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Religionswissenschaft
Gelehrtes Schweigen

In Marburg trifft sich die deutschsprachige Religionswissenschaft, aber aktuelle Religionsthemen sucht man im Programm vergebens: kein Luther, kein "Islamischer Staat", kein Papst Franziskus. Forscht das Fach an der Gesellschaft vorbei - oder hat es andere Trends im Blick als die Medien?

Von Christian Röther | 13.09.2017
    Das Programmheft der diesjährigen Tagung der Religionswissenschaften an der Universität Marburg - darauf abgebildet ist eine Winkekatze
    Winkekatze statt Luther - auf der Jahrestagung der Religionswissenschaft in Marburg stehen die medial großen Religionsthemen nicht auf der Agenda (Deutschlandradio / Christian Röther)
    Als Journalist, der Religionswissenschaft studiert hat, beobachte ich mit großem Interesse, was in dem Fach vor sich geht. Und bei den Debatten um das Reformationsjubiläum wünsche ich mir oft, dass Vertreterinnen und Vertreter der Religionswissenschaft sich endlich einschalten mögen und neue Perspektiven einbringen: ihren religionsvergleichenden Blick, um den deutschen Luther-Hype zurechtzurücken.
    Doch bisher sind solche Stimmen kaum wahrnehmbar. Ich hoffte deshalb auf die Jahrestagung der deutschsprachigen Religionswissenschaft, dieses Mal in Marburg. Die dortige Philipps-Universität ist eng mit der Reformation verbunden. Landgraf Philipp der Großmütige war ein Vorkämpfer der Reformation. Schon 1527 - nur zehn Jahre nach Luthers Thesen - gründete er in Marburg die Alma Mater Philippina als protestantische Hochschule.
    "Da ist eine große Fülle von Themen"
    Das allerdings scheint die Religionswissenschaft heute wenig zu interessieren. Im Marburger Tagungsprogramm kommt das Wort "Luther" überhaupt nicht vor - und das bei rund 200 Vorträgen. Um die Reformation geht es genau ein Mal: "Kunst als Kommunikationsmedium der Reformation", so heißt der Vortrag. Also fahre ich nach Marburg und frage die beiden Organisatorinnen der Tagung, warum halb Deutschland über das protestantische Jubiläum spricht – aber die Religionswissenschaft dazu schweigt.
    Bärbel Beinhauer-Köhler sagt: "Wir beschäftigen uns eben sehr bewusst mit allen möglichen Religionen um den Erdball herum, grenzenlos durch alle Zeiten. Da ist einfach eine ganz große Fülle von Themen, die sie da auch in unserem Programm finden, sodass die Reformation jetzt selbst einfach nicht prominent dann vorscheint."
    Die Schlosskirche zu Wittenberg. An ihre Tür schlug Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen. Seit 1997 gehört die Schlosskirche zu den UNESCO-Welterbestätten.
    Nach dem Luther-Hype scheint es fast unvorstellbar, dass die Ereignisse um die Schlosskirche zu Wittenberg auf der Jahrestagung der Religionswissenschaftler keine große Rolle spielen (imago / Thorsten Becker)
    Bärbel Beinhauer-Köhler ist in Marburg Professorin für Religionsgeschichte und Religionswissenschaft. Wenn man in die weite Welt der Religionen schaut, dann ist die protestantische Reformation also zu vernachlässigen? Die zweite Organisatorin der Tagung stimmt zu - Edith Franke, ebenfalls Professorin für Religionswissenschaft in Marburg. Sie sagt, dass sich ihr Fach eben nicht auf das Christentum konzentrieren will:
    "Deshalb stehen in der Tat andere Religionen meist mehr im Mittelpunkt als jetzt ein historisches, kirchengeschichtlich besonderes Ereignis, was wir dann tatsächlich den anderen überlassen."
    Religiöser Wandel ohne 500-Jahr-Party
    Die anderen, das sind in diesem Fall Historikerinnen, Politiker - und natürlich die evangelische Theologie. Unter anderem aus ihr ist die Religionswissenschaft einst entstanden und zu einem eigenständigen akademischen Fach geworden. Noch immer ist dieses vergleichsweise kleine Fach um Abgrenzung bemüht, nicht nur zur Theologie. Es will sein Profil schärfen im universitären Konkurrenzkampf. Vielleicht ist auch das ein Grund, warum die Religionswissenschaft das Reformationsjubiläum weitgehend ignoriert. Edith Franke sagt:
    "Sehr wohl aber finden Sie bei uns auf der Tagung solche Panels, die sich mit der Frage religiöser Autorität beschäftigen, mit der Tradierung von religiösem Wissen, mit der Formierung von Religionsgemeinschaften und all ihren Kämpfen, die es darum gibt und Konflikten. Heterodoxie zum Beispiel wird ausgegrenzt. Das ist ja ein Thema, was natürlich auch in dieses Reformationsthema hineinspielt. Und so wird das eher religionswissenschaftlich behandelt."
    Religiöser Wandel ohne Luther, ohne 500-Jahr-Party. Also Themenwechsel: Was ist mit anderen aktuellen Debatten über Religionen? Der Begriff "Salafismus" steht auch nur ein Mal im Tagungsprogramm. Gar nicht drin stehen "Dschihad" oder "Islamischer Staat".
    "Es kommt halt vielleicht nicht mit dem Schlagwort Salafismus bei uns jetzt zunächst mal im Programm vor, aber da können Sie sicher sein, dass zeitgenössische Entwicklungen im Islam durchaus auch von Religionswissenschaftlerinnen und Religionswissenschaftlern recht intensiv bearbeitet werden."
    Sagt Bärbel Beinhauer-Köhler. Tatsächlich soll es bei der Tagung oft um Architektur gehen und um Debatten über den öffentlichen Raum.
    "Dürfen da Moscheen mit Minaretten oder Kuppeln stehen? Oder soll der Gebetsruf hörbar sein oder nicht? Und wir alle wissen, dass sich daran eben auch unter Umständen große Emotionen entzünden. Das sind eben Felder, mit denen sich Religionswissenschaft durchaus intensiv beschäftigt. Und das sind große Themen, wo wir durchaus, denke ich, etwas sehr Nützliches beizusteuern haben."
    Außenansicht der Zentralmoschee in Köln
    An religiöser Architektur scheiden sich häufig die Geister - so auch in Köln (dpa / Horst Ossinger)
    Bloß wie kommt die Religionswissenschaft in gesellschaftlichen Debatten vor - beziehungsweise nicht vor? Das wird im Fach immer wieder diskutiert. Bärbel Beinhauer-Köhler sagt:
    "Und ich will da den Ball vielleicht einmal gerade zurückspielen: Es ist natürlich ein Unterschied auch festzustellen zwischen medialen Debatten um Religion, wo dann eben vielleicht auch bestimmte Schlagworte sehr hoch gehangen werden, und dem, was wir dann vielleicht auch an Grundlagenforschung im Hintergrund betreiben."
    "Medien, Materialität, Methoden"
    Jenseits von Schlagworten wie Salafismus und Dschihad geht es in der Religionskundlichen Sammlung in Marburg etwa um die "Vielfalt islamischer Glaubenspraxis" – in der Ausstellung "Von Derwisch-Mütze bis Mekka-Cola."
    Tatsächlich können wir Journalisten uns fragen, ob wir dem Reformationsjubiläum nicht zu viel Platz einräumen. Ob wir das 500-Jahre-Spiel von Kirchen, Politik und Verlagen allzu unkritisch mitspielen. Wohl auch deshalb ist das Thema der religionswissenschaftlichen Jahrestagung diesmal nicht etwa "Luther, Franziskus und Dschihad", sondern "Medien, Materialität, Methoden". Das verweist auf aktuelle Entwicklungen in den Religionen, erklärt Edith Franke:
    "Religionen präsentieren sich in Medien. Medien werden genutzt in der religiösen Alltagspraxis, und auch Materialität ist oft Ausdruck der individuellen oder auch sich wandelnden religiösen Praxis."
    Playmobil-Figur von Martin Luther zum Reformationsjahr 2017
    In der religionskundlichen Sammlung der Universität Marburg findet sich zwischen rund 10000 religiösen Objekten auch der Playmobil-Luther (picture alliance / Universität Jena)
    Beispiele für diesen materiellen religiösen Wandel sind etwa zwei Puppen aus Dubai, die aussehen, als wären Barbie und Ken zum Islam konvertiert. Ein weiteres Beispiel ist siebeneinhalb Zentimeter klein, von Playmobil und hat sich inzwischen über eine Million Mal verkauft. Auch Edith Franke hat ein Exemplar angeschafft - und für unser Interview extra aus dem Lager geholt.
    "Den Luther habe ich hier hingestellt, weil das ist ein Objekt der religionskundlichen Sammlung."
    So lagert der kleine Playmobil-Luther nun in der Marburger Sammlung zwischen rund 10 000 anderen religiösen Objekten - von der antiken Göttin bis zur kitschigen Winkekatze. Ein Sinnbild dafür, wie die Religionswissenschaft mit dem Reformationsjubiläum umgeht. Nichts zu sagen, oder kaum etwas, das ist eben auch ein Statement.