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Religion in der DDR
Wie der Musiker André Herzberg jüdisch wurde

André Herzberg war in der DDR ein erfolgreicher Musiker und gibt bis heute gut besuchte Konzerte. Was für ihn jedoch lange undenkbar war: öffentlich als Jude aufzutreten. Denn in seiner Familie war diese Identität ein Tabu - in der DDR hatten es Jüdinnen und Juden nicht leicht.

Von Henry Bernhard | 12.02.2020
Das undatierte Handout zeigt den Rocksänger aus DDR-Zeiten und Schriftsteller André Herzberg.
André Herzberg - Rocksänger aus DDR-Zeiten und Schriftsteller (picture alliance / dpa / Gerald von Foris)
Der Abspann läuft. Die Namen der Protagonisten, des Regisseurs. Der Film handelt vom Schicksal der Juden in der DDR. André Herzberg steht hinter dem Publikum, hört seinen eigenen Song: "Schau Dir an, was aus uns geworden ist". Etwa 30 Menschen sitzen in einem kleinen Club in Gera, Besucher der jüdisch-israelischen Kulturtage.
Dann geht André Herzberg nach vorn. Dass er heute hier ist, öffentlich als Jude auftritt, das wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen. André Herzberg ist Rockmusiker. Später wurde er auch Autor und Schauspieler. Aber seine jüdische Familiengeschichte, seine Religion, seine Identität waren lange kein Thema.
Ein Grund dafür: seine Mutter. Ein anderer und wohl entscheidender Grund: sein Geburtsland. Die DDR.
"Sprich das Wort nicht aus!"
André Herzberg tritt ans Mikrofon, mit schwarzer Hose, einem glitzernden bordeauxroten Hemd und schwarzem Hut. Herzberg ist Musiker und war mal ein Star, damals in den 80ern, mit Pankow in Ostberlin. Seine großen, dunklen Augen strahlen eine Grundmelancholie aus.
Herzberg: "Gut, dann bin ich jetzt dran und lese aus meinem Roman 'Was aus uns geworden ist' den Prolog."
Sprich das Wort nicht aus! Vor allen Dingen sage niemals, du wärest so einer! Es gibt Filme, es gibt Reden im Radio über sie. Es gibt Fachleute, Politiker, die über sie reden. Es gibt das Volk, es gibt jede Menge Witze. Es gibt Theorien, es gibt Geistliche, Philosophen. Ja, inzwischen gibt es ihr Land. Aber du sage niemals, dass du einer von ihnen bist, niemals! Und das bist du ja auch nicht. Du gehst nie in ihr Haus, du tust nie, was sie tun. Du weißt am besten nichts von ihnen. (Auszug aus dem Buch "Was aus uns geworden ist")
Der Prolog dauert acht Minuten. Acht beklemmende Minuten. Er handelt vom Nicht-Dazugehören, vom Ausgestoßen-Sein, vom Verstecken, von der Suche nach der Identität, nach dem Ich. Und vom zornigen Gott, der bestimmt zugesehen hat damals, wenn der kleine André Herzberg seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte.
Wenn du umgebracht worden wärest, dann hättest du vielleicht ihr Mitleid. Aber da du lebendig bist, wissen sie, du weißt, was sie denken und dies nun nicht mehr ins Gesicht sagen. Wenn sie darüber sprechen von der bösen Politik, von der "Sonderrolle", von der "Auserwähltheit", dann bist du gemeint, auch wenn sie dich nicht mehr gesetzlich töten, ausmerzen, wegschaffen, ausrotten, vergasen. Sie hassen dich, bis du aus ihren Augen bist, sie hassen dich auch dann, wenn du nur noch ein Schatten bist, ein Gespenst. Sie machen dich für all ihr Unglück verantwortlich, oder aber sie bewundern dich. Aber diese Bewunderung ist so unmenschlich, dass du sie niemals erfüllen kannst, weil du auch nur ein Mensch bist. Du bleibst der Fremde. (Auszug aus dem Buch "Was aus uns geworden ist")
Das Wort "Jude" fällt nicht während der Lesung. Erst danach - beim Gespräch mit dem Publikum. Ein Mann um die 60 meldet sich, sagt, dass der Text doch auf jeden zutreffen würde. Auch er habe manchmal seine Hausaufgaben nicht gemacht.
André Herzberg reagiert ausweichend. Doch, das sei ja ein Kompliment, dass der Text auch für andere funktioniere.
