"Im Schams weiß jeder Bub, was ein 'Talatg' ist. Und an einem richtigen 'Talatg' mit seinem klaren Ton hat zweifellos jeder Bub die größte Freude, erst recht, wenn er von einer schönen Kuh getragen wird. Wenn ich die guten alten Kuhschellen höre, ist mir noch heute, als müsste ich den Stock ergreifen, den durchlöcherten Hut aufsetzen und über die Weide hinter meinen Tieren aufwärts ziehen."
Tumasch Dolf, der sich hier viele Jahre später an sein erstes eigenes "Talatg", eine Kuhglocke, erinnert, war Schriftsteller, Komponist und Lehrer. Geboren wurde er 1889 in Mathon, einem 57-Seelen-Dorf 40 Kilometer südlich von Chur, in einem alten Bauernhaus neben dem Dorfbrunnen. Auf dem Tisch in der Stube soll immer noch seine Geige liegen. Heute steht das Haus leer, eine Gedenktafel erinnert an ihn – auf Romanisch.
Willy Dolf, 55 Jahre alt, ist mit seinem 1963 verstorbenen Namensvetter nicht verwandt. Er ist einer der sieben Bauern von Mathon am Schamserberg. Er und seine Frau Martina besitzen 20 Mutterkühe mit Kälbern auf einen Biohof am unteren Rand des Dorfes.
Auf dem kleinen Friedhof neben der Kirche liegt Tumasch Dolf begraben. Von hier aus überblickt man das ganze Tal. Gegenüber erheben sich Piz Grisch, La Tschera und Piz Curver auf bis zu 3000 Meter. Unten, entlang des Hinterrheins, zieht sich als langes Band die Schnellstraße von der Via Mala, der "schlechten Straße" zum San Bernhardino. Die größeren Orte, Zillis und Andeer, sind kleine Flecken im Talgrund. Muntsulegl, Sonnenberg, heißt der grüne Südhang des Schams auf Romanisch. Das kleine Mathon hat zwei Kirchen. Die ältere, die aus dem 13. Jahrhundert stammt, ist nur noch Ruine. "Dorf der schönen Glocken" wird Mathon auch genannt:
Willy Dolf: "Wenn man weg ist und diese Glocke hört, dann gibt es da diese Schweizerkrankheit, das sogenannte Heimweh."
In der neuen reformierten Kirche aus der Zeit des Barock stehen verzierte Bänke mit denselben Namen wie auf den Grabsteinen: Dolf, Sutter, Clopath. Die mit Blumen und Vögeln bunt bemalte Orgel war das erste Instrument dieser Art am Schamser Berg. Die ältesten Pfeifen stammen noch aus dem 18., die jüngsten aus dem 20. Jahrhundert.
Kirchenmusik aus Guatemala, gespielt von einem chilenischen Organisten – auch so etwas kann man in Mathon hören. Hier wie in den umliegenden Dörfern finden immer wieder Konzerte statt.
Der Schamser Berg ist Kulturland, Bauernland. Auf den Terrassen, die noch deutlich erkennbar sind, wurden früher Getreide und Kartoffeln angebaut. Im August wird, wie schon vor vielen Hundert Jahren, das Heu eingebracht.
Willy Dolf erinnert sich:
"Das war die Auffahrt in den Stall, über diese Holzbohlen, da wurden Ross und Wagen mit dem Heu fuhr da herein, ich hab das als Kind noch mit gehört, das war so ein Gerumpel so wie ein Donnergrollen. Wenn man das Donnern gehört hat, hat man gesagt, der Herrgott zieht seinen Heuwagen in den Stall."
Mittlerweile benutzt man zu diesem Zweck hochmoderne Gefährte, die in haarsträubend steilem Winkel an den Berghängen kleben. Aber immer noch haben die Bauern mit dem Heuen alle Hände voll zu tun. Dabei ist auch die Mithilfe von Urlaubern willkommen.
"Die Leute sind eingeladen mit uns zu leben während einer Zeit im Jahr. Die Feriengäste, die zu uns kommen, nehmen uns das ab, dass wir es so erleben, wie wir es auch rüberbringen. Es ist nicht gekünstelt, sondern das sind wir, wie wir sind."
