Donnerstag, 25. April 2024

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Religion und Zuwanderung
"Das christliche Abendland ist eine Chimäre"

Vorrang für Zuwanderer aus dem christlich-abendländischen Kulturkreis: Das fordert die CSU. Das "christliche Abendland" sei ein Kampfbegriff, sagte der Theologe und Brauchtumsforscher Manfred Becker-Huberti im DLF. Oft werde er benutzt, um unchristliche Ziele durchzusetzen. Die Ausgrenzung von Fremden sei "völlig daneben" für einen Christen.

Manfred Becker-Huberti im Gespräch mit Christiane Florin | 12.09.2016
    Anhänger des "Pegida"-Bündnisses demonstrieren vor der Dresdner Oper.
    Das Bündnis Pegida verteidige christliche Werte, die es selber nicht hoch halte, kritisierte der Theologe Manfred Becker-Huberti im Interview mit dem Deutschlandfunk. (dpa / Kay Nietfeld)
    Christiane Florin: "Vorrang für Zuwanderer aus dem christlich-abendländischen Kulturkreis", lautet eine der Forderungen aus dem CSU-Papier vom Wochenende. Weil das nach unchristlicher Selektion klingt, stellte die Partei auf Nachfragen klar, dass Schutzbedürfigen weiterhin unabhängig von der Religionszugehhörigkeit geholfen werden sollte. Wer aber einwandern will, solle dem genannten Kreis angehören.
    Damit verbindet sich der Glaube, dass christliche Abendländer leichter integrierbar sind als - wie wäre der Gegensatz? - muslimische Morgenländer vielleicht? Um das Christlich-Abendländische einzukreisen, möchte ich nun mit Manfred Becker-Huberti sprechen. Er ist Theologe, Kommunikationswissenschaftler und Autor zahlreicher Bücher über das christliche Brauchtum. Das Abendland geht meistens erst dann auf, wenn selbiges unterzugehen droht. Wann wurde der Begriff "christliches Abendland" erstmals erwähnt?
    Manfred Becker-Huberti: Der Begriff Abendland ist alt. Er kommt aus der Antike, ist aber ein politischer Begriff und ist es auch geblieben bis in die Romantik hinein, wo dann gelegentlich von christlichem Abendland die Rede ist. Das lag völlig quer zu der historischen und politischen Erfahrung und wurde benutzt unter den Nationalsozialisten im Hintergrund, die sich dann das "christlich" wieder aus dem Bart strichen. Das kam dann wieder in den 60er-Jahren neu auf, ging wieder unter und ist jetzt erst in jüngerer Zeit wieder im Gespräch. Es beschreibt eine Chimäre, die es nie gegeben hat.
    "Von einem christlichen Abendland zu sprechen, liegt völlig daneben"
    Florin: Was ist da so "quer"? Wer war drin im Kreis, wer war draußen?
    Becker-Huberti: Ich darf nur daran erinnern: "Christlich" könnte man das Abendland frühestens nennen nach Karl dem Großen, für einige Teile dieses abendländischen Gebietes. Es ist das, was die ehemaligen römischen Westprovinzen sind. Die Einheitlichkeit in der Religion, die war sehr bald dahin. Die Hussiten, die Albigenser, die Reformatoren, die Anglikaner, die Aufklärung, die Französische Revolution sind alles Belege dafür, dass das mit der einheitlichen Christlichkeit in diesem Abendland nicht funktioniert hat.
    Oder ein schöneres Beispiel noch: Wir haben heute die französische Freundschaft, Gott sei Dank, aber Jahrhunderte lang war Frankreich ein Antipode gegen Habsburg. Habsburg war katholisch, Frankreich war katholisch, aber politisch war man sich völlig uneins, also von einem christlichen Abendland zu sprechen, liegt völlig daneben.
    "Ein missbrauchter Begriff"
    Florin: Ist es immer ein Kampfbegriff gewesen oder war das Abendland auch positiv konnotiert?