"Nicht haftbar für das, was der israelische Staat macht"
Der Mann fragt weiter, ob man nicht einen Unterschied machen müsse zwischen Juden und dem Staat Israel. Mit dessen Politik könne man doch nicht einverstanden sein.
Ein weiterer Mann meldet sich und bekennt, dass er schon lange ein Fan von Herzberg und dessen Band Pankow sei, und dass er erst heute erfahren habe, dass Herzberg Jude sei. Und dass er sich schämt, antisemitische Klischees im Kopf zu haben und in seiner Skatrunde mit einem zu sitzen, der vom "Endsieg" träumt.
Nur wenige Minuten in doch wohlmeinender Runde – und man ist mittendrin, wird in Herzbergs Text zurückkatapultiert.
Herzberg: "Also solange jemand – wie zum Beispiel ich – einen deutschen Pass hat, dann bin ich nach staatsbürgerlichem Verständnis Deutscher. Wähle hier, wohne hier und kriege hier eine Rente – wenn auch nicht so viel. Ganz normal, also sozusagen sind Juden, die hier leben, auch nicht haftbar für das, was der israelische Staat macht."
"Irgendwann sah ich die Tätowierung aus Auschwitz"
André Herzberg wurde 1955 in Ostberlin geboren. Seine Eltern waren Juden, die in den 1930er Jahren nach Großbritannien fliehen konnten und dort zu Kommunisten wurden. Sie folgten einem Parteibeschluss und kehrten 1947 nach Deutschland zurück, in die sowjetische Besatzungszone. Sie blieben meist unter sich, unter zurückgekehrten Emigranten, gingen gelegentlich zur Synagoge, feierten gemeinsam Weihnachten, aber schwiegen ansonsten über ihre Identität.
Herzberg: "Eine verborgene Identität. Also etwas, was man im Grunde nicht sagt. Meine Mutter war extrem ängstlich, traumatisiert muss sie wohl gewesen sein. Sie hatte wirklich Angst, wenn sie die Tür zugeschlossen hat. Und was dieses Thema angeht: Mit wem ich Kontakt habe, das spielt eine Riesenrolle."
Seine Mutter blieb ihm zeitlebens ein Rätsel: eine Staatsanwältin, dogmatisch, stalinistisch, den eigenen Genossen misstrauend. Es gab Geschichten über die Familie, aber es waren Geschichten von Toten.
Herzberg: "Aber wir haben, als ich etwa elf, zwölf war, eine Tante wiederentdeckt. Die Tante war bis jetzt eine weit entfernte Tante. Aber da es weiter keine Verwandtschaft gab, war die das eben irgendwie. Da war man ja neugierig darauf! Als Junge, ich hatte ja überhaupt keine Verwandten sonst. Und dann sind wir zu ihr nach Erfurt gefahren, die wohnte da in so einer Einzimmerwohnung. War so eine ältere Dame, eigentlich sehr lustig. Die hüpfte durch ihre Wohnung und sang, denn die war mal Soubrette gewesen vorm Krieg. Irgendwann sah ich auf dem Arm diese Tätowierung von Auschwitz. Und sie fing dann an zu erzählen. Und meine Mutter hat mich dann gezwungen, in dem Zimmer zu bleiben und mir das anzuhören. 'Das hörst du dir an, und das wird so gemacht!' Und auf solche Weise wurde ganz direkt mit diesem Thema konfrontiert."
Autor: "Wie alt warst du da?"
Herzberg: "Zehn oder zwölf."
Ich bin eine Kiefer
im märkischen Land
ich hab Durst auf Wasser
im trockenen Sand
nach`m großen Krieg
da wurd` ich gepflanzt
die Wurzeln sind flach
Stamm und Krone verkrampft
(André Herzberg - Kiefernlied, Vol. 2)
Herzberg. "Und ich hatte zwei Stockwerke über mir einen Freund. Kam so ins Wohnzimmer. Ja, da war so ein Glasschrank, und da standen die ganzen Verwandten von ihm drin. Und da war ein Mann in Uniform, in deutscher Uniform also. Ich frag: Wer ist denn das? Na, das ist mein Opa! Und für mich war alles: Das kann nicht sein, Nazi oder was? Ich konnte noch nicht unterscheiden zwischen Wehrmachts- und SS-Uniform. Für mich war diese Uniform schon was ganz Furchtbares! Nach dem, was ich so von zu Hause kenne: Das müssen alles Nazis sein sozusagen."