Mathon liegt auf 1520 Metern über dem Meeresspiegel. Im Dorfkern stehen alte Bauernhäuser, Wohnhaus und Stall mit dicken Mauern und weiß verputzt, der Heuschober aus ganzen, ohne Nägel aufeinandergelegten Baumstämmen.
Einige Häuser sind sparsam mit Sgraffiti verziert. Aber nicht nur an Tumasch Dolfs Geburtshaus bleiben die Fensterläden geschlossen. Im Jargon der Schweizer Verwaltung gilt die Gegend als "potenzialarm": Wenig Gewerbe, wenig Tourismus, wenig Finanzkraft. Es gibt auch Sorgen am Schamserberg.
Ohne Subventionen müssten die Bauern hier oben ihre Hoftüren zusperren. Die Schweizer Bundeskasse unterstützt mit den Zahlungen die Pflege des Kultur- und Naturraumes. Sie zahlt zum Beispiel höhere Zuwendungen, je mehr seltene Blumenarten auf den Wiesen wachsen. So tragen Bauern wie Willy Dolf zur Erhaltung der Artenvielfalt bei. Und sie kümmern sich um das Dorfleben. Es gibt einen gut sortierten Laden mit Post, zwei Postbushaltestellen und das Restaurant Muntsulej mit Fremdenzimmern. Es liegt am Ortseingang. Der moderne Holzbau mit Niedrigenergietechnik dient zugleich als Dorfgemeinschaftshaus. Man hat für den Bau extra eine Genossenschaft gegründet, jeder Dorfbewohner ist Anteilseigner, Fördergelder des Kantons Graubünden wurden hart erkämpft.
Über dem Dorf, auf über 1800 Metern Höhe, grast eine hellbraune Kuh mit zwei Adoptivkälbchen. Hier stehen alte Maiensässe, einfache kleine Wohnhäuser aus dunkel gewordenem Holz, in denen die Bauernfamilien früher die Zeit von Ende Mai bis zum Beginn des Winters zubrachten. Einige Bauern leben während der Zeit des Heuens immer noch hier oben, andere Maiensässe werden an Urlauber vermietet. Im Winter führt eine Rodelbahn von hier oben bis ins Tal hinunter: eine Strecke von sieben Kilometern. Oberhalb der Baumgrenze erstreckt sich ein weites Wiesenland, auf dem nach der Schneeschmelze die herrlichsten Blumen wachsen: Knabenkraut, Federnelken, Arnika, Enziane aller Art. Auch Murmeltiere leben hier.
Mit schrillem Pfeifen, das eigentlich ein Ruf ist, warnen sie den Nachwuchs vor nahenden Wanderern. Ein beliebtes Ziel ist der Piz Beverin. Er ist zwar fast 3000 Meter hoch, lässt sich aber auch mit Kindern bezwingen. An einer Flanke des Berges weidet Jungvieh, das auf der Alp den Sommer verbringen darf, bevor es im Herbst wieder in die Dörfer geht. Wer weiter in die Felsen hinaufsteigt, wird vielleicht einigen Steinböcken begegnen, hinter dem Piz Beverin lebt eine Kolonie von rund 350 Exemplaren der seltenen Tiere. Und überall fließen Bäche dem Hinterrhein zu.
Knapp 400 Menschen leben in den sieben Dörfern am Schamserberg. Über die Hälfte von ihnen gibt noch heute Romanisch als Mutter- und Umgangssprache an, die Sprache in der Tumasch Dolf seine Geschichten verfasste. Genauer gesagt handelt es sich um Sutselvisch, das kleinste der romanischen Idiome. Hier gibt es auch die einzige Grundschule, wo Kinder in dieser Sprache lernen können. Von der ersten bis zur dritten Klasse wird ausschließlich auf Romanisch unterrichtet. Sutselvisch ist eine sehr alte, urtümliche Sprache mit lautmalerischen Worten wie "ramuren", was "sprudeln" bedeutet. Sie klingt wie in diesen Versen, die Willy Dolf abends immer mit seinen Kindern sang:
"Da oben sprudeln die Bäche und es blühen schöne Blumen. Unser Alpleben würden wir mit keinem tauschen."
