischen Werk, das so homogen die Individualität als Kern der Humanität repräsentiert wie das von Imre Kertesz. Derselbe Zusammenklang beseelt auch den Briefwechsel zwischen Kertesz und seiner Schweizer Briefpartnerin Eva Haldiman.

Von Beatrix Langner | 09.11.2009
    Dass ich Ungar bin, ist um nichts absurder, als dass ich Jude bin; und dass ich Jude bin, ist nicht absurder, als dass ich überhaupt bin. Nach Auschwitz ist das die einzig mögliche Definition für mich geblieben. Man glaube nicht, dass es so leicht war, zu dieser vielleicht aphoristisch, manchem vielleicht sogar witzig erscheinenden Formulierung zu kommen. Man glaube nicht, dass es so leicht war, aus den Trümmern meiner mit Stiefeln getretenen Persönlichkeit wieder eine solche Individualität aufzubauen und gegen alle Widerstände dauerhaft aufrechtzuerhalten.
    In einem Brief vom 25. September 1990 an das Präsidium des Ungarischen Schriftstellerverbandes erklärte Imre Kertesz, geboren am 9. November 1929 in Budapest, 1944 nach Auschwitz deportiert und als 16-Jähriger 1945 aus dem KZ Buchenwald befreit, seinen Austritt aus dem Verband. Die mehrseitige Erklärung ist nun nachzulesen innerhalb des Briefwechsels, den Imre Kertesz seit 1977 in ungarischer Sprache mit der Schweizer Kritikerin und Übersetzerin Eva Haldimann führte.

    Ich habe es immer für meine Aufgabe – und zugleich für mein schriftstellerisches Glaubensbekenntnis - gehalten, der Welt die Zerbrechlichkeit und Verletzbarkeit meiner Individualität darzubieten: sämtlichen Erschießungskommandos der Welt – aber auch den aufnahmebereiten Herzen.
    Dem Austritt vorausgegangen waren öffentliche antisemitische Äußerungen eines von fünf Präsidiumsmitgliedern, dessen unverfrorener Gebrauch des Wortes Assimilation für das Zusammenleben von jüdischen und nichtjüdischen Ungarn ein schneidendes Licht auf den – wie es Kertesz dann treffend nannte – präventiven Antisemitismus im nachsozialistischen Ungarn warf. Kertesz' Briefe an Haldimann, denn nur diese werden uns überwiegend bekannt gemacht - umschließen eine ganze Kette verhängnisvoller Angriffe in den 1990er-Jahren auf ungarische Schriftsteller wie Peter Nadas, György Dalos, Rudolf Ungvary, Imre Kertesz, die zum Teil außerhalb Ungarns ausgetragen wurden.

    Eine Tagung in der Evangelischen Akademie Tutzing im Herbst 1993 wurde zum Eklat, nachdem der damalige Leiter des ungarischen Kulturhauses in Berlin, der schon 1990 vom "Stellungskrieg" des "in- und ausländischen Judentums" gegen ungarische Ungarn gesprochen hatte, gegen die Einladung der genannten Teilnehmer protestiert hatte. Eva Haldimann, die ebenfalls eingeladen war, reiste gar nicht erst an; auch sie geriet nun zunehmend in die Schusslinie nationallungarischer Apologeten und ihres, wie Kertesz festhält, "völkischungarischen" Vokabulars. Ihre Rezensionen in der Neuen Zürcher Zeitung hatten den in Ungarn seit Jahren totgeschwiegenen Autor des "Romans eines Schicksallosen" im Westen erst bekannt gemacht. Sie begleitete seine Bücher "Fiasko", "Galeerentagebuch", "Die englische Flagge" mit analytischem Feingefühl und Verve auf ihrem Triumphzug in die USA und durch westeuropäische Verlagshäuser.

    1992 erwarb der Rowohltverlag Reinbek die Weltrechte an Imre Kertesz' Büchern. Eva Haldimann erfährt es von einem glücklichen Imre Kertesz.

    Das bedeutet vor allem, dass meine Bücher ins Deutsche übersetzt werden. Und ich kann mich nicht des Gefühls erwehren, mich damit vielleicht aus jener Sprache gerettet zu haben, die meine Arbeiten – vielleicht nur, weil meine Herkunft und demzufolge auch die in diesen Arbeiten eingeflossenen Erlebnisse und Erfahrungen 'nicht genehm' sind – die also meine Arbeiten einfach ausstoßen könnte.
    Wir sehen in diesen Briefen zwischen 1977 und 2000 – und es tut weh, das zu sehen – einen großen, vielleicht den bedeutendsten ungarischen Schriftsteller nach dem Zweiten Weltkrieg - ruhelos reisend zwischen Budapest, Wien, Berlin, Feldafing, Zürich, Paris. Wir sehen einen Reisenden wider Willen, gehetzt zwischen Deutschland - dessen Sprache er spricht, in dem seine Bücher endlich die verdienten Erfolge feiern - und Ungarn, seinem Geburtsland, in dem eine kleine Gruppe Intellektueller geradezu hassvoll versucht, ihn als Überlebenden des Holocaust zu stigmatisieren und aus der ungarischen Gesellschaft auszugrenzen. Was nichts anderes bedeutet als den ungarischen Holocaust an 600.000 Juden - und darum "präventiver Antisemitismus" - gewissermaßen in Gedanken fortzusetzen, um sich so der allfälligen politischen Schulddebatte zu entziehen, während die rechten Kräfte im Parlament erstarken.

    Ich lasse nicht zu, dass man mich aus meiner Individualität ausgrenzt; ich lasse nicht zu, dass man, seien es Juden oder Nichtjuden, mich nach den Gefängnisjahrzehnten des Totalitarismus durch "Judentum" definiert.
    Aber wir sehen auch exemplarisch, wie lebenswichtig kongeniale literarische Übersetzer für einen bedrängten Schriftsteller werden können – in Kertesz' Fall sind das neben Eva Haldimann u.a. Ilma Rakusa und Kristin Schwamm, die auch die Briefe nebst dokumentarischem Anhang übertrug.

    Selten begegnet man in der sogenannten "Literatur nach Auschwitz" einem literarischen Werk, das so homogen und so schlackenlos rein die besondere Individualität als glühenden Kern der allgemeinen Humanität repräsentiert. Denn in jedem der Millionen Opfer des faschistischen Mordrauschs zwischen 1933 und 1945 wurde zuerst die Würde getötet, das Ich, die Persönlichkeit, die Humanität. Davon, und nur davon, erzählen all die wunderbaren Bücher von Imre Kertesz. Derselbe reine Zusammenklang begegnet einem nun in diesem Briefwechsel: ein herzlicher, verletzlicher, offener, zur Freundschaft hochbegabter Mensch, der in seiner Schweizer Briefpartnerin nicht nur die literarische Ko-Kombattantin, sondern immer auch die gütige Person, den "Lebensmenschen", die Freundin anspricht.

    Imre Kertesz: "Briefe an Eva Haldiman", aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm, Rowohlt Verlag Reinbek 2009, 141 S.