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Religion als Ideologie

Aatish Taseer hat einen persönlichen Bericht über eine Reise durch die islamische Welt und eine Begegegnung zwischen Vater und Sohn geschrieben. Er versucht zu erklären, was säkulare und strenggläubige Muslime in ihrem Hass auf den Westen vereint.

Von Martin Zähringer |
    Aatish Taseer hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben. Ein Buch über seine Familie, ein Buch über die islamische Welt. Ein Buch darüber, warum das Lebensmodell des Westens in islamischen Staaten auf solch harsche Ablehnung stößt, wie das derzeit oft der Fall ist. Aatish Taseer ist 30 Jahre alt. Er arbeitet als Journalist in London. Taseer hat einen binationalen Hintergrund. Seine Mutter ist Inderin, sein Vater ein pakistanischer Karrierepolitiker. Ein säkularer Politiker, dem der Koran eher fremd ist. Das jedenfalls glaubt Aatish Taseer, der sich dem Vater erst als junger Mann annähern kann. Dann aber schreibt er einen Artikel über fundamentalistische Söhne muslimisch-pakistanischer Einwanderer in England. Als sein Vater diesen Artikel im fernen Pakistan liest, erntet der Sohn harsche Kritik. Der vermeintlich säkulare Politiker wirft seinem Sohn gehässige antimuslimische Propaganda vor. Von der islamischen Welt jedenfalls, insbesondere vom pakistanischen Ethos, so das Urteil des Vaters über den Sohn, habe er keine Ahnung. Ein Verdikt, das den Sohn eher erstaunt als erschüttert. Schließlich hatte sich sein Vater immer offen dazu bekannt, kein gläubiger Muslim zu sein.

    Mein Vater, der jeden Abend Scotch trank, weder fastete noch betete, sogar Schweinefleisch aß, fühlte sich durch das, was ich geschrieben hatte, als Muslim gekränkt.
    Plötzlich also beruft sich der Vater auf seine muslimischen Wurzeln, die für ihn, so sieht es der Sohn, nicht religiöser Natur sind, sondern vielmehr eine Art nationale muslimische Identität darstellen. Ein Zugehörigkeitsgefühl, das dem jungen Journalisten jedenfalls fremd ist. Aatish Taseer steht vor einem Rätsel. Sein Buch erzählt von seinem Versuch, dieses Rätsel zu lösen. Er will die Welt seines Vaters erkunden. Und dafür tritt er eine achtmonatige Reise durch die islamische Welt an.

    Sein Buch ist also der Bericht über diese Reise, an deren Ende er seinem Vater wieder begegnen wird. Doch dazu später. Dass sein Vater Muslim ist, diese Tatsache erleichtert Aatish Taseer die Tour nach Istanbul, Damaskus, Mekka und Teheran. Denn als Sohn eines Muslims gilt auch er als Muslim – obwohl er weder eine religiöse Ausbildung bekam, noch die engere kulturelle Gemeinschaft mit Muslimen kennt. Ja, er hat nicht einmal gelernt, wie ein Muslim zu beten. Und doch: Als Sohn eines Muslims fällt es ihm auf seiner Reise leicht, Bekanntschaften zu schließen und Kontakte zu knüpfen. Zum Beispiel zum fundamentalistischen Abdullah in Istanbul, der ihn an seinen muslimischen Allmachtsfantasien Anteil haben lässt.

    Muslime sollten an der Spitze, im Zentrum des Systems stehen. Erst wenn wir an den Schalthebeln der Macht sitzen und die weltpolitischen Entscheidungen treffen, werden wir frei sein. Das heißt gar nicht, dass wir andere Kulturen zerstören wollen. Ganz und gar nicht. Wir wollen nach oben, um zu verwirklichen, was Allah uns aufgetragen hat.
    In Damaskus besucht Taseer die große islamische Universität Abu Nur und beobachtet, wie dort ein ihm fremdes Geschichtsbild gepflegt wird, eine "festzementierte Geschichte", wie er es nennt. Ein eindringliches Beispiel bietet der Großmufti von Bosnien, der gerade zu Besuch weilt und dessen Freitagspredigt Taseer kritisch unter die Lupe nimmt:

    Für ihn war die Geschichte eine Aufeinanderfolge aggressiver Akte des christlichen Westens, beginnend mit der christlichen Rückeroberung Andalusiens und so fort bis in die Gegenwart. Die alten Fronten waren auch die neuen.
    Mit der historischen Faktenlage nehmen es die Freitagsprediger von Abu Nur nicht so genau, wie Taseer bemerkt. Dafür beziehen sie sich umso deutlicher auf das Gefühl der muslimischen Gekränktheit. Und sorgen damit nach Taseers Beobachtung dafür, dass diese Religion – und darin war sie mit manch anderer Ideologie vergleichbar – sogar Platz hatte für Leute wie meinen Vater, die bereit waren, dieses Gefühl der Kränkung zu teilen, ansonsten aber erklärtermaßen nicht gläubig waren. Eine gewalttätige Kraft lag in der Art und Weise, wie sich die Moschee dieses Gekränktsein zunutze machte, wie sie Probleme der modernen Welt dazu benutzte, religiösen Eifer zu entfachen.
    Ein konkretes Beispiel für diesen Eifer erlebt Taseer bei den Angriffen auf die skandinavischen Botschaften in Damaskus, als der dänische Karikaturenskandal gerade Syrien erreicht. Von Damaskus reist er weiter nach Mekka und umrundet die Kaaba. Die Beschäftigung mit der jüngeren saudischen Geschichte verdeutlicht ihm den Widerspruch zwischen der dort offiziell zelebrierten Eintracht aller Gläubigen und der tatsächlichen Spaltung in verschiedene Glaubensrichtungen. Nach und nach, von Reisestation zu Reisestation fortschreitend, stellt Taseer so dem islamischen Selbstbildnis einen differenzierten Lagebericht gegenüber. Dieser ergibt sich nicht zuletzt aus dem Vergleich von ideologisch gefärbter Rhetorik und realer Gegenwart. Mit den so gewonnenen Erkenntnissen im Gepäck wendet er sich dann dem Iran zu. In Teheran erkundet er den tiefen Riss zwischen den politischen Erben Khomeinis einerseits und dem iranischen Volk andererseits. Er beobachtet die alle Schichten bedrückende Bevormundung durch religiöse Vorschriften, die einer einträglichen Korruption Vorschub leistet.

    Die pedantischen Regeln und Verhaltensvorschriften richteten sich gegen die Menschen und standen im Dienst einer politischen Vision der Religion. Am Ende trug zwar trotzdem die große ungeläuterte Welt den Sieg davon, aber die Exzesse der Heuchelei waren ungeheuerlich. Man erlaubte die Ehe auf Zeit, um Prostitution zu ermöglichen. Die Leute kauften sich bei der Kommunalverwaltung von Peitschenhieben frei, als handelte es sich um Gasrechnungen.
    Schließlich reist Taseer nach Pakistan, wo er jenes pakistanische Ethos findet, auf das sich sein Vater bezogen hatte. Zumindest das, was daraus geworden ist. Dieses Ethos war ursprünglich so etwas wie die Staatsräson Pakistans, das 1947 als muslimischer Idealstaat mit westlichem Rechtssystem gegründet worden war, ein leuchtendes Beispiel für die postkoloniale Zukunft aller Muslime. Jetzt, gut 60 Jahre später, kommt Aatish Taseer in ein Land, das zerrieben wird zwischen den partikularen Ansprüchen einzelner Landesteile und den Terrorangriffen und Attentaten auf gewählte Politiker. Die muslimische Identität der Pakistani, so seine Erkenntnis, lebt von Mythen, die wie aus der Zeit gefallen scheinen. Etwa dem Glauben an die Abstammung von muslimischen Arabern. In der pakistanischen Provinz hingegen herrscht ein Feudalismus, der das Ideal gleichberechtigter Muslime nur noch als ferne Utopie erscheinen lässt. Und nicht zuletzt krankt das beschworene pakistanische Ethos an der Neigung, die Verantwortung für jede Art politischer oder ökonomischer Probleme bei anderen zu suchen. Und in genau diesem wenig schmeichelhaften Licht sieht Aatish Taseer am Ende seiner Reise auch seinen Vater, den säkularen Muslim und damals gerade eingesetzten Minister Salmaan Taseer:

    Ich hatte meine Reise mit der Frage begonnen, warum mein Vater Muslim war, jetzt wusste ich warum: In meinem Vater war keiner der einst mächtigen Imperative des Islam mehr lebendig. Dennoch war er ein Muslim. Er war Muslim, weil er den Holocaust anzweifelte, Amerika und Israel hasste, die Hindus für schwach und feige hielt und sich an der ruhmreichen islamischen Vergangenheit berauschte.
    So sieht sie also aus, die Welt des Vaters, die laut Untertitel des Buches gesucht wird und die Taseer gefunden hat: Der Vater ist auf stramm antiwestlichem Kurs. Er ist zwar säkular orientiert, ideologisch aber den religiösen Eiferern zum Verwechseln ähnlich. Und so erscheinen säkulare und strenggläubige Muslime in ihrem Hass auf den Westen vereint.

    Zumindest ist das ein Eindruck dieses Buches. Tatsächlich zeigt Taseer in seiner komplexen Darstellung jedoch auch, und das ist wesentlich, dass die Welt seines Vaters nicht so einfach zu erklären ist.

    "Terra Islamica. Auf der Suche nach der Welt meines Vaters" heißt das Buch von Aatish Taseer. Erschienen bei C.H. Beck. 368 Seiten kosten 24,95 Euro (ISBN: 978-3-406-59822-7).