Tumasch Dolf, der sich hier viele Jahre später an sein erstes eigenes "Talatg", eine Kuhglocke, erinnert, war Schriftsteller, Komponist und Lehrer. Geboren wurde er 1889 in Mathon, einem 57-Seelen-Dorf 40 Kilometer südlich von Chur, in einem alten Bauernhaus neben dem Dorfbrunnen. Auf dem Tisch in der Stube soll immer noch seine Geige liegen. Heute steht das Haus leer, eine Gedenktafel erinnert an ihn – auf Romanisch.
Willy Dolf, 55 Jahre alt, ist mit seinem 1963 verstorbenen Namensvetter nicht verwandt. Er ist einer der sieben Bauern von Mathon am Schamserberg. Er und seine Frau Martina besitzen 20 Mutterkühe mit Kälbern auf einen Biohof am unteren Rand des Dorfes.
Auf dem kleinen Friedhof neben der Kirche liegt Tumasch Dolf begraben. Von hier aus überblickt man das ganze Tal. Gegenüber erheben sich Piz Grisch, La Tschera und Piz Curver auf bis zu 3000 Meter. Unten, entlang des Hinterrheins, zieht sich als langes Band die Schnellstraße von der Via Mala, der "schlechten Straße" zum San Bernhardino. Die größeren Orte, Zillis und Andeer, sind kleine Flecken im Talgrund. Muntsulegl, Sonnenberg, heißt der grüne Südhang des Schams auf Romanisch. Das kleine Mathon hat zwei Kirchen. Die ältere, die aus dem 13. Jahrhundert stammt, ist nur noch Ruine. "Dorf der schönen Glocken" wird Mathon auch genannt:
Willy Dolf: "Wenn man weg ist und diese Glocke hört, dann gibt es da diese Schweizerkrankheit, das sogenannte Heimweh."
In der neuen reformierten Kirche aus der Zeit des Barock stehen verzierte Bänke mit denselben Namen wie auf den Grabsteinen: Dolf, Sutter, Clopath. Die mit Blumen und Vögeln bunt bemalte Orgel war das erste Instrument dieser Art am Schamser Berg. Die ältesten Pfeifen stammen noch aus dem 18., die jüngsten aus dem 20. Jahrhundert.
Kirchenmusik aus Guatemala, gespielt von einem chilenischen Organisten – auch so etwas kann man in Mathon hören. Hier wie in den umliegenden Dörfern finden immer wieder Konzerte statt.
Der Schamser Berg ist Kulturland, Bauernland. Auf den Terrassen, die noch deutlich erkennbar sind, wurden früher Getreide und Kartoffeln angebaut. Im August wird, wie schon vor vielen Hundert Jahren, das Heu eingebracht.
Willy Dolf erinnert sich:
"Das war die Auffahrt in den Stall, über diese Holzbohlen, da wurden Ross und Wagen mit dem Heu fuhr da herein, ich hab das als Kind noch mit gehört, das war so ein Gerumpel so wie ein Donnergrollen. Wenn man das Donnern gehört hat, hat man gesagt, der Herrgott zieht seinen Heuwagen in den Stall."
Mittlerweile benutzt man zu diesem Zweck hochmoderne Gefährte, die in haarsträubend steilem Winkel an den Berghängen kleben. Aber immer noch haben die Bauern mit dem Heuen alle Hände voll zu tun. Dabei ist auch die Mithilfe von Urlaubern willkommen.
"Die Leute sind eingeladen mit uns zu leben während einer Zeit im Jahr. Die Feriengäste, die zu uns kommen, nehmen uns das ab, dass wir es so erleben, wie wir es auch rüberbringen. Es ist nicht gekünstelt, sondern das sind wir, wie wir sind."
