Donnerstag, 28. März 2024

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Religiöse Orte
Von Druidenbaum bis Tierfriedhof

Auch in der Corona-Pandemie könne man sich "innerlich auf die Reise machen", sagte Johann Hinrich Claussen, EKD-Kulturbeauftragter, im Dlf. Mit seinem Buch über ungewöhnliche religiöse Orte rund um die Welt wolle er zeigen, "was Religion an Stärkung und Trost" leiste - selbst nach Terroranschlägen.

Johann Hinrich Claussen im Gespräch mit Andreas Main | 09.12.2020
Japanischer Garten des EKO-Hauses in Düsseldorf (einem japanischen Kulturverein)
Einer von Johann Hinrich Claussens "seltsamsten Orten der Religionen": der japanische Garten des EKO-Hauses in Düsseldorf (Deutschlandradio/Christian Bongers)
Johann Hinrich Claussen ist Autor, Theologe und Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Jetzt hat er ein Buch geschrieben, das sehr gut in die Corona-Zeit passt - oder auch komplett aus dieser Zeit herausfällt. Denn es ist ein Reisebuch in einer Zeit, in der kaum gereist werden kann. Claussen nimmt seine Leserinnen und Leser darin mit an die "seltsamsten Orte der Religionen".
Andreas Main: Herr Claussen, wenn wir die Corona-Pandemie im Griff haben – hoffentlich im kommenden Jahr – haben Sie es mit Ihrer Familie bereits besprochen: Wohin möchten Sie als erstes reisen?
Johann Hinrich Claussen: Wir würden gerne ein zweites Mal nach Polen reisen, und wenn das möglich ist, ins Baltikum, weil wir das schon einmal gemacht haben und es so schrecklich ist, dass ich selber immer so nach Westen hin orientiert bin. Und unser unmittelbarer Nachbar Polen und dann die baltischen Länder - das ist total interessant.
Main: Wie reisen Sie? Also, vor der Corona-Krise. Mit Auto, Rad, Flugzeug, Bahn?
Claussen: Am liebsten mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Mein großer Spaß ist dann im Urlaub, auch in fremden Ländern, den öffentlichen Nah- und Fernverkehr zu bedienen, zum Beispiel in Polen mit dem ICE zu fahren und das alles gut hinzukriegen. Dann bin ich immer stolz.
Im Urlaub in die Kirche
Main: Spielt dann die Religion rein in Ihre Reisen? Oder brauchen Sie dann auch mal Abstand von all dem, womit Sie sich das ganze Jahr über beschäftigen?
Claussen: Ach, ich quäle natürlich meine Familie ein bisschen und wir gehen in Kirchen, so sie offen sind. Das bleibt nicht aus. Das war nur in Holland, in Amsterdam anders. Da sind ja viele Kirchen, die großen, säkularisiert, und da muss man irgendwie 15 Euro pro Person bezahlen. Da war ich dann so geizig und die Familie war froh, dass sie mal nicht musste.
Johann Hinrich Claussen, Kulturrbeauftragter der EKD - Berlin Februar 2016 
Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der EKD (Deutschlandfunk/ Andreas Schoelzel)
Main: Nun kann ich mich erinnern, dass wir im März, als uns dieses Corona-Virus so kalt erwischt hat, telefoniert haben. Damals, aber auch schon vorher, haben Sie mir davon erzählt, dass Sie etwas schreiben über "die seltsamsten Orte der Religion". Wie haben Sie das erlebt, ein Reisebuch zu schreiben, während so viele Menschen damit beschäftigt waren, ihre Reisebuchung zu stornieren?
Claussen: Ja, das war in der Tat befremdlich. Ich glaube aber, um es für mich positiv umzudeuten, wir haben eine neue Zeit der Reiseliteratur. Das ist ja eine große Literaturgattung im 18., 19. Jahrhundert, wo Menschen eben überhaupt nicht reisen konnten. Und einige sind dann fortgefahren in die fernsten Länder und haben darüber Bücher geschrieben. Und man hat es gelesen.
Und das ist eigentlich etwas, woran man wieder anknüpfen könnte, gerade in Zeiten des Übertourismus, wo man meint als Westeuropäer, nur, weil man Geld und Pass hat, kann man überall rumlatschen. Das sollte man nicht.