    Becker-Huberti: Es ist einmal positiv in der Zeit der deutschen Romantik gesehen worden, aber auch da ist etwas konstruiert worden, was es in der Form nicht gab. Es war ein schwärmerischer Begriff. Positiv wird es auch nicht gesehen von Spengler, der den Begriff aufbringt, dass das Abendland untergeht. Der aber auch keinen Katastrophismus predigt, sondern eine rassistische, eine rassische Ablösung sieht, in einem neuen Geschlecht, das als Herrenrasse die Macht übernimmt. Von daher übernehmen es dann die Nazis, also positiv besetzt ist dieser Begriff eigentlich nie gewesen, in einem guten Sinn, sondern er ist ein missbrauchter Begriff.
    "Ein fiktives Wir grenzt sich von einem gefahrvoll dargestellten Nicht-Wir ab"
    Florin: Und trotzdem können wir ja nicht einfach sagen, der Begriff sei untauglich, rassistisch, bestenfalls schwärmerisch-unpräzise. So leicht möchte ich mich mit der Entsorgung des Abendlandes noch nicht zufrieden geben. Es muss doch etwas geben, das bis heute daran fasziniert und Menschen mobilisiert. Pegida hat jetzt vielleicht die Hochphase überschritten, aber da haben sich Zehntausende auf die Straße begeben, um für das Abendland zu demonstrieren. Wie erklären Sie sich das?
    Becker-Huberti: Das ist wie ein Wall, den man aufbaut und da ist jedes Mittel recht, was man gebrauchen kann, jeder Stein, jeder Stamm, der in der Nähe liegt. Was so durch die Köpfe der Leute rauscht, wird benutzt um diesen Wall dann aufzubauen. Es ist ein Kampfbegriff, es ist ein Ausgrenzungsbegriff, ein fiktives Wir grenzt sich von einem gefahrvoll dargestellten Nicht-Wir ab.
    Das Nicht-Wir ist völlig egal, es sind immer die anderen und Wir, das sind die, die etwas verteidigen, von dem sie eigentlich nicht genau wissen, was es ist. Wenn ich sehe, dass Pegida, oder eine gewisse andere Partei, christliche Werte verteidigt, die sie selber nicht hoch hält, dann kann man sich eigentlich nur wundern.
    "Ausgrenzung ist völlig daneben für einen Christen"
    Florin: Kann es nicht sein, dass die anderen die christlichen Werte zu schwach verteidigen?
    Becker-Huberti: Es kann schon sein, dass die Christen für ihre Sache zu wenig auftreten, aber sie können nicht in dem Sinne der Ausgrenzung auftreten. Die Christen verstehen eigentlich den Fremden wie den Pilger. Das ist einer, der vorbeikommt und der aufgenommen werden muss wie ein Verwandter, wie ein Freund. Diese Auffassung stammt schon aus dem Alten Testament – ist also jüdisch-christlich und von daher ist eine Ausgrenzung völlig daneben für einen Christen.
    "Die Christen haben das Selbstvertrauen verloren"
    Florin: Wenn ich in der Fußgängerzone frage - und das mache ich gelegentlich -, dann können mir die Passanten nicht immer positiv sagen, was christlich-abendländisch ist, aber viele können sehr genau sagen, was es ihrer Ansicht nach nicht ist. Zum Beispiel: Vollverschleierung, Kinderehe, all das, was wir in letzter Zeit diskutiert haben. Abgrenzung scheint doch etwas Wichtiges zu sein. Was ist so verwerflich daran?
    Becker-Huberti: Abgrenzung ist wichtig, so lange sie dann den Ausgegrenzten nicht vor die Türe setzt. Ich kann schon überlegen, wofür ich eintrete oder wofür ich bin. Das sind in diesem Fall aber weniger die christlichen Werte als abendländische Konventionen, die sich bei uns durchgesetzt haben und die zum Teil auf die Aufklärung und die Französische Revolution zurückgehen. Die kann ich jetzt nicht christlich verbrämen.