Mathon liegt auf 1520 Metern über dem Meeresspiegel. Im Dorfkern stehen alte Bauernhäuser, Wohnhaus und Stall mit dicken Mauern und weiß verputzt, der Heuschober aus ganzen, ohne Nägel aufeinandergelegten Baumstämmen.
Einige Häuser sind sparsam mit Sgraffiti verziert. Aber nicht nur an Tumasch Dolfs Geburtshaus bleiben die Fensterläden geschlossen. Im Jargon der Schweizer Verwaltung gilt die Gegend als "potenzialarm": Wenig Gewerbe, wenig Tourismus, wenig Finanzkraft. Es gibt auch Sorgen am Schamserberg.
Ohne Subventionen müssten die Bauern hier oben ihre Hoftüren zusperren. Die Schweizer Bundeskasse unterstützt mit den Zahlungen die Pflege des Kultur- und Naturraumes. Sie zahlt zum Beispiel höhere Zuwendungen, je mehr seltene Blumenarten auf den Wiesen wachsen. So tragen Bauern wie Willy Dolf zur Erhaltung der Artenvielfalt bei. Und sie kümmern sich um das Dorfleben. Es gibt einen gut sortierten Laden mit Post, zwei Postbushaltestellen und das Restaurant Muntsulej mit Fremdenzimmern. Es liegt am Ortseingang. Der moderne Holzbau mit Niedrigenergietechnik dient zugleich als Dorfgemeinschaftshaus. Man hat für den Bau extra eine Genossenschaft gegründet, jeder Dorfbewohner ist Anteilseigner, Fördergelder des Kantons Graubünden wurden hart erkämpft.
Über dem Dorf, auf über 1800 Metern Höhe, grast eine hellbraune Kuh mit zwei Adoptivkälbchen. Hier stehen alte Maiensässe, einfache kleine Wohnhäuser aus dunkel gewordenem Holz, in denen die Bauernfamilien früher die Zeit von Ende Mai bis zum Beginn des Winters zubrachten. Einige Bauern leben während der Zeit des Heuens immer noch hier oben, andere Maiensässe werden an Urlauber vermietet. Im Winter führt eine Rodelbahn von hier oben bis ins Tal hinunter: eine Strecke von sieben Kilometern. Oberhalb der Baumgrenze erstreckt sich ein weites Wiesenland, auf dem nach der Schneeschmelze die herrlichsten Blumen wachsen: Knabenkraut, Federnelken, Arnika, Enziane aller Art. Auch Murmeltiere leben hier.
Mit schrillem Pfeifen, das eigentlich ein Ruf ist, warnen sie den Nachwuchs vor nahenden Wanderern. Ein beliebtes Ziel ist der Piz Beverin. Er ist zwar fast 3000 Meter hoch, lässt sich aber auch mit Kindern bezwingen. An einer Flanke des Berges weidet Jungvieh, das auf der Alp den Sommer verbringen darf, bevor es im Herbst wieder in die Dörfer geht. Wer weiter in die Felsen hinaufsteigt, wird vielleicht einigen Steinböcken begegnen, hinter dem Piz Beverin lebt eine Kolonie von rund 350 Exemplaren der seltenen Tiere. Und überall fließen Bäche dem Hinterrhein zu.
Knapp 400 Menschen leben in den sieben Dörfern am Schamserberg. Über die Hälfte von ihnen gibt noch heute Romanisch als Mutter- und Umgangssprache an, die Sprache in der Tumasch Dolf seine Geschichten verfasste. Genauer gesagt handelt es sich um Sutselvisch, das kleinste der romanischen Idiome. Hier gibt es auch die einzige Grundschule, wo Kinder in dieser Sprache lernen können. Von der ersten bis zur dritten Klasse wird ausschließlich auf Romanisch unterrichtet. Sutselvisch ist eine sehr alte, urtümliche Sprache mit lautmalerischen Worten wie "ramuren", was "sprudeln" bedeutet. Sie klingt wie in diesen Versen, die Willy Dolf abends immer mit seinen Kindern sang:
"Da oben sprudeln die Bäche und es blühen schöne Blumen. Unser Alpleben würden wir mit keinem tauschen."