Samstag, 20. April 2024

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Religion und Integration
"Wir müssen über die Grenzen der Religionsfreiheit reden"

Welche Rolle spielt Religion bei der Integration von Flüchtlingen? Diese Frage beschäftigt auch die evangelische Theologin Petra Bahr. Es müsse mehr darüber geredet werden, was Muslime in entwurzelten Situationen brauchen - aber auch über die Grenzen der Religionsfreiheit. Denn gerade Christen wüssten aus ihrer eigenen Tradition, dass Religion auch über eine destruktive Dimension verfüge.

Petra Bahr im Gespräch mit Benedikt Schulz | 01.02.2016
    Petra Bahr, Kulturbeauftragte des Rates der EKD
    Petra Bahr, ehemalige Kulturbeauftragte des Rates der EKD (dpa/picture alliance/Karlheinz Schindler)
    Benedikt Schulz: Klären wir erstmal, Frau Bahr, was hat denn Integration von Flüchtlingen in einem säkularen Staat überhaupt mit Religion zu tun?
    Petra Bahr: Religion ist einer von vielen Aspekten, den Menschen selbstverständlich mitbringen. Die Rucksäcke derjenigen, die zu uns kommen, mögen nicht besonders reich gefüllt sein. Aber die Rücksäcke an Prägungen, an Vorverständnissen, auch an sicheren Traditionen, in denen man die Welt bis jetzt versucht hatte zu entwerfen, haben auch eine religiöse Komponente. Und Religion ist, das gilt für alle Religionen, ein hoch ambivalentes Phänomen. Es kann Heimat stiften, es kann heilsam sein, es kann uns zu anderen führen. Es ist aber auch ein Ort, wo man sich von anderen abschließt, ein Ort harter Abgrenzung und der Identitätsmarker. Oder auch ganz unaufgeklärter Selbstverständlichkeiten, die erst in dem Moment, wo man mit anderen Lebensformen konfrontiert wird, relevant werden.
    Schulz: Wir haben gerade im Beitrag Margot Käßmann gehört, die meint, dass Religion einen Frieden stiftenden Faktor bilden kann. Und Sie schreiben in einem Artikel in der "Zeit", dass Religion Anteil habe an der Verachtung anderer und an der Ablehnung gleicher Freiheitsrechte. Ist Margot Käßmann naiv?
    Bahr: Sie ist nicht naiv, sondern einseitig. Sie betont – ich kann auch verstehen, warum sie das tut, um islamophoben Stimmungen ein Widerwort entgegen zu geben – die heilsame Seite der Religion. Aber es gibt eben auch die destruktive Dimension der Religion. Das wissen wir aus der eigenen christlichen Tradition. Und das wissen wir da, wo Religion sich fundamentalisiert. Und wir merken, dass es natürlich unterschiedliche Vorstellungen der Geschlechterordnung, der Frage von Ehre, auch von Hierarchien, von göttlichen und menschlichen Gesetzen gibt. Deswegen ist Religion ein ambivalentes Phänomen.
    Auch über Anknüpfungspunkte reden
    Schulz: Aber wir reden ja eigentlich schon über Religion in der öffentlichen Debatte. Würden Sie nicht sagen, dass in der öffentlichen Debatte über Flüchtlinge der Islam überbetont als etwas erscheint, was Integration behindert und erschwert?
    Bahr: Wir haben im Moment eine Tendenz darüber zu reden, dass Muslime kommen. Aber es kommen auch andere Minderheiten, übrigens auch verfolgte Christen. Die Muslime sind aus sehr unterschiedlichen Denominationen, aus unterschiedlichen Rechtstraditionen, sie sind unterschiedlich geprägt. Es ist ein Unterschied, ob man aus einer großen Stadt wie Damaskus kommt, wo man mit religiösem Pluralismus aufgewachsen ist, oder vom Land, wo man bestimmte kulturelle Ordnungsmuster stark mit religiösen Autoritäten verbindet. Es ist ein Unterschied, ob man ein kulturalistisch aufgeklärtes Verhältnis zur Religion der eigenen Eltern hat oder ob man darin einen Halt findet, der möglicherweise zu Hause nicht so relevant war wie in der Fremde. Über dieses alles muss man genauso reden wie über die Schönheit islamischer Traditionen und über die Anknüpfungspunkte, die religiöse Menschen in der Tat miteinander finden können.