"Maßvoll reisen"
Main: Stichwort "Übertourismus", Stichwort "Reisen bildet". Wie würden Sie sich ein kluges Reiseverhalten wünschen?
Claussen: Maßvoll. Also, im Grunde wie der Fleischverzehr. Also, nicht jeden Tag irgendwie ekliges Fleisch, sondern der gute Sonntagsbraten oder bei uns einmal im Jahr ein schöner Weihnachtsbraten. Also, dass man darauf hinlebt, dass man sich vorbereitet, dass man Lust darauf hat, dass man es dann auch tut und dann aber auch länger nachklingen lässt und nicht am nächsten langen Wochenende dann schon wieder nach Mallorca fährt, sondern es wirklich jetzt nicht ganz aufgibt, denn Reisen bildet eben einfach. Aber, dass man es wirklich genießt. Und dafür braucht man Zeit.
Main: Ihr Buch ist ein etwas anderes Reisebuch. Es ist auch deswegen so anders, weil es um Religion in einem sehr breiten Sinne geht. Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen, über die seltsamsten Orte der Religion. Mal ganz spontan: Welcher ist der seltsamste Ort?
Claussen: Ich habe angefangen, als ich das Buch geschrieben habe, als Protestant denkt man ja erst mal nicht an Orte, sondern irgendwie: Braucht man eigentlich gar nicht. Das ist was für Katholiken.
Aber dann fiel mir ein, wie ich in Argentinien war. Nach meinem theologischen Examen habe ich ein Jahr dort so als Hilfspastor gearbeitet. Und da begegnete mir dieser Kult, der Difunta Correa, der inoffiziellen Heiligen der Lastwagenfahrer. Und die hat überall ihre Orte, nämlich die Leute stellen irgendwelche Wasserflaschen irgendwo an Autobahnraststätten und so.
Und es gibt ein Zentralheiligtum in Vallecito und San Juan. Und das war für mich sozusagen das Seltsamste, weil mir da eine ganz eigentümliche Volksfrömmigkeit, eine eigenständige Frömmigkeit von armen Leuten begegnete. Das hat mich total fasziniert und das hat mich dann zu weiteren Orten geführt.
"Kraft, Zauber und Schönheit von Orten"
Main: Orte sind etwas für Katholiken, haben Sie gerade gesagt und nichts für Protestanten. Das erklären Sie mal einer Nicht-Theologin und einem Nicht-Theologen.
Claussen: Na, das ist natürlich ein Schnack. Aber als evangelischer Theologe lernt man, dass man keine heiligen Orte braucht. Und Martin Luther hat gesagt, man kann überall Gottesdienst feiern und man braucht auch gar keine Kathedralen. Und es geht eigentlich um die Gemeinschaft mit anderen Menschen und das, was im Inneren der eigenen Seele geschieht. So hat man es gelernt.
Und dann wird man natürlich Pastor und stellt fest, na, die Leute brauchen doch einen Ort und man selber ja auch. Und, wenn man mal in sich hineinhorcht und mal fragt: Was sind eigentlich für dich religiös signifikante Erlebnisse, dann verbindet sich das immer mit anderen Menschen und eben auch ganz, ganz oft mit bestimmten Orten, die eine besondere Kraft, einen Zauber, eine Schönheit oder auch eine Verwurzelung dargestellt haben.
Bellinis "Madonna von der Wiese" (1500) hängt in der Londoner National Gallery
EKD-Kulturbeauftragter Claussen-"Religion in der Kunst: faszinierend und verstörend"
Wenn Künstler sich existentiellen Fragen stellen, drücke sich in ihrer Kunst oft Religiöses aus, so der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen – auch wenn die Künstler selbst nicht religiös sind.
Main: Den Heiligen der Lastwagenfahrer in Vallecito, Argentinien haben Sie eben angesprochen. Nun ist es ja so, dass wir in dieser Sendung auch recht häufig über Exotisches aus der Welt der Religion berichten, sofern es uns relevant erscheint. Und das seit Jahrzehnten. Doch muss ich zugeben, von vielen Ihrer seltsamen Orte habe ich nie gehört. Also, Chapeau, wie haben Sie die gefunden?