"Schuld sind sie alle! Alle sind Mörder!"
André Herzberg blieb allein mit seinen Fragen. Seiner Mutter fiel es zu schwer, die vielen kleinen und großen Ex-Nazis ringsum in ihr kommunistisches Weltbild einzuordnen. Also schwieg sie darüber.
Herzberg: "Man konnte auch mit Klassenkameraden das schwer teilen. Die haben alle von ihren Omas, Onkels und Tanten erzählt; und ich konnte nie mitreden. Also, das war irgendwie nah – aber was das mit uns zu tun hat, war mit einem ganz großen Tabu belegt. Auch innerhalb der Familie. Im Grunde genommen unausgesprochen: Schuld sind sie alle! Alle sind Mörder!"
Die 80er waren André Herzbergs große Zeit. Pankow stieg zu einer der beliebtesten Bands der DDR auf. Als andere noch in Metaphern schwelgten – mit Schwänen, offenen Fenstern und Bäumen – da ging es bei Pankow handfester zu: Sex, Teenagerliebe, Abscheu vor Duckmäusertum, Ekel angesichts der muffigen Welt der alten Männer.
Herzberg: "Und auf einmal kam so eine Gruppe von jungen Skinheads. Und dann brüllten die auch unten: 'Berliner Juden, macht euch forte, sonst pochen wir euch auf!' das war so ganz verwirrend. Das kannte man ja im Osten nicht so direkt, diese Art der Begrüßung. Das ist sehr schwer gewesen, alleine da rauszufinden. Ich war damit alleine, konnte mit niemandem darüber reden. Dieser Schatten lag eigentlich bis zum Tod meiner Mutter - den konnte ich nicht ganz abwerfen. Das fing dann mit dem Fall der Mauer an, dass ich gesagt habe: Das muss jetzt mal anders werden."
"Manchmal möchte man reintreten"
Es wurde ganz anders für André Herzberg. Die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung wollte keiner mehr die Ost-Bands hören, vertraute Auftrittsorte machten dicht.
Nach dem Ende der DDR wollte es wieder keiner gewesen sein. Alle waren nur noch Opfer.
Herzberg: "Es ist schwierig, in dieser Generation aufzuräumen. Und das bestätigt auch immer wieder sozusagen, was ich in einem Song kurz nach der Wende geschrieben habe: Ein Volk dreht sich auf den Hacken und hat von allem nichts gewußt, es ist genau wie damals ... wir seh’n nach vorn und kommen doch nicht los."
Ein Volk dreht sich auf den Hacken
und hat von allem nichts gewusst,
es ist genau wie damals
wir seh’n nach vorn
und kommen doch nicht los.
Wir schweigen. Wir schweigen.
(Liedtext von André Herzberg)
Herzberg: "Es gibt wirklich ekelhafte Analogien zu dem, was nach der Nazizeit passiert ist. Aah! Manchmal möchte man reintreten."
Wir werden belogen und betrogen
Wir werden verführt und angeschmiert
Wir sind verkohlt und angeschissen
Wir haben wieder nichts kapiert.
Und wir schweigen.
Wir schweigen. Wir schweigen.
(Liedtext von André Herzberg)
"Wegen Oma"
Herzbergs Mutter, die stets linientreue Kommunistin und Staatsanwältin, starb 2008. Zuvor musste sie sich noch einem Verfahren wegen Rechtsbeugung stellen.
Der Sohn hat sich an ihr abgearbeitet, in Geschichten, Romanen, einem Hörspiel.
Also Mutter, hast du nicht immer gesagt: "Einer von euch Jungs muss das Kaddisch sprechen an meinem Grab!"? Ich werde mich mühen. Du weißt ja: Allein die Schrift, mit Punkten oder ohne, von rechts nach links, du hast es doch auch nicht gern gemacht in der Schule. Ich gehe hin in die Synagoge, suche die Gruppe. Dort gibt es nur Männer. Sind alles Russen oder Ukrainer. Einer hat mich angehalten und gesagt, "Schließe dein Hemd! Wir zeigen keine Haut." Dabei schauen bei denen die Zizit drunter vor, die Schaufäden. "Fussel", die du so sorgsam bei mir abgerissen hast. Bei dem Rabbiner gibt es keinen Zweifel, kein Umschauen. Der sagt zu mir: "Du mußt einfach dein Hirn überschreiben!" (Auszug aus dem Hörspiel "Gespräch mit meiner Mutter")
Auf der Suche nach den Wurzeln führte sein Weg zum Judentum. Zum geleugneten, bekämpften, versteckten, aber auch gepflegten Judentum seiner Familie. Zum Schatten der Großmutter in Auschwitz.
