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Religionsgeschichte
Alkuin und die Wiederentdeckung der Wissenschaften

Kaiser Karl der Große schuf während seiner Regierungszeit die Grundlagen für die christlich-abendländische Kultur. Entscheidende Impulse gingen dabei von einem der bedeutendsten Gelehrten der Zeit aus - dem Engländer Alkuin.

Von Rüdiger Achenbach | 22.01.2014
    "Niemand muss Wichtigeres oder mehr wissen, als ein Kaiser, denn sein Wissen dient dem Nutzen aller. Deshalb ist es wichtig, dass der Kaiser sich dem Studium der Logik widmet. Denn die schwierigsten Probleme lassen sich nur durch scharfsinnige Analyse klären."
    Als der Angelsachse Alkuin dies im 8. Jahrhundert schreibt, gehört er zu den wichtigsten Beratern Karls des Großen. Er war der Kopf der sogenannten Karolingischen Renaissance. Einer Kulturbewegung, die letztlich die Basis für das christliche Abendland geschaffen hat.
    Alkuin war um 730 als Sohn einer northumbrischen Adelsfamilie geboren worden. Schon als Kind hatte man ihn in die Kathedralschule nach York gebracht, wo man sehr schnell das Talent des Jungen erkannte. Im Laufe der Jahre erwarb Alkuin sich durch seine Studien auch auf dem europäischen Festland den Ruf eines herausragenden Gelehrten. Unter Alkuins Leitung wurde die Kathedralschule von York zur angesehensten Bildungsstätte Europas. Der Mediävist Wilhelm Heil:
    "Alkuin berichtet von den zahlreichen Büchern der Bibliothek, die damals eine der größten Bibliotheken Europas war. Als Alkuin selbst schon Lehrer war, reiste er mehrmals auf dem Kontinent, um neue Bücher zu besorgen."
    Auf einer Reise nach Rom begegnete Alkuin dann 781 in Padua zum ersten Mal Karl dem Großen. Da der Frankenherrscher immer auf der Suche nach gelehrten Männern für seinen Beraterstab war, kam Karl das Treffen mit dem größten Gelehrten seiner Zeit gerade recht. Er setzte alles daran, auch Alkuin an seinen Hof zu holen. Aber Alkuin scheint sich zunächst eine Bedenkzeit ausgebeten zu haben, denn es vergingen noch mehrere Monate, bis er dann endlich mit einigen seiner Schüler in Aachen eintraf. Der Philosophiehistoriker Kurt Flasch:
    "Karl machte ihn zum Leiter seiner Hofschule und überließ ihm die Verantwortung für die Kulturpolitik. Alkuin bildete nun die Führungsschicht der Folgegenerationen aus. Er brachte sie in lebendige Verbindung mit der antiken Tradition, wie sie im York des 8. Jahrhunderts daheim war. Durch Alkuin und seine Schule kamen West- und Mitteleuropa wieder unter den Einfluss der Bildung."
    Erstmals nach den Wirren der Völkerwanderung konnten also jetzt im 8. Jahrhundert im Zentrum Europas wieder Wissenschaften betrieben werden.
    Karl der Große, der zwar selbst Analphabet war, hatte ein gutes Gespür dafür entwickelt, die herausragendsten Gelehrten aus allen Teilen Europas an seinem Hof zu versammeln. Neben Alkuin waren das unter anderen gebildete Männer wie der spanische Westgote Theodulf von Orleans und der Langobarde Paulus Diaconus.
    In der Hofschule, oder der Akademie, wie sie auch von den Zeitgenossen genannte wurde, konzentrierte man sich vor allem auf die artes liberales, also die sieben Disziplinen der spätantiken Wissenschaften: Grammatik, Logik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astrologie und Musik. Man wollte also ganz bewusst wieder an die antike Tradition anknüpfen. Und Alkuin hebt in seinen Schriften immer wieder die große Bedeutung der Logik hervor. Denn nur mit der Logik könne man volkstümliche Vorstellungen von Gott, der Welt und den Menschen richtig beschreiben. Er demonstriert das am Beispiel des Gottesbegriffes:
    "Gott muss immer zeitlos und darf nicht räumlich gedacht werden. Wenn die Bibel anders von ihm spricht, müssen diese Sätze nach den Regeln der Logik verstanden werden.
    Wenn es also heißt: Ehre sei Gott in der Höhe, dann ist Gott nicht in der Höhe. Denn wenn Gott oben und im Himmel wäre, dann würden ja die Vögel und die Leute, die auf Bergen wohnen, ihm am nächsten sein."