Claussen: Das freut mich natürlich, weil ich natürlich immer bei "Tag für Tag" gucke und auch gerade die skurrilen oder die exotischen Beispiele mir immer anhöre, weil ich das total interessant finde, was Sie da … aber da hatte ich natürlich auch einen hohen Ehrgeiz, so ein paar Sachen rauszufinden, die jetzt nicht schon von Ihnen gemacht worden sind.
Und dann habe ich aber viel rumgesucht und ich habe auch viel mit vielen Leuten gesprochen. Das wiederum hat auch Spaß gemacht. Ich habe auch so ein bisschen gespielt "jeder kennt jeden" um sechs oder sieben Ecken. Ich bin ja nicht überall hingefahren, aber ich habe immer irgendwelche Experten gefunden oder Künstlerinnen, die dort gewesen sind und die mir dann wirklich berichten konnten.
Das hat eben besonders viel Spaß gemacht, mich nicht nur auf die Suche nach Orten, sondern auch nach Menschen zu machen, die darüber etwas erzählen können.
"Menschen auf Naherkundung schicken"
Main: Es sind ja gefühlt 40, 50 Orte in 20 Kapiteln. Wie viel Prozent ungefähr haben Sie selber mal erlebt, besucht? Und wie viel haben Sie recherchiert?
Claussen: Also, recherchiert habe ich alle. Aber ich bin, glaube ich, bei einem guten Drittel oder Viertel gewesen. Und ich habe versucht, in diesen Kapiteln, das geht nicht immer, Paare zu bilden zu einem bestimmten Thema. Also: ein Ort in der weiten, weiten Welt - und dann zu fragen: Gibt es irgendwas Ähnliches hier bei uns?
Weil ich natürlich auch Lust habe, Menschen auf die Naherkundung zu schicken und sie darauf neugierig zu machen: Wo gibt es denn bei dir in der Nähe irgendwie eine Art von Religion? Und du denkst, du bist hier im säkularen Berlin oder Köln, und plötzlich begegnet dir was.
"Hier soll eine Religion ausgelöscht werden"
Main: Das Erstaunliche im Übrigen ist auch, die Orte, die Sie nicht besucht haben, also ungefähr ein, zwei Drittel. Man hat bei der Lektüre das Gefühl, man sei dort. Dies am Rande als Kompliment. Jetzt habe ich ein Zitat, das ich gerade mal kurz zum Besten geben möchte: "Es gibt immer noch Orte, zu denen man niemals kommen wird."
Das schreiben Sie zu Beginn des Kapitels mit dem Titel "Dem Erdboden gleichgemacht". Es geht um die verbotenen Schreine in Xinjiang. Da wird deutlich, dass es Ihnen nicht nur um nette Geschichten geht, sondern in diesem Fall um eine Kritik an der Religionspolitik Chinas. Was ist das für ein Ort?
Claussen: Da bin ich hingeführt worden durch eine wunderbare New Yorker Fotografin, die über zehn Jahre diese Schreine des Volksislams der Uiguren besucht hat. Der Islam der Uiguren ist eben was ganz Besonderes, eben sehr volkstümlich und richtet sich ganz stark auf Heilige und Ahnen. Da verbindet sich allerlei.
Eine Delegation traditionell gekleideter Uiguren aus der Provinz Xinjiang posiert vor Beginn des chinesischen Volkskongress 2013 unter dem Mao-Bildnis über dem Tor des Himmlischen Friedens in Peking.
Eine Delegation von Uiguren aus der Provinz Xinjiang vor dem Volkskongress in Peking im Jahr 2013 (AFP/Mark Ralston)
Und die bekommen eben Schreine gebaut. Und die sind oft ganz klein, ganz zart. Sehen so aus, eher so wie moderne Kunstwerke, so ein bisschen Arte Povera, also 'arme Kunst'. Oft auch weit versteckt. Und jetzt, wo eben die Uiguren sozusagen zwangsgleichgeschaltet werden und ihnen ihr alter Volksislam ausgetrieben wird, werden die entweder systematisch zerstört. Oder, fast genauso grausam, sie werden in kulturelle und touristische Sehenswürdigkeiten umgemodelt.
