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Religionssoziologie
Säkularisierung muss nicht sein

Religion und Moderne passen nicht zusammen. Modernisierung führt unweigerlich dazu, dass die Bedeutung von Religion in einer Gesellschaft abnimmt. Das besagt die Säkularisierungstheorie. Doch ganz so einfach ist es nicht - sagt eine neue Studie.

Von Monika Konigorski | 22.05.2015
    Ein Kruzifix in Oberschwaben
    Kritiker der Säkularisierungstheorie verweisen auf Entwicklungen wie in Südkorea. (M. C. Hurek / dpa / picture alliance)
    "Religionen müssten die Frage an sich stellen: Wo ist unser Mehrwert, sodass wir das vorhandene Angebot bereichern, ergänzen? Sonst bestünde die Möglichkeit, wie die Studie auch zeigt, dass Religionen zum Teil als Verlierer herauskommen und weniger attraktiv für Menschen werden", sagt der islamische Theologe Mouhanad Khorchide bei der Vorstellung der neuen Studie.
    Rückblick: Deutschland im Jahr 1945. Nach der Katastrophe des Nationalsozialismus und des Krieges sind die Kirchen voll. Sie bieten Hilfe in der Not, moralische Orientierung und weisen den politischen Weg.
    Wenige Jahre später dann wendet sich das Blatt. Man ist nicht mehr angewiesen auf die Kirche. Die Not ist dem Wohlstand gewichen, die Sozialsysteme funktionieren. Die Kirche wird nun vor allem als autoritäre Institution gesehen, sie gilt als geldgierig und machtversessen. Seitdem sinkt von Jahr zu Jahr die Zahl der Kirchenmitglieder, nimmt die Bedeutung der Kirchen beständig ab.
    Die Religionssoziologen haben dazu eine Theorie entwickelt, die sogenannte Säkularisierungstheorie. Die besagt, dass Religion und Moderne nicht zusammenpassen und Modernisierung unweigerlich dazu führt, dass die Bedeutung von Religion in einer Gesellschaft abnimmt, die Gesellschaft sich also säkularisiert.
    Kritiker dieser Theorie verweisen auf Entwicklungen wie in Südkorea: Während sich das asiatische Land modernisiert, während Wohlstand und Bildungsniveau wachsen, gewinnt auch die Religion beständig an Bedeutung. Woche für Woche strömen Hunderttausende in riesige Gebetstempel.
    In Italien oder den USA, modernen westlichen Gesellschaften, spielt die Religion weiterhin eine wichtige Rolle. In Russland ist die orthodoxe Kirche seit gut zwei Jahrzehnten neu erstarkt. Von wegen Säkularisierung, sagen die Kritiker der Theorie. Sie sprechen von einer "Wiederkehr der Götter" in modernen Gesellschaften.
    Was stimmt nun?
    "Die Säkularisierungstheorie gibt gute Hinweise darauf, wie man religiöse Wandlungsprozesse erklären kann, aber sie reicht nicht aus", erklärt Detlef Pollack.
    Der Religionssoziologe forscht seit Jahren zur Säkularisierung in modernen Gesellschaften. Pollack, Sprecher des Exzellenzclusters Religion und Politik an der Universität Münster, hat nun zusammen mit seinem Mitarbeiter Gergely Rosta eine empirische Studie vorgelegt. Sie vergleicht religiöse Entwicklungen in modernen oder sich modernisierenden Gesellschaften mehrerer Kontinente. Die beiden Soziologen kommen zu dem Ergebnis: Die Theorie, dass sich moderne Gesellschaften zwangsläufig säkularisieren, muss differenziert werden.
    "Man muss sie ergänzen, und ganz wichtig ist, dass man nicht nur davon ausgeht, dass alles weniger wird, dass es sozusagen nur einen Fahrstuhleffekt nach unten gibt, sondern der Fahrstuhl kann eben auch nach oben fahren und unter bestimmten Bedingungen können wir das auch beobachten."
    Eine solche Bedingung ist in Südkorea gegeben, erklärt Pollack. Die Pastoren der Pfingstgemeinden betonen, Christen sollten von Gott auch ganz weltliche Dinge erbitten: etwa körperliche Gesundheit und finanziellen Wohlstand. Religion verbinde sich hier mit wirtschaftlichen Interessen, analysiert Pollack.
    Religiöse Interessen in Verbindung mit anderen Interessen
    In Russland vermischen sich religiöse Interessen mit politischen und nationalen Erwartungen. Auch hier sind also andere als rein religiöse Interessen im Spiel. Aus diesen und anderen Beispielen leiten die Münsteraner Forscher ein Muster ab: Immer da, wo sich Religionen mit anderen Interessen verbinden, stärkt das die Religionen.
    Anders herum gebe es auch Faktoren, die die Bedeutung von Religion schwinden lassen. Zum Beispiel, wenn sie konkurriert mit einer Fülle an attraktiven Freizeitangeboten oder Bildungsmöglichkeiten. Das sorgt mit dafür, dass die Kirchen beständig, langsam, schleichend, in Westeuropa an Bedeutung verlieren.
    "Die Kirche wird als autoritäre Institution angesehen von sehr vielen. Aber das ist oft kein Grund, aus der Kirche auszutreten, sondern man bleibt in der Kirche. Aber wenn man dann viele andere Möglichkeiten hat, etwas zu tun, nehmen wir an, am Sonntagvormittag, dann muss man sich irgendwie entscheiden."
    Oft falle dann überhaupt keine bewusste, sondern eine intuitive Entscheidung. "Man macht das, was näher liegt, dann bleibt man im Bett. Oder man trifft sich halt mit Freunden, oder die Familie ist ohnehin jetzt mal wieder dran, und dann macht man einen Familienausflug. Aber man müsste sich entscheiden, um an den kirchlichen Angeboten teilzunehmen, und diese Entscheidung wird von vielen nicht getroffen."
    Dass die Kirche für die Menschen hierzulande an Bedeutung verliert, ist keine große Überraschung. Dieser Trend sei auch nicht umkehrbar, erklärt Pollack. Die Kirchen stünden diesem Prozess ziemlich hilflos gegenüber.
    Dafür wenden sich mehr und mehr Menschen alternativen, spirituellen Formen von Glauben zu, heißt es oft. Das stimme mit den Untersuchungsergebnissen überein, erklärt Pollack. Insgesamt jedoch könne das dem Trend nichts anhaben, dass Religiosität und Glaube hierzulande an Bedeutung gewinnen.
    "Es ist nicht so, dass gewissermaßen dort eine große Gegenbewegung entsteht. Sondern man muss sagen: Es hat zugenommen in bestimmten Trägerschichten, aber nicht in dem gleichen Maße wie die Bindung an die traditionelle Kirchlichkeit und Religiosität abgenommen hat."
    An einem lässt Pollack keinen Zweifel:
    "Man muss sagen, dass der übergreifende Trend schon der ist, dass die Bedeutung von Religion auf den verschiedensten Ebenen in modernen Gesellschaften oder auch sich modernisierenden Gesellschaften zurückgeht."
    Langfristig gesehen befindet sich die Religion in modernen Gesellschaften also auf dem Rückzug. Die Säkularisierungsthese stimmt.
    Religiöse Tradition erstarkt wieder
    Widerspruch kommt vom Politikwissenschaftler Ulrich Willems. Der Professor für "Religion und Politik" am Exzellenzcluster in Münster verweist als Beispiel auf das Ende des Ancient Regime, des Absolutismus in Frankreich vor der Französischen Revolution. Nach den ersten demokratischen Revolutionen im 18. und 19. Jahrhundert sei zu beobachten gewesen, dass religiöse Traditionen wieder erstarkten.
    "Ich glaube, dass es eine Vielzahl von anderen Faktoren geben kann, die das Schicksal der Religionen in der Moderne beeinflussen, und dass selbst unter modernen Bedingungen, wie das historisch auch immer der Fall gewesen ist, religiöse Traditionen, sich neu erfinden können und dementsprechend auch erfolgreich sein können."