    Für Alkuin stand außer Zweifel, dass auch die Bibel nach logischen Regeln ausgelegt werden muss. Die Grundlagen dafür liefert ihm die Antike. Aber es geht ihm durchaus nicht nur um philosophische Definitionen in der Religion. Alkuin war vor allem ein Pragmatiker. Deshalb galt sein Interesse besonders den ethischen Fragen. Und dafür konnte er auch Karl den Großen schnell begeistern. Kurt Flasch:
    "Als Alkuin dem Frankenherrscher die Haupttugenden der antiken Philosophie Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maßhalten erklärt hatte, war Karl sehr erstaunt und wunderte sich, dass die Philosophen der Antike nach so wunderbaren Tugenden gelebt hatten, während diese unter den Christen missachtet würden. Als er dann von Alkuin wissen wollte, worin sich denn nun ein Christ von einem antiken Philosophen unterscheide, antwortet dieser ihm, nur durch die Taufe und den Glauben."
    Alkuin hatte also nicht das geringste Problem, antike Lebensregeln und christliche Vorstellungen nebeneinander zu stellen. Auf diese Weise entwickelte er ein Erziehungsprogramm, mit dem er das moralische Niveau der weltlichen und geistlichen Führungsschicht im Frankenreich heben wollte. Alkuin betrieb also in erster Linie Management-Schulung, um die Verwaltungschefs des Frankenreichs für ihre Ämter auszubilden.
    Dass es mit der sogenannten Adelselite damals in moralischer Hinsicht nicht zum Besten bestellt war, belegen auch die Schriften der zeitgenössischen Chronisten, die ein düsteres Bild von der extremen Verrohung der Sitten zeichnen. Zum Beispiel ließ ein Bischof alle seine Kleriker kastrieren, nur weil er mit ihnen unzufrieden war. Das veranlasste Karl den Großen schließlich persönlich einzugreifen und diesen Bischof abzusetzen.
    Alkuin hatte sich aber auch zum Ziel gesetzt, bei den einfachen Priestern gewisse Bildungsstandards durchzusetzen. Denn vielfach waren diese Priester ehemalige Leibeigene, die von ihren Grundherrn in dieses Amt eingesetzt worden waren und weiterhin zum ungebildeten Gesinde der Adeligen gehörten. Den meisten Priestern hatte man nur oberflächlich das Lesen beigebracht, sodass viele von ihnen selbst nicht verstanden, was sie da vorlasen.
    Unter der Regie Alkuins erließ Karl der Große 789 seine große Mahnschrift "Admonitio generalis", in der er anordnete, dass künftig an allen Bischofssitzen und Klöstern Schulen eröffnet werden sollten, um die Geistlichen auch in der lateinischen Sprache zu unterrichten.
    Da die Karolinger-Könige ihre Erwählung von Gottesgnaden nach dem Vorbild König Davids aus den Königsbüchern des Alten Testaments ableiteten, gewannen auch die Vorschriften aus dem Alten Testament zunehmend an Bedeutung für die Regulierung des christlichen Lebens. Der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt:
    "Auf diese Weise nahm das frühmittelalterliche Christentum nun in reichem Maße alttestamentliche Züge an. Das gilt auch für das Priesterbild, in der Forderung nach kultischer Unbeflecktheit und in dem besonderen Recht, dass zum Beispiel nur noch Priester den Chorraum in der Kirche betreten konnten und nur sie allein den Altar berühren durften."
    Unter alttestamentlichem Einfluss setzte sich jetzt zum Beispiel bei der Eucharistie die Verwendung von ungesäuertem Brot in der westlichen Kirche durch. Man wollte vermeiden, irgendwelche Fehler in der Liturgie zu begehen, denn von einem korrekten und gottgefälligen Gottesdienst hing nach der damaligen Vorstellung auch das Wohlergehen des gesamten Frankenreiches ab. Dadurch bekamen die liturgischen Reformen auch eine politische Brisanz. In einem von Alkuin verfassten Brief, den Karl der Große 785 veröffentlichte, heißt es:
    "Gott zu gefallen, muss man recht leben, zugleich aber auch richtig sprechen, lesen und schreiben können. Denn mit den Schreibfehlern wachsen auch die Verständnisfehler. Gott aber findet nur Gefallen am recht geschriebenen Wort."
    Damit spricht Alkuin auch ein anders Problem seiner Zeit an. Denn beim Anfertigen von neuen Handschriften entstanden zahlreiche Fehler, weil es oft unmöglich war, die vielen regional unterschiedlichen Schriftarten, die damals im Frankenreich in Gebrauch waren, richtig zu entziffern. Man brauchte also dringend eine einheitliche Schrift, die man überall lesen konnte. Deshalb entwarf die Hofschule unter Alkuins Leitung auch eine neue, vereinfachte Schriftart. Arnold Angenendt:
    "Es musste buchstäblich mit dem ABC begonnen werden. Die berühmte karolingische Minuskel beseitigte die Nationalschriften wieder. Der karolingischen Schriftreform ist es zu danken, dass bis heute die Länder der westlichen Welt eine gemeinsame Schrift haben."
    Alkuin wurde für Karl den Großen zunehmend zum wichtigsten Berater in Kulturfragen. Und auch im Streit mit Byzanz sollte er noch eine bedeutende Rolle spielen.