Herzberg: "Na ja, irgendwann sucht man nach Wegen, seine Identität irgendwie zu vertiefen. Ich weiß nicht, ob das der richtige Weg ist, aber man sucht nach sowas. Und dann bot es sich so an. Und dann habe ich es gemacht."
Ich werde auch darüber schreiben, wie du dich gebeugt hast, erst den Nazis und dann den Kommunisten; den Nazis, weil du keine Wahl hattest, den Kommunisten, weil du mit deinen religiösen Gefühlen nicht wusstest, wohin sonst. Erst ganz spät hast du zurückgefunden. Nicht nur zur Familie. Auch zu dem, dessen Namen man nicht ausspricht, dem du erst die Schuld an allem gegeben hast, den du dir weggedacht hast. Du hast ihn einfach vergessen, aber kurz vor dem Tod fiel er dir wieder ein. Sein Name, seine Größe, seine Güte, seine Herrlichkeit durfte schon wegen Oma nicht mehr ausgesprochen werden. Wo er ist, ist auch sie. (Auszug aus dem Hörspiel "Gespräch mit meiner Mutter")
"Das ist ein langer Weg"
Die in Auschwitz ermordete Großmutter war die Leerstelle der Familie, das schwarze Loch, das Unaussprechliche. Erst nach dem Tod der Mutter hat André Herzberg ihre Briefe gelesen. Erst da bekam sie ein Gesicht.
Herzberg: "Ja, ich habe auch mal den Versuch gemacht, Hebräisch zu lernen, und mich sehr viel selber gebildet. Habe mich mit allen möglichen Themen auseinandergesetzt, die das Judentum betreffen oder es irgendwie tangieren. Bin natürlich nach Israel gefahren und habe da Kontakte geknüpft. Das ist ein langer Weg. Für mich ist das Judentum wie so eine Truhe, die man irgendwann aufmacht, und da ist alles voll mit Sachen. Wie so ein Kind: Ah, oh! Was ist denn das? Und dann nimmt man die erste Sache raus, guckt sich das an von allen Seiten, kann man schon Stunden mit verbringen. Und dann gräbt man immer tiefer. Und je tiefer man gräbt, umso tiefer wird die Truhe; die ist endlos tief. Es gibt immer wieder Neues und Tieferes und noch mehr zu entdecken. Und wenn man jetzt noch in den Bereich der religiösen, der biblischen Bildung kommt, dann wird es endlos tief und philosophisch und psychologisch und so."
Die ersten zwei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR waren für ihn eine Zeit der Suche, des Forschens, aber auch der Krise. Beruflich, privat, religiös. Alles stand auf dem Prüfstand. Seine Songs aus dieser Zeit tragen Titel wie "Hilf mir!", "Grau", "Ich hab dich sterben sehn", "Losgelöst", "Gottes Zorn".
"Am meisten aufgehoben fühle ich mich in Israel"
Herzberg: "Also, in meiner Kindheit war die Frage nach Gott entweder 'totaler Quatsch!' – meine Mutter war ja immer sehr drastisch – oder eben: 'Er hat ja versagt! Er hat uns im Stich gelassen.' Und jetzt – kommt auch durch meine Frau – habe ich einen anderen Blick gefunden, einen hoffnungsvollen Blick, einen freundlichen Gott, der dir hilft, der dich stärkt und in Situationen, wo du zweifelst, dich stärkt. Dadurch ist mir das gelungen.
Ich bin eine Kiefer
im märkischen Land
ich hab Durst auf Wasser
im trockenen Sand
nach`m großen Krieg
da wurd` ich gepflanzt
die Wurzeln sind flach
Stamm und Krone verkrampft
(André Herzberg – Kiefernlied)
Herzberg: "Ich glaube, Judenhass gibt es weltweit und nicht nur in Deutschland, auch in anderen Ländern. Ich meine, am meisten aufgehoben fühle ich mich in Israel. Da weiß ich: Jeder Soldat, der da rumläuft, und jeder Polizist ist potentiell mein Freund. Genau deswegen macht der das ja. Und hier ist es schwieriger. Antisemitismus, dieser Gedanke – für mich ist das eine psychische Weltkrankheit! Ich glaube, das kann man nicht ohne weiteres wegmachen. Das ist eben so."