    Schulz: Aber wenn wir vergleichen zwischen Menschen, die aus Damaskus kommen und jenen, die aus einer kulturell nicht so reichen Gegen stammen, haben wir dann wirklich ein religiöses oder nicht doch ein soziologisches oder kulturelles Problem?
    Bahr: Wir haben viele Probleme und Herausforderungen gleichzeitig. Vielleicht haben wir auch viele Chancen gleichzeitig. Ich würde mich gegen die Monopolisierung einer Perspektive immer wehren. Ich glaube, dass wir viel mehr darüber reden können und müssen, was muslimische Menschen in entwurzelten Situationen brauchen. Margot Käßmann redet von den Familien mit kleinen Kindern, die man kennenlernt. Tatsache ist aber, dass es vor allem junge Männer sind, die kommen, die ihren klassischen Ordnungen entrissen sind, ihren Autoritäten. Die Schreckliches erlebt haben auf der Flucht. Die extrem anfällig sind für eine Religiosität, die sie möglicherweise in ihren Heimatländern gar nicht hatten.
    Muslimische Verbände und Moschee-Gemeinden in die Pflicht nehmen
    Schulz: Versuchen wir es mal lösungsorientiert: Wie kann den Religion bei der Integration solcher Menschen helfen?
    Bahr: Ich glaube, dass die muslimischen Verbände und die Moscheegemeinden ganz stark in die Pflicht genommen sind, diese Art von religiöser Integrationsleistung zu schultern. Wir sollten auch über muslimische Seelsorge reden, über den Umgang mit religiöser Bildung, über deutschstämmige Imame, die auch in der Lage sind, eine religiöse Praxis in unseren Kontext einer liberalen, offenen Praxis zu übersetzen. Das heißt zum Beispiel: Wie geht man mit den inflationierten Bildern um, die wir in der westlichen Gesellschaft selbstverständlich gewohnt sind? Wollen wir die alle verdecken? Wollen wir unsere jungen Frauen ermahnen, ordentlich gekleidet zu sein? Oder wollen wir eine Kultur des Umgangs mit dieser Herausforderung? Denn natürlich sind diejenigen, die hierher kommen, zunächst einmal erschrocken, überwältigt, vielleicht aber auch beglückt über das Maß der Freiheit, das Menschen hier gewohnt sind zu leben.
    Schulz: Sind wir damit nicht doch wieder beim islamischen Religionsunterricht und damit bei einem alten Hut?
    Bahr: Wir sind insofern bei einem alten Hut, als ich glaube, dass wir an der in Teilen gescheiterten Integration von bestimmten jungen Menschen der dritten, vierten Generation sehen, dass wir zu lange nicht über Religion geredet haben, oder jedenfalls nicht so, wie wir seit 200 Jahren im Christentum versuchen, über Religion zu reden: nämlich Menschen souverän zu machen in ihrer Urteilskraft. Natürlich gibt es viele Freiheitsräume, die durch die Religion gedeckt sind, aber wir müssen zum Beispiel auch über die Grenzen der Religionsfreiheit reden. Was bedeutet eigentlich Religionsfreiheit? Davon ist zum Beispiel nicht eine bestimmte Art von Ehrvorstellung gedeckt oder ein bestimmter Schutz vor Kränkung, die daraus entsteht, dass andere anders leben als ich. Das haben die christlichen Kirchen mühsam gelernt. Diese Diskussion werden wir deswegen in größerem Maße führen müssen, weil wir in kürzester Zeit eine Million Menschen möglichst schnell und gut in diese Gesellschaft integrieren wollen.
    Schulz: Welche Rolle kann und soll Religion spielen bei der Integration von Flüchtlingen? Darüber habe ich gesprochen mit Petra Bahr, evangelische Theologin und Leiterin des Bereichs Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Ganz herzlichen Dank.
    Bahr: Bitteschön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.