Wie eigentlich nur ein Träumer kann, gräbt sich Simon Schama durch die Oberflächen des Sichtbaren und der Konventionen, die den bildnerischen Kosmos des Rembrandt Harmesz van Rijn umgeben. Jede vom Pinselstil gezogene Furche, jedes von ebenso anmutigen wie brutalen Spachtelhieben entblößte Portrait, die Mythen, Wünsche und Erinnerungen, die sich dahinein wie ein verborgenes Adernetz knüpfen, spürt Schama in seinem monumentalen Werk über Rembrandt und die monströse Einsamkeit auf, in der die Malerei ihrer Zeit enteilt Es ist das Buch eines Betrachters, der sich auf minutiöse Spurensuche begeben hat und so gerade von der Welt erzählt, in der sich Rembrandt einzigartig gemacht und damit ihr unbarmherziges Bild, eine Innenansicht ihrer Gefühle überliefert hat. Schama interessiert sich immer besonders dafür, wie Rembrandt gemalt hat, mit welchem Material. In seiner Rekonstruktion der malerischen Mittel und der vielfachen Bezüge der Bildgeschichten, die sie erschaffen, gelingt eine seltene Erfahrung, eigentlich etwas, was heute nur Restaurateuren noch mit aller Vorsicht erlaubt ist: die Oberflächen der Bilder zu berühren, ihre Struktur gleichsam zu ertasten, um ihre Geschichten, die Geschichten der Portraitierten, Rembrandts selbst, wie er sich in den Verwandlungen seiner zahlreichen Selbstbildnisse zeigt, die Geschichten der Hände und der Augen, der Haare und der Seidenstoffe und noch die Geschichte des bröckelnden Wandputzes - um all diese Geschichten wie unmittelbar aufzunehmen. Schama erzählt das Leben einer Selbstdarstellung von "schockierender Originalität". Tief dringt er ein in die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen einer Malerexistenz im 17. Jahrhundert, in die Erfolgsgeschichte Rembrandts und des Absturzes, als der eigene Sohn Titus zum Gläubiger wird. Vor allem erzählt Schama aber von den Bildern Rembrandts, von seinen Bilderfindungen, davon, wie er sich mit der komplexen Grammatik seiner Malerei immer wieder selbst neu erfindet. Immer wieder hat Schama in seinen bisher auf deutsch erschienenen | Büchern - wie hier nun auch - Kulturgeschichte geschrieben, die mehr ist als die Summe des reich ausgebreiteten Detailwissens. Schon in seinem Buch Überfluß und schöner Schein von 1988 über das "Goldene Zeitalter" nicht nur der holländischen Malerei hat Simon Schama als Schwerkraftzentrum unseres Interesses an dieser Zeit und eben auch an einer Figur wie Rembrandt das Gefüge von Leidenschaft und Kalkül ausgemacht. Nun zeigt er ihn als melancholischen Verwandlungskünstler, dessen Übermaß an Ausdruckskraft noch immer dem Betrachter eine Imaginationsmacht bereit hält, die um die Gleichzeitigkeit - wenn nicht Ökonomie - von grandioser Selbstinszenierung und schleichend-unbewusster Selbstzerstörung weiß.
Eine kleine Studie mit Feder und Pinsel, die der gerade neunzehnjährige Rembrandt von seinem alten Vater angefertigt hat, zeigt das für Schama besonders eindrucksvoll, weil sie Rembrandts für die Malerei so heikles Lebensthema auf den Punkt bringt: die Blindheit oder "das Licht, das in der Dunkelheit lebt:
"Sein Leben lang hielt Rembrandt an der Idee der spirituellen inneren Blindheit fest, auch bei denjenigen, denen ihre physische Sehkraft stark schien. ... Seine eigene Wahrnehmung war auch schon in seinen Jugendjahren von erschreckender Schärfe .... Doch war er bereits von einem Paradox getrieben. Das Licht, ... das uns ermöglichte, die materielle, sichtbare Welt zu erfassen, war eine Gabe von unermesslicher Macht, doch es verblasste neben dem anderen Licht, dem inneren Licht der göttlichen Wahrheit, dem Ermöglicher der Ein-Sicht..., dass nämlich die Sehkraft eine Gefahr für den Geist war."
Was Rembrandt sieht und malt, wie wir die Augen seiner Figuren und ihre Blicke sehen, ihre halb oder ganz geschlossenen Lider, die Versehrten tiefen Höhlen der Blinden, aber auch die Beständigkeit des Blicks in den Portraits, in der sich Melancholie und Ironie untrennbar vereinen - all das wird zu einem sensuellen Erlebnis, die Malerei bekommt ihre eigene Körperlichkeit und stellt sie mit allem Gewicht ins Licht der Oberflächenreliefs, zu denen Rembrandts Bilder vor allem im letzten Jahrzehnt seines Lebens werden. Wenn Schama erzählt, wie Rembrandt mit dem riesigen, auf fast zwei Meter Höhe und drei (von ehemals sechs) Meter Breite beschnittenen Bild von der "Verschwörung des Claudius Civilis" die Konventionsgrenzen seiner Auftraggeber prüfen wollte, die ein Gemälde für das neue Rathaus von Amsterdam erwarteten, dann ist der Affront dieser Szene, in der sich barbarisches Ritual und Leonardos "Abendmahl" mischen, auch heute noch leicht spürbar. Dass seine "Farben wie Kot an der Leinwand herablaufen", war nur einer der geringeren Vorwürfe. Tatsächlich wird etwas anschaulich, was gleichermaßen fasziniert wie verstört. Aufruhr und Stille konzentrieren sich in dem von gleißend goldenen Lichtpunkten umgebenen schwarzen Fleck der Augenhöhle des Claudius Civilis. Sein anderes Auge ist ein tötet Schlitz. Gerade hier läßt sich erkennen, dass Rembrandt die rohe Suggestion seines dann von den Stadtoberen doch kühl abgelehnten Monumentalgemäldes keineswegs nur durch starke Kontraste aus leuchtenden Klecksern und Klumpen vor tiefem Dunkel erreicht hat. Gerade transparente Flächen und reduzierte, skizzenhafte Passagen verdichten die imaginative Kraft von Rembrandts Malerei zu einem großen Wurf, den Simon Schama vor allem dem Licht zuschreibt, das, wie er schreibt, aus dem inneren Auge kommt:
"Von Anfang an fühlte Rembrandt sich mächtig angezogen von allem Ruinierten; die Poesie des Unvollkommenen. Er zeichnete gern die Spuren nach, die der Zugriff des Weiterlebens hinterlassen hatte: die Pickel und Pocken, die rot unterlaufenen Augen und die grindige Haut, die dem menschlichen Gesicht einen gesprenkelten Reichtum verliehen. Das Scheckige, Skrofulöse, Befleckte und Verkrustete waren Dinge, die man sorgfältig aus der Nähe betrachten mußte; Unregelmäßigkeiten, die er mit seinem Blick abtastete."
Rembrandt lehrt alle Sinne sehen. Und so zeigt Schama auch, wie Rembrandts Menschenerfindungen zum Sediment unseres kulturellen Gedächtnisses geworden sind.