    Die Christen haben das Problem, dass sie ihren Mund nicht aufkriegen und das sie sich etwas geduckt in dieser Gesellschaft bewegen, weil sie das Selbstvertrauen verloren haben. Und da wird es auch Zeit, das man wieder dieses Selbstvertrauen erwirbt.
    "Wir haben uns durch hohe Mauern die Armen vom Halse gehalten"
    Florin: Das Christentum ist, zumindest was die Zahl der registrierten Christen anbetrifft, auf dem Rückzug. Die Bundeskanzlerin hat vor einem Jahr gesagt, wir sollten erst einmal einen Aufsatz über Pfingsten schreiben, also unsere eigenen Wurzeln kennenlernen, bevor wir die Angst vor dem Islam schüren. Hat sie Recht?
    Becker-Huberti: Ich denke schon. Wenn ich nicht weiß, wofür ich bin und nur weiß, wogegen ich bin, da fehlt in der Mitte etwas. Das ist der entscheidende Punkt, das, wofür ich selbst eintrete. Und das ist bei den meisten verschwunden.
    Florin: Sie haben vorhin Oswald Spengler erwähnt, sein Buch "Der Untergang des Abendlandes". Das ist 1918 erschienen. Sehen Sie Parallelen zwischen der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und heute?
    Becker-Huberti: Eine gewisse Parallele, die Ausgrenzung ja. Aber die Motivation, die dahinter steht, ist eine andere. Spengler hatte das Interesse, eine neue Rasse heranzuziehen, ein neues Herrschergeschlecht, eine Idee von einem neuen Reich, einer abendländischen Identität. In diesem Zusammenhang wären Teile des Abendlandes untergegangen, um in einem neuen Reich aufzugehen. Das ist das eine, das andere, was bei uns ist: Die gefühlte Bedrohung von außen, indem Leute, die anders sind, zu uns kommen.
    Was heruntergespielt wird, ist, dass wir uns durch hohe Mauern die Armen vom Halse gehalten haben und dass der Punkt kommt, wo der Druck der Armen so stark wird, dass wir sie nicht draußen vor der Tür halten können. Das ist lange gewusst worden, wurde aber immer wieder verdrängt. Wir gelten als der Garten Eden in dieser Welt und die Menschen, die irgendwo so gut wie nichts haben, versuchen sich ein Stück davon zu holen. Sie flüchten aus politischen Gründen, sie flüchten aus wirtschaftlichen Gründen. Wer will das im Einzelfall genau unterscheiden?
    Florin: Sie befassen sich mit Brauchtum, mit christlichen Festen zum Beispiel und mit Heiligenverehrung. Sind christliche Bräuche nur für Christen?
    Becker-Huberti: Bräuche sind dann Bräuche, wenn sie sich wandeln. Wenn sie diese Wandlung aufhören, fallen sie wie Staub in sich zusammen. Bräuche müssen sich ständig verändern. Die Frage ist immer: Ist dieses Brauchtum eines, was in der Gesellschaft verwurzelt ist? Hat es die Sitte gefordert, wie das früher formuliert wurde? Ist das also mit der Ethik der Menschen übereinzubringen? Oder sind es Positionen, die vereinzelt sind? Dann ist es nicht Brauch für alle. Dann fällt es herunter und gilt nicht mehr in dem Sinne. Umgekehrt genauso: Bräuche, die nicht mehr gelebt werden, lösen sich auf und verschwinden.
    Florin: "Zieh den Kreis nicht zu klein", heißt es in einem Kinderkirchenlied. Manfred Becker-Huberti argumentiert ähnlich und sagt: Zum Christentum gehört auch die Veränderung. Danke für das Gespräch über die christlich-abendländischen Kulturkreis.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.