Dann heißt es, sie werden einfach erst mal restauriert und dann kommt ein Bauzaun drüber. Oder man muss mit teuer Eintrittsgeld hineingehen, sodass nur Han-Chinesen als Touristen sich das leisten können. Hier soll eben eine Religion ausgelöscht werden, um eben auch ein Volk oder eine Ethnie in diesem großen Vielvölkerstaat China auszulöschen. Und das eben mit den modernsten Mitteln chinesisch totalitärer Überwachungstechnologie. Darauf wollte ich hinweisen.
Muslime in China-Jeden Freitag Schweinefleisch
Sayragul Sauytbay gehört zur kasachischen Minderheit in China, ihr Glaube ist eine Mischung aus Islam und Schamanismus. Zunächst arbeitet sie als Schulleiterin, dann erlebt sie die brutalen Seiten des Regimes.
Das habe ich vor einem guten Jahr geschrieben, als das noch nicht so viel in den Medien war. Und dann war ich aber doch einerseits froh und einerseits entsetzt, aber natürlich auch froh, dass inzwischen weit auch berichtet worden ist. Also, in der "Süddeutschen Zeitung" gab es ja große Beilagen dazu. Und das fand ich eben sehr, sehr wichtig. Vor allen Dingen fand ich es aber wunderbar eben, mich auch von dieser New Yorker Fotografin da hindurchführen zu lassen, die ganz zauberhafte Fotos davon gemacht hat.
"Verbindung von Macht, Politik und Gewalt - oft verheerend"
Main: Spiegelverkehrt erinnern Sie auch an die islamistische Zerstörung von Kirchen in Syrien. Mit welcher möglichen Folge?
Claussen: Na ja, das ist eben auch etwas, was mir - also, das ist ein Buch, das auch Spaß machen soll. Mir hat es beim Schreiben Spaß gemacht. Man soll es auch gerne lesen. Aber ich will natürlich auch das Abgründige des Religiösen deutlich machen. Und gerade die Verbindung mit Macht und Politik und Gewalt ist oft verheerend.
Ein Mann betet in der Kirche St. Georg in der Provinz al-Hasake, die von der Terrororganisation Islamischer Staat zerstört wurde
Ein Mann betet in der Kirche St. Georg in der syrischen Provinz al-Hasake, die von der Terrororganisation "Islamischer Staat" zerstört wurde (picture-alliance / dpa / Sputnik / Valeriy Melnikov)
Was wir oft vergessen in unserer eingeschränkten Sicht von Weltkrisen woanders, ist, dass eine ganz große Tragödie im Nahen Osten dadurch geschieht, dass sozusagen die alten historischen Christentümer dort ausgelöscht werden. Also, neben allem anderen Elend ist das ein ganz großes Elend. Und da sollten wir viel genauer wahrnehmen, wie eben uralte christliche Kirchen vernichtet, vertrieben oder in die Flucht geschlagen werden. Das ist ein großer kultureller und religiöser Verlust.
Main: Dass Sie die Kuscheltiere in Nizza, die in Massen auf der Promenade dort dargebracht wurden nach dem verheerenden islamistischen Terroranschlag mit über 70 Toten, dass Sie dies als einen temporären Ort der Religion ansehen, erklären Sie uns das bitte.
Claussen: Ich finde es besonders interessant, und das ist also meine Spur auch bei einigen dieser Kapitel, herauszufinden, was Menschen selber machen. Religion ist eben auch selber machen. Und es gibt ein, zwei, drei Orte, in denen nach einem schrecklichen Terroranschlag, wie in Nizza oder in Berlin am Breitscheidplatz, Menschen selber tätig werden und diesen Ort markieren, etwas hinbringen, ihn gestalten, etwas entgegensetzen dem Schrecken.
Und bei Nizza, das hat mir eben ein Kollege gezeigt, der da zufälligerweise war – da haben die Menschen eben jetzt nicht Blumen gebracht oder Kerzen oder so was, was man sich auch vorstellen kann, sondern haben ganz viele Kuscheltiere gebracht. Das sieht natürlich erst mal absurd aus. Aber dann hat es auch etwas Anrührendes. Sozusagen Kinderspielzeug wird an diesen Ort niedergelegt, wo ein islamistischer Terrorist einfach wahllos Menschen umgebracht hat.
"Erschrecken, Trauer, Schmerz"
Main: An welchem Punkt wird es für Sie zur Religion?
Claussen: Das ist eine gute Frage. Vielleicht, na, ich glaube, da, wo ein unbedingtes, existenzielles Thema sich darstellt, Erschrecken, Trauer, Schmerz, aber auch Dankbarkeit, da wird es tendenziell religiös. Ich will nicht jeden dann gleich taufen. Aber da stellen sich religiöse Fragen. Oder es wird fast manchmal auch unbewusst auf alte religiöse Riten zurückgegriffen, weil sie ja in der Kultur vorliegen.
Bei Nizza ist es eben so, da ist es noch mal anders. Da ist eben Staat und Kirche sehr viel stärker getrennt als bei uns. Da kann nicht einfach der Ortsbischof kommen und da irgendwas machen. Und es ist eben interessant, dass es hier her, jetzt jedenfalls, was sie gebracht haben, die Symbole, diese Kuscheltiere – Obelix und Peanuts und was es da so alles gab – eben aus der Popkultur nehmen und eben religiös nicht-religiös darstellen.
Main: Insgesamt ist dieses Buch ja durchzogen von einem Religionsverständnis, das eine recht große Breite hat. Das dürfte auch bisher in unserem Gespräch deutlich geworden sein. Wie würden Sie Ihren Religionsbegriff charakterisieren, der diesem Religionsreisebuch zugrunde liegt?
Claussen: Ich nehme mir die Freiheit, meinen Religionsbegriff so jeweils zu fassen, wie es mir am Tage gerade passt. Das ist ein so großer Container-Begriff. Damit kann man alles machen. Aber er setzt einen auf die Spur. Und es ist wie so eine Wünschelrute. Und da kann ich natürlich suchen: Wo finde ich zu einem bestimmten Thema, einer existenziellen Frage oder einem bestimmten Symbol – das Meer, der Berg, der Baum – irgendwie sozusagen Dinge, wo sich etwas mir darstellt, was ich interessant finde, wovon ich gerne erzählen möchte. Und dann sage ich: Das ist jetzt ein religiöser Ort und jetzt passt mal auf.
"Eine gute Zeit, um Bücher zu lesen"
Main: Wünschelrute als Religionsbegriff.
Claussen: Ja, das ist natürlich – jeder vernünftige Religionswissenschaftler würde mir die Ohren langziehen. Aber das ist vielleicht auch eine Einsicht aus diesem Buch. Ich habe zwar meine eigene Position. Ich bin christlicher Theologe. Nichtsdestotrotz sehe ich, dass sich die weite Welt der Religion, wie sich überhaupt auch die weite Welt der Wirtschaft, der Politik nicht mehr einem Konzept einpassen lässt.
So haben das liberale Theologen vor 150 Jahren gedacht: Religionsgeschichte – es gibt so eine Entwicklung, und am Ende steht zufälligerweise der deutsche Protestantismus, der liberale, und hat den Fortschrittsgipfel erreicht. Alle anderen noch nicht. Die kommen aber hinterher.
Dieses Modell hat sich überlebt. Man kriegt diese Fülle von unterschiedlichen Religionskulturen nicht unter einen Begriff, nicht in ein Schema. Man kann aber hinschauen und suchen, was sich verbindet, wo eine bestimmte Fragestellung sich darstellt. Und dann kann man sich damit beschäftigen und sich seine eigene Meinung bilden.
Main: Herr Claussen, Ihr Buch ist Ende August erschienen. Da waren wir noch alle etwas entspannter als jetzt im November oder Anfang Dezember. Selbstverständlich ist dies ein Buch, das dieses Corona-Virus überleben wird. Dennoch reden wir ja jetzt gerade nicht kontextlos. Welche Inhalte oder Kerngedanken Ihres Buches könnten uns in diesen Zeiten resilienter machen, könnten uns helfen, durch diese schwierigen Zeiten zu kommen? Oder ist das ein vermessener Anspruch?
Claussen: Also, erstens, ja, ist ein vermessener Anspruch. Und das ist jetzt kein Ratgeberbuch "Wie kommt Deutschland aus der Krise?" Aber es gibt natürlich ein paar Anregungen in dem Buch.
Erstens, glaube ich, dass es eine gute Zeit ist, um Bücher zu lesen. Mache ich ja selber auch. Nicht meine eigenen, aber andere. Zweitens, dass man sich noch mal auch eine Auszeit nimmt, eine Unterbrechung und eben auch das eigene Reiseverhalten und Religionsverhalten sich noch mal anschaut.
Die Externsteine im Teutoburger Wald in Ostwestfalen
Für Johann Hinrich Claussen ebenfalls einer der "seltsamsten Orte der Religionen": die Externsteine im Teutoburger Wald in Ostwestfalen (picture alliance/dpa/Bernd Thissen)
Also, einerseits: Was will ich eigentlich von anderen Kulturen wissen? Auch: Wie sind wir überhaupt miteinander verbunden? All diese Orte, die ich da beschreibe, aus dem Kongo oder Japan oder Südamerika, die sind, als ich angefangen habe zu schreiben, weit, weit weg gewesen. Und jetzt merken wir durch Corona: Wir sind unmittelbar miteinander verbunden. Das, finde ich, ist auch noch mal interessant.
Und dann finde ich, weil ja auch die Frage ist: Was leistet eigentlich Religion an Stärkung, Trost, Orientierung, Hoffnungsstiftung? Was ich eben auch gesehen habe, ist, da, wo Menschen selber religiös tätig werden und auch gerade auch jetzt in der nicht theologisch angeleiteten Volksfrömmigkeit, da entstehen manchmal bizarre Dinge, aber auch schöne Dinge. Also, da teilen Menschen etwas. Da bilden sie eine Gemeinschaft. Da sprechen sie gemeinsam ihre Sorgen, ihre Bitten, ihre Klagen aus. Da entsteht etwas, was ihnen helfen kann.
"Der letzte Druidenbaum Europas"
Main: Ohne, dass wir jetzt alle da hinfahren müssen an Ihre "seltsamsten Orte der Religionen", oder auch gar nicht hinfahren können zurzeit, welcher Ihrer Orte hat das Potenzial, unsere von Corona geschundenen Seelen, unsere Ängste und Depressionen zu nehmen?
Claussen: Keiner. Jedenfalls nicht für alle. Ich habe ja eine große Freude auch an ganz kleinen unscheinbaren Orten. Es gibt zum Beispiel einen kleinen Ort, völlig unscheinbar, in Belgien, neben einem kleinen Dörfchen, Herchies. Da gibt es den letzten Druidenbaum Europas. Ein Baum, eine Eiche, die ist jetzt die zehnte Druideneiche, natürlich nacheinander gepflanzt.
Und da gehen Menschen hin, und der Priester weiß das auch und lässt sie aber in Ruhe, und sie gehen aber einzeln hin und nageln an diesen Baum das, was sie beschwert: Pflaster, Verbände, Infusionsbeutel. Und nageln es da an und lassen es an diesem Baum. Und die katholische Kirche, so schlau, wie sie ist, hat daneben so eine kleine Kapelle gebaut, um das sozusagen einzuhegen. Aber auch diskret, lässt sie auch in Ruhe.
Und das finde ich eigentlich was besonders Schönes. Menschen begleiten, sie aber dann auch seelsorgerlich in Ruhe lassen, sie nicht behelligen, sondern einen Ort zu schaffen, wo man sein kann mit seinen eigenen Sorgen und Ängsten.
"Kindergräber für Hunde und Katzen"
Main: Ein wichtiger Punkt, der zwar bereits angeklungen ist, aber den wir vielleicht noch nicht explizit besprochen haben. Sie werten ja nicht. Sie verurteilen nicht. Sie haben eine freundliche Haltung gegenüber auch Bizarrem. Das ist ja womöglich auch eine Haltung - dieses große Herz, das Sie für religiös nicht Konformes haben - das ist ja vielleicht eine Haltung gegen die Hysterie.
Claussen: Ja. Und ich schreibe für Menschen, die gerne selber denken. Und beim Lesen wird sich ja jeder sein Bild machen. Und gleich immer beurteilen, gleich immer bewerten, gleich immer gerne abwerten, das ist etwas, wovon wir in unserer Zeit viel zu viel haben. Da habe ich überhaupt gar keinen Nerv drauf.
Sondern ich finde es einfach interessant, mal Dinge auf sich wirken zu lassen. Und nach zwei Wochen wird man schon feststellen, ob es einem was bringt oder nicht. Natürlich setze ich auch so ein paar Linien oder setze ein paar Akzente. Aber ich finde es eher interessant, dass wir uns einüben, erst mal anderes wahrzunehmen, auf uns wirken zu lassen und dann eine eigene Meinung zu bilden.
App Muslim 3D-Virtuelle Pilgerfahrt nach MekkaAnstelle von Millionen Pilgern durften wegen der Corona-Pandemie in diesem Jahr nur wenige Menschen die große Moschee in Mekka betreten. Eine in Bonn entwickelte App ermöglicht es nun, die Kaaba virtuell zu erkunden.
Ich habe das besonders ausprobiert – das war es mir fast am schwersten – als ich den Tierfriedhof in Hamburg-Jenfeld besucht habe. Da gibt es so einen Tierfriedhof. Und ich habe jetzt kein Verhältnis zu Haustieren und bin eigentlich geneigt, das irgendwie albern, blöd und bescheuert zu finden. Und dann gucke ich mir das so an, wie das gestaltet ist und was mir da begegnet an Einsamkeit oder auch an Liebe oder ... das sind Kindergräber für Hunde und Katzen. Und auch, wenn ich selber das jetzt nicht machen werde, kann ich mir das doch erst mal angucken in so einem Stadtteil wie Hamburg-Jenfeld, was sich da ausdrückt.
"Mich innerlich auf die Reise machen"
Main: Als Sie das Buch geschrieben haben, teilweise eben im ersten Lockdown – wir haben das eben besprochen – welche Wirkung hatte das Schreiben auf Sie?
Claussen: Eine beruhigende und erfüllende. Also, Schreiben ist zwar immer anstrengend und man würde lieber was anderes machen. Aber ich habe es ja selber erlebt, fast alle meine Veranstaltungen waren ausgefallen. Alles, was ich an Kunstaktionen, Lesungen hatte, war tot, weg, nichts. Und dann hatte ich eben die Möglichkeit, mich sinnvoll wirklich zu beschäftigen, mich innerlich auf die Reise zu machen und eben es auch in eine Form zu bringen.
Ich kann eigentlich mich mit Dingen nur wirklich ernsthaft beschäftigen, wenn ich darüber schreibe. Sonst bin ich zu abgelenkt und oberflächlich. Wenn ich aber schreibe, dann muss ich auch immer gucken: In welche Form bringe ich es? Was nehme ich hinzu? Was lasse ich weg? Sie kennen das. Das ist eine erfüllende, schöne Aufgabe. Man ist aber auch froh, wenn es fertig ist.
"Aufpassen, dass ich mich darin nicht verliere"
Main: War es denn vor allem der Schreibvorgang als solcher, der diese Wirkung ausgelöst hat? Oder war es womöglich auch ein bisschen der Geist jener "seltsamsten Orte der Religionen"?
Claussen: Das mischt sich zum Glück. Also, das Schreiben über Orte, die schön sind, die anregend sind, die auch lustig manchmal sind, die ganz viel auslösen, das ist natürlich ein anderes Schreiben, als wenn ich Lexikonartikel geschrieben hätte. Sondern das hat mich innerlich auf die Reise gesetzt.
Ich musste manchmal aber aufpassen, dass ich auch nicht mich verstreue. Man kann im Internet da wahnsinnig recherchieren und man findet zu den absurdesten Sachen auch noch irgendwie einen YouTube-Clip. Da musste ich dann aufpassen, dass ich mich darin nicht verliere, also in die Zerstreuung gehe. Sondern ich sollte ja - irgendwie sollte was Konzentriertes dabei rauskommen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Johann Hinrich Claussen:
"Von versteckten Kirchen, magischen Bäumen und verbotenen Schreinen – die seltsamsten Orte der Religionen"
C.H. Beck Verlag, 239 Seiten, 